Читать книгу Ich darf nichts sagen. - Johanna E. Cosack - Страница 10

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Viertes Kapitel

Als Nina am nächsten Morgen zu ihrem Arbeitsplatz stürmte, flatterten ihr ein paar der gelben Post-its entgegen. Wie Herbstlaub hingen die Zettel in den Zweigen der Pflanze neben ihrem Schreibtisch oder klebten verstreut auf dem braunen Holzfußboden. Sie sammelte die Zettel auf und dachte einen Moment daran, alle wieder zu entfernen, aber dann hielt sie an und las laut deren Aufschrift: »Nein! … Nein?«

Etwa zu der Tatsache, dass ihr Leben trotz den vielen unausgesprochenen Problemen so weitergehen kann wie bisher? Oder Nein! Es durfte nicht sein, dass Michael allein nach Rom ging? Sie hatte die Zettel gestern einem unbewussten Impuls folgend beschriftet. Aber warum mit Nein und nicht Ja oder einem anderen Wort – wer oder was hatte sie zu dieser Aussage veranlasst? Lag in dem Hinweis eine Erkenntnis verborgen? Eine Antwort auf die Fragen, die sie nie gewagt hatte zu stellen, weil sie deren Folgen fürchtete? Hatte sie nicht schon seit der Kindheit zu häufig Ja gesagt oder eher gezwungenermaßen zugestimmt? Wer war sie überhaupt?

Sie schaltete ihren Mac ein. Eine lange Liste ungeöffneter E-Mails forderte sie auf, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie überflog die zahllosen Nachrichten im Posteingang, aber ihr Kopf sträubte sich, die Informationen und Bilder zuzulassen. Sie schloss die Augen und atmete tief.

Entfernt vernahm sie Ferdis Stimme gefolgt von dem lauten Gelächter der beiden Praktikanten. Telefone summten in unterschiedlichen Tonlagen und die unermüdlichen Kaffeemaschinen brummten drohend unter ihrem Druck. Ein paar Texter unterhielten sich leise über die Bedeutung des Wortes ›Relaxmöbel‹. Obwohl ihr eher nach Weglaufen zumute war, griff sie zu einem Block und fing an Illustrationen für den Wellness-Drink zu scribbeln. Schwerpunkt der Werbung sollten nicht die üblichen Merkmale wie Natur oder biologische Inhaltsstoffe sein, sondern der krasse Gegensatz zu den Energy-Drinks. Das Getränk schmeckte süß und frisch, aber auf Nina wirkte es keinesfalls beruhigend. Was konnte sie mit dem Begriff Wellness verbinden? Zuerst entstand auf dem Papier eine Person, die darin badete, dann ruhte sich diese Gestalt auf einem flüssigen Untergrund aus Yin und Yang aus. Nina nahm ein neues Blatt, aber das Ergebnis blieb gleich. Es entstanden nur flüchtige Zeichnungen ohne Idee oder Aussage. Jeder einzelne Strich verhungerte in der Einöde ihrer Einfallslosigkeit. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Michael zurück. Warum meldete er sich nicht? Ob er an sie dachte? Resignierend legte Nina die Stifte zur Seite.

»Hey, Nina, was möchtest du uns denn damit sagen?« Patrick stand hinter ihr und deutete lächelnd auf ihren Bildschirm. »Das sieht ja aus wie ein riesiges Haifischmaul mit gefährlich gelben Zähnen.«

»Ähm … bitte entschuldige, eigentlich nichts. Ich weiß nicht so richtig, warum die da hängen, aber mit einer Message an euch hat das wirklich nichts zu tun. Ich mache sie gleich wieder ab.«

»Schon okay. Sieht ja auch irgendwie kreativ aus … wie eine Collage. Nur die Aufschrift Nein hat mich gerade irritiert, und ich hab mich gefragt, ob das vielleicht schon etwas mit dem neuen Agenturpitch zu tun hat. Pierre hat dir doch schon davon berichtet. Oder?«

Ninas Blick flog sofort zu ihren Mail-Eingang. »N… nein, ich meine, ja … klar hat er das. Wir besprechen das sicher ausführlich heute beim Team-Meeting.«

»Das ist ja interessant, ich dachte, das hättet ihr gestern schon getan?« Patrick sah sie verständnislos an. »Das wird ein großer Pitch für ein neues Corporate Design des Möbelherstellers in Print, online und Social Media. Da sind wir alle gefordert.«

»Sicher, Patrick. Ich werde gleich noch mal mit Pierre reden.«

»Sehr gut!« Patrick nickte ihr zu und schlenderte weiter.

