Читать книгу Ich darf nichts sagen. - Johanna E. Cosack - Страница 9

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Drittes Kapitel

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte sie die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Nina hatte einen Tisch bei ihrem Lieblingsitaliener reserviert und konnte es kaum erwarten, Michi von ihrer Idee zu überzeugen: für die ersten Wochen doch zusammen mit Max nach Rom zu kommen. Max könnte beim Umzug helfen und sie in der neuen Umgebung entlasten. Dieser Kompromiss schien das Beste und Einfachste für alle zu sein. Es gab keine andere Lösung, denn sie durfte Max keinesfalls zurücklassen. Nein, sie würde ihn niemals allein lassen – so wie Papa.

Als sie schwungvoll die Tür öffnete, schlug ihr eine ungewohnte Stille entgegen. Der gestrige Abend stand augenblicklich wieder vor ihr und machte ihren vorsichtigen Optimismus sofort zunichte.

»Michi?« Nina rannte durch die dunkle Wohnung und klopfte sogar leise an Maxis Tür, aber es war niemand da. Hektisch suchte sie nach ihrer Handtasche, die sie in der Eile achtlos auf dem Boden im Flur geworfen hatte. Doch das Display ihres Handys