Nina pustete eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Verflixt, was war ihr alles entgangen? Schnell las sie Pierres Rundmails durch, die gestern am späten Nachmittag eingetroffen waren. Dann stürmte sie zu seinem Arbeitsplatz.

Pierre saß zurückgelehnt am Schreibtisch und telefonierte. Er hatte die Füße auf ein seitliches Regal gelegt, das Gesicht war zum Fenster gewandt. Als er Ninas Anwesenheit bemerkte, beendete er das Telefonat.

»Nina, wie schön dich mal wieder zu sehen.« Sein kühler Blick traf direkt in ihr Gewissen. Sie atmete hörbar aus.

»Pierre, warum hast du mir noch nichts von dem Agenturpitch gesagt? Patrick hat mich gerade informiert.«

Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Weil du, liebe Nina, gestern schon kurz nach dem Mittagessen davongerannt bist. Die Kundeninfo kam gegen vier und dann ging sofort eine Mail an alle raus, dass um fünf Uhr ein Team-Meeting stattfindet.«

»Schade, es tut mir wirklich leid, ich … ich hatte einen privaten Termin.«

»Ich verstehe … das war sicher wichtig für dich.«

Nina stutzte. Hörte sie einen spöttischen Unterton in seiner Stimme?

»Nein, eigentlich war der nicht so wahnsinnig wichtig. Aber ich bin echt gespannt, was ich verpasst habe.«

»Nun, das meiste kannst du in den Mails nachlesen.« Pierre zupfte an seiner Krawatte und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wir haben dich gestern allerdings alle sehr vermisst.«

»Na ja, so wichtig bin ich doch auch nicht.«

»Das stimmt nicht. Ich habe Patrick gestern mal gefragt, du bist schon länger hier als ich und das wird sicher dein fünfzigster Pitch. Im Gegensatz zu dir ist das für ein paar der Kollegen noch keine Routine.«

»Kein Problem, dann schaue ich mir das gleich mal an.« Nina drehte sich weg, um wieder zu ihrem Platz zurückzukehren.

»Moment noch.« Pierre kam um seinen Schreibtisch herum und hielt dicht vor ihr an. Eine Hand griff nach ihrem Arm, während er die andere in seine Hosentasche steckte.

»Nina, dieser Pitch ist sehr, sehr wichtig für uns und besonders für mich, da es mein Neukunde ist. Ich habe mehr als ein halbes Jahr dafür gebraucht, ihn davon zu überzeugen. Wir brauchen daher die ungeteilte und volle Konzentration aller Mitarbeiter, also auch deine, Liebes. Abgabetermin ist Ende April, also schon in sechs Wochen, wir haben daher nur etwas mehr als drei Wochen für die Konzeption, dann ist schon Rebriefing beim Unternehmen. Das bedeutet leider auch Urlaubssperre für alle beteiligten Mitarbeiter.«

Nina riss sich los. »Ich hatte nicht vorgehabt wegzufahren.«

»Das freut mich. Dann können wir also nicht nur auf deine physische, sondern auch auf deine geistige Anwesenheit hier zählen?«

»Natürlich. Klar. Ich mache mich gleich an die Planung.« Nina tappte von einem Fuß auf den anderen.

»Danke, Liebes. Ach, und noch was, die Excel-Tabelle für vorgestern, weiß du die Kostenschätzung für den Kunden Hoffmann … das hat Sandra jetzt übernommen.«

Vorbei an Ferdi, der auf dem Sessel vor Pierres Schreibtisch gewartet und Unterhaltung der beiden verfolgt hatte, rannte Nina zurück in ihren ›Garten‹. Selbst wenn sie wollte und Maxi mitkommen würde, sie könnte in den nächsten Wochen gar nicht zu Michael fliegen. Das würde sie mit Sicherheit den Job kosten.

Tränen bahnten sich einen Weg aus ihrem Herz und sie stürzte in den Waschraum. Niemand sollte sehen, dass sie weinte. Als sie kurze Zeit später wieder zurückkehrte, liefen die Zahnräder der Agentur bereits gleichmäßig und ihre Liste der ungelesenen Nachrichten hatte sich vervielfacht. Nina verbrachte die nächsten Stunden am Telefon, verfasste unzählige Notizen über den Aufgabenbereich des Kollegen und stellte einen ersten Entwurf für den Organisationsablauf zusammen. Nebenbei verfolgte sie Pierre von einem Meeting zum anderen im Laufstil, meistens mit einem Handy in der Hand.

Zwischen den Terminen zupfte er an seinem blonden Zopf oder nestelte an dem bunten Einstecktuch in der Brusttasche seiner Anzugjacke. Seine Miene blieb ausdruckslos und kühl, wenn er ihre Frage kurz beantwortete.

Nina achtete aufmerksam auf seine Wortwahl und auf jede kleine Veränderung in seinem Verhalten ihr gegenüber, denn sie wurde den Eindruck nicht los, dass Pierre distanzierter als sonst war. Lag es daran, dass sie sein Telefonat mitbekommen hatte? Oder an der merkwürdigen CD? Oder doch nur am Stress? Alle anderen Projekte blieben zurückgestellt, bis das Konzept für den Möbelhersteller genehmigt war. Oder bildete sie sich alles nur ein?

Vor den Fenstern dämmerte der Abend und das Licht der riesigen Deckenlampen spiegelte sich in den Scheiben. Ninas Kopf schmerzte. Sie rieb sich die Schläfen, schloss die Augen und sah – Michael, wie er versunken in der Welt seiner Musik am Flügel spielte. Sicher war er schon in Rom angekommen und saß jetzt in einem Hotel oder in einer Gästewohnung der Musikakademie. Möglicherweise war er um diese Uhrzeit in einem Restaurant? Er liebte italienisches Essen.

Sie zuckte zusammen, als jemand sacht ihre Schultern massierte, doch sie ließ die Augen geschlossen und genoss die entspannende Berührung. Aber Michael konnte nicht hier sein? Erschrocken fuhr sie herum und erblickte Ferdi, der die Hände wieder von ihren Schultern gelöst hatte.

»Reicht für heute. Oder?« Er lachte sie an. »Warte, bin gleich wieder da.«

Als Ferdi ein paar Minuten später zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte, hielt er zwei Flaschen des Wellness-Getränks in der Hand und stellte eine davon vor ihren mit Post-its geschmückten Mac.

»Nina, Pause! Morgen ist auch noch ein Tag.«

Sie tranken schweigend die süßliche Flüssigkeit; Nina beendete dabei die Programme ihres Computers. Ferdi hatte sich neben ihr auf einen Sessel gesetzt.

»Nina, wir haben dich gestern Nachmittag vermisst.«

»Ja, sorry dafür. Ich musste dringend weg.« Nina zerknüllte einen der gelben Zettel und warf ihn wütend in den Papierkorb.

Ferdi trank einen weiteren Schluck. Aufmerksam verfolgte er ihr Tun.

»Der Agenturpitch hat offensichtlich die allerhöchste Priorität. So aufgeregt wie im Meeting habe ich Pierre schon lange nicht mehr erlebt. Ich hab den Eindruck, dass diese Sache für ihn überlebenswichtig ist.« Ferdi kratzte seinen rotblonden Kopf. »Vielleicht steht ja auch eine Beförderung auf dem Spiel.«

Nina hielt einen weiteren Zettel in der Hand und musste über seine verschwörerische Miene grinsen. »Ja, wer weiß, was Patrick ihm als Belohnung für den Auftrag in Aussicht gestellt hat. Ich vermute, das wird wieder ein Riesenstress mit Nachtschichten, bis der Pitch über die Bühne ist.«

»Genau so sieht’s aus, Nina-Schatz. Du solltest deinen musikalischen Liebsten zu Hause schon mal vorwarnen.«

Sie knüllte weitere Post-its zusammen und schmiss sie so fest in den Eimer, dass sie wieder raussprangen und auf dem Boden landeten. »Hab ich schon getan.« Mit ihrer ganzen Selbstbeherrschung schaffte sie es, die Zettel wieder aufzusammeln und in den Papierkorb zu legen. Ferdi sah sie stirnrunzelnd an.

»Du, ähm Nina … ein paar Kollegen gehen übermorgen in Sachsenhausen was trinken. Magst du mitkommen? Das wär doch mal eine Idee, oder?«

»Ja, vielleicht. Ich weiß noch nicht. Aber lieb, dass du fragst.« Nina trank den Rest ihres Wellness-Getränks und deutete auf Ferdis leere Flasche. »Soll ich deine mitnehmen?«

Ferdi schüttelte den Kopf. »Nein, nein, lass nur stehen. Ich räum die gleich weg.« Beim Aufstehen griff er nach Ninas Flasche. »Du … Nina,« er stockte. »Nina, ist alles okay mit dir? Ich meine, wir kennen uns schon, seit ich hier in diesem Laden arbeite, und ich merke, dass etwas dich sehr bedrückt.«

Erneut riss Nina sich zusammen, was immer schwerer fiel. »Blödsinn, Ferdi! Ich glaube, du hast zu viel von diesem süßen Zeug hier getrunken. Ist möglicherweise leicht narkotisch und du hast Halluzinationen.«

Mit den beiden leeren Flaschen in den Händen blieb Ferdi vor ihr stehen.

»Nina, kann ja sein, dass ich mir das alles nur einbilde. Aber …« Er machte eine lange Pause, bevor er weiterredete. »Aber ich will es dir mal so beschreiben, es gibt Ballons, Fußbälle und Tischtennisbälle. Die Ballons sind schön anzusehen, bunt und auffallend schweben sie durch das Gas in der Luft, so wie der dahinten.«

Ferdi deutete mit dem Kopf in Richtung von Pierres verwaistem Schreibtisch. »Und wenn du das Gas rauslässt, bleibt nur eine leere Hülle zurück. Dann gibt es noch die Fußbälle, die wegen der vielen Tritte eine Lederhaut haben. Aber wir beiden, Nina, wir sind die Tischtennisbälle, flink, schnell und immer auf Achse. Wir kriegen auch manchmal einen kleinen Klaps, aber wir springen über alle Netze hinweg. Also lass dich nicht zu einem Fußball umfunktionieren. Verstehst du jetzt, was ich meine?«

»Ach, Ferdi. Du hättest Philosoph werden sollen. Momentan noch nicht, aber ich denke mal darüber nach. Der Vergleich mit dem Luftballon gefällt mir allerdings.«

Ferdi lachte. »Und wie ein Fußball siehst du ja nun wirklich nicht aus. Also pass auf dich auf.«

»Es war ein langer Tag, Ferdi. Für uns alle. Ich muss jetzt wirklich los.« Nina rannte aus dem Büro und Ferdi sah ihr hinterher.

Am selben Nachmittag stand Max mit nacktem Oberkörper im Waschraum der Kfz-Werkstatt. Mit einer Bürste hatte er versucht, die Öl- und Fettschmiere von seinen Händen zu schrubben, aber die Fingernägel blieben schwarz. Er war frisch geduscht und sein Arbeitsoverall hing ordentlich in seinem Spind, ein sauberes Hemd lag griffbereit neben dem Waschbecken.

»Na, Max, du schon fertig?« Hakim, ein syrischer Junge, der noch im Flüchtlingsheim wohnte und erst seit ein paar Wochen in der Werkstatt arbeitete, boxte fest auf seinen Oberarm. »Kommst du mit, Bier trinken? Ich hab großen Durst.«

Max trocknete sorgfältig die Hände und schüttelte den Kopf. »Nee du. Heute nicht. Hab keine Zeit.« Er zog sein Hemd an und überprüfte im Spiegel, ob alle Knöpfe auf der richtigen Höhe saßen, denn meistens knöpfte er die Hemden schief zu. Hakim betrachtete ihn von der Seite. »Warum du keine Zeit? Hast du Frau? Wann wir gehen boxen? Ich will so stark wie du sein.«

Max gab dem schmächtigen Jungen einen leichten Schubs. »Hakim, ich habe versprochen mit dir zu trainieren, und das machen wir auch, aber heute muss ich wirklich etwas anderes erledigen.«

Der junge Syrer ließ enttäuscht den Kopf hängen. »Dann du musst weg zu Freundin. Du willst nicht mit mir boxen und Bier trinken.«

»Aber ihr dürft wegen eurer Religion doch gar kein Alkohol trinken.« Max sah erstaunt auf ihn herab.

»Doch, ich bin Christ, daher ich geflohen.« Hakim stand vor seinem Spind und hielt ein zerknittertes Foto in der Hand. »Aber ich allein fort. Mama und Papa tot in Syrien.«

»Ich verstehe … Hakim, das tut mir leid … es ist sicher schlimm für dich. Ich verspreche dir, morgen zeige ich dir das Boxstudio und hinterher gehen wir zusammen ein Bier trinken. Aber das mit dem Trinken werden wir nicht übertreiben, mein Freund.« Max nickte dem Jungen aufmunternd zu und trabte zu seinem Wagen.

Er hatte das alte Mercedes-Coupé einem Kunden für kleines Geld abgekauft und über ein Jahr lang in seiner Freizeit jedes Einzelteil überprüft und repariert. Zufrieden lauschte er dem gleichmäßigen Brummen des Motors, Max liebte dieses alte Auto.

Auf dem Nachhauseweg verfolgte ihn Hakims Schicksal. Wie einsam der junge Mann war! Vollkommen allein in einem fremden Land zu sein, die Heimat im endlosen Krieg zerstört und die Familie tot oder in andern Flüchtlingsheimen verteilt.

Er selbst hatte seinen eigenen Vater nie kennengelernt. Nur Nina und später zusammen mit Michael bedeuteten bisher so etwas wie eine Familie für ihn. Die ganzen Jahre war er überzeugt, dass dies sich niemals ändern würde. Aber nun fehlte Michi.

Zu Hause schloss er leise die Wohnungstür auf und schaute vorsichtig ins Wohnzimmer. »Nima?« Als niemand antwortete, ging er in sein Zimmer und schaltete den Fernseher ein. Ohne die Sportsendung, die gerade lief, bewusst zu verfolgen, starrte er eine ganze Weile auf den Bildschirm. Hakims Einsamkeit und die Ereignisse der letzten Tage hatten einen vollkommen anderen Film in seinem Kopf gestartet und der ließ ihn nicht los, denn seine Schwester spielte die Hauptrolle darin.

Solange er zurückdenken konnte, war sie die einzige Bezugsperson in seinem Leben. Nina hatte ihn aus dem Kindergarten abgeholt und ihm ein Pflaster auf seine Stirn geklebt, wenn er sich mit den anderen Kindern geprügelt hatte.

»Das dürfen wir aber nicht der Mama verraten«, hatte sie ihm dann eingeschärft. Mama sollte nicht mit ihren kleinen Problemen belastet werden. Oftmals war ihre Mutter nach der Arbeit so müde, dass sie nicht einmal mit den beiden essen, sondern gleich schlafen wollte und nachts hörte er sie weinen. Nina erklärte ihm, dass ihre Mama so traurig war, weil Papa weggegangen ist, aber sie hatte dabei selbst Tränen in den Augen. Was war sein Vater nur für ein schrecklicher Mensch, dass er die Familie einfach verlassen hatte! Er kannte sein Aussehen nur von ein paar Fotos, aber war überzeugt, dass er ihn heftig verprügeln würde, falls er seinem Vater jemals begegnete.

Obwohl er seine Schwester dafür oft beschimpft hatte, war Nina es, die ihn später in der Schule zum Lernen ermutigte und mit ihm die Hausaufgaben erledigte. In dieser Zeit erkrankte ihre Mutter. Er wusste zunächst nicht, warum Nina ihn jeden Tag in das Krankenhaus schleppte, nur dass Mama Schmerzen hatte und sie sich über ihren Besuch freute. Er wäre statt dessen lieber zum Boxen gegangen, aber Nina versprach ihm die ersehnten Boxhandschuhe zu kaufen, wenn er mitkäme. Als er elf war, starb sie. Glücklicherweise konnten sie in der kleinen Wohnung in Eschersheim bleiben, denn ein Bruder ihrer Mutter bezahlte weiterhin die Miete und sorgte für ihren Unterhalt. Hin und wieder kam Onkel Jürgen zu Besuch, entschuldigte sich aber meistens schnell, dass er in der Bank zu tun hatte und ließ Geld für sie da.

Dank Nina schaffte er nach zwei Fehlversuchen einen Realschulabschluss; sie hatte ihn überredet, abends zusammen zu lernen. Nina gab ihm Tipps, wenn er sich mit einem Mädchen verabredete. Sie war seine Vertraute und er ihr Beschützer. Als Nina Michael traf, teilte er ihre überglückliche Freude. Max mochte ihn sofort, obwohl Michael nur seine Musik im Kopf hatte, so verband sie doch – jeden auf seine eigene Art – ihre gemeinsame Zuneigung zu Nina. Die kleine Frau erschien so zerbrechlich und war doch so stark. Max war überzeugt, dass Michi sie niemals verlassen würde. Seine eigenen Phasen der Verliebtheit dauerten selten länger als ein paar stürmische Nächte – alles zarte Wesen mit langen Haaren, die Nina ähnlich sahen. Aber keine hatte bisher sein Herz erobert.

Nina, Michi und er waren eine Familie. Sie bildeten ein von inniger Zuneigung und dem Schicksal zusammengeworfenes Team – bis heute. Allein zu wohnen war kaum vorstellbar. Aber er würde es schaffen, irgendwie. Jetzt musste er dafür sorgen, dass seine Schwester sich von der Verantwortung für ihn löste, um ihr eigenes Glück wiederzufinden. Er griff zum Telefon und wählte Michaels Nummer.

Als Nina später am Abend nach Hause kam, sagte ihr müdes Gesicht ihm sofort, dass sie an diesem Tag mal wieder zu viel gearbeitet und zu wenig gegessen hatte.

Es erinnerte ihn an früher, an eine Zeit, in der er mit seiner Schwester oft allein war. Sie bestellten Pizza und aßen zusammen in der Küche. Keiner von beiden wollte in der gemütlichen Essecke des Wohnzimmers bleiben, da die Erinnerung an die letzten Abende dort wie ein unsichtbarer Geist anwesend zu sein schien. Und niemand sprach ein Wort über Michael. Er fehlte beiden.

Nach dem Essen spielten sie eine Partie Backgammon. Max gab sich größte Mühe, seine Schwester mit immer neuen Geschichten aufzuheitern, füllte ihr Weinglas auf und ließ sie im Backgammon gewinnen. Aber wenn sie hin und wieder hinausrannte, erkannte er an ihrem Gesicht, dass sie heimlich im Badezimmer geweint hatte. Nina war eine schlechte Schauspielerin und nachdem er ein paar Gläser getrunken hatte, fasste er sich ein Herz.

»Nima, ich mache mir Sorgen um dich!«

Nina versuchte zu lachen. »Maxi, was redest du denn da? Warum musst du dir Sorgen über mich machen?«

»Jetzt tu nicht so. Ich kenne dich seit meiner Geburt. Du warst noch nie so traurig, auch wenn du mit allen Mitteln versuchst, es zu verbergen.«

Ihr Blick flog nervös umher und blieb dann auf Max gerichtet. »Max, das ist wirklich Unsinn. Natürlich fehlt Michi, aber ich hoffe einfach, dass alles wieder gut wird.«

»Dann solltest du Michi nicht allein nach Rom gehen lassen.«

»Blödsinn, Max! Ich sollte nicht nur, sondern ich muss ihn allein gehen lassen.«

»Aber du liebst ihn doch noch?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Aber? Ich meine, warum begleitest du ihn dann nicht?«

»Das kann ich momentan noch nicht. Es ist so, dass ich mir über vieles erst klar werden muss.«

»Hat das auch etwas mit mir zu tun?«

»Ach, Maxi, nein. Natürlich nicht. Ich brauche einfach nur Zeit und … und Michi vermutlich auch. Es hat wirklich nichts mit dir zu tun, kleiner Bruder.«

Max bemerkte sofort die Unsicherheit in ihrer Stimme. »Ich denke, dass du mir nicht die ganze Wahrheit sagst.« Er erhob sich langsam und holte ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank. »Ihr hattet Streit, weil ich sein Klavier kaputtgemacht habe. Oder?«

Nina schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Wirklich nicht! Du hast keine Schuld und es geht sicher nicht um den Flügel. Momentan kann ich auch wegen dem Job nicht weg. Ich hab dir doch vorhin kurz von dem Agenturpitch erzählt.«

Die Art, wie sie vehement nach Ausreden suchte, hinterließen Zweifel an ihren Worten. »Wieso stellst du deinen Job eigentlich immer über deine persönlichen Wünsche? Du willst immer allen helfen und vergisst dabei ganz dich selbst. Können die den dummen Pitch nicht mal allein über die Bühne kriegen?«

»Das könnten die sicher, aber …« Mitten im Satz versagte Ninas Stimme. »Ähm … jetzt mach dir einfach keine Sorgen mehr, in ein paar Wochen sind wir alle wieder zusammen.«

»Aber Michi ist weg und es wird sicher nicht wieder so wie früher. Er war an dem Abend sehr wütend auf mich und als ich ihn anrufen wollte …«

Max biss sich auf die Lippe.

»Maxi! Du hast Michael angerufen?«

»J… ja … Aber ich wollte mich doch wirklich nur bei ihm entschuldigen, aber Michi ging nicht ans Telefon.« Er bereute sofort seine Unachtsamkeit. Nina sollte keinesfalls davon erfahren.

Sie ließ den Kopf hängen. »Ach, Max, vielleicht war es richtig von dir, dass du dich entschuldigen wolltest, aber ich glaube, wir sollten Michi in Ruhe lassen, bis er sich von selbst meldet. Er hat sicher viel zu tun, eine Wohnung zu finden.«

»Aber wir könnten ihm doch dabei helfen!«

»Vielleicht … will er auch ganz einfach etwas mehr Zeit für sich, damit er weiter an seiner Komposition arbeiten kann.«

»Das hat er doch die ganze letzte Zeit auch hier bei uns gemacht. Und in diesen ganzen Jahren warst du viel glücklicher. Warum also jetzt so plötzlich nach Rom?«

»Weil er die Stelle in Rom schon in wenigen Wochen antreten wird.«

»Und was dann?«

»Das weiß ich selbst noch nicht.«

Nina sah ihn müde an und zwischen ihren dunklen Ponyfransen war eine tiefe Sorgenfalte zu sehen. Minutenlang verband sie nur die stille Gewissheit, dass sie immer füreinander da waren. Gleichzeitig erkannten beide, dass sich durch Michis Fortgang alles verändert hatte. Max packte schweigend die leeren Pizzakartons in den Papiermüll und räumte die Teller in die Spülmaschine, dann setzte er sich wieder zu Nina.

»Nima, ich weiß, eure Ehe geht mich nichts an. Aber ich bin kein Kind mehr und sehe, dass du vollkommen fertig bist und ihr beiden ein wesentlich größeres Problem als nur einen kaputten Flügel habt. Willst du nicht wenigstens über ein Wochenende nach Rom fliegen und mit Michael reden?«

»Vielleicht, ich weiß es noch nicht. Michi ruft sicher in den nächsten Tagen an und dann sehen wir weiter. Aber jetzt sollten wir Schluss machen für heute. Ich bin todmüde.«

Nina erhob sich ein wenig schwankend und ging zur Tür. Dann drehte sie sich noch mal um. »Maxi, danke für alles.«

Max blickte ihr hinterher, als sie in ihrem Schlafzimmer verschwand. Leise sagte er: »Danke, Nima – für die vielen Dinge, die du schon in deinem Leben für mich getan hast. Aber jetzt musst du dich auch mal um dich selbst kümmern. Und dafür werde ich sorgen.«

Ich darf nichts sagen.

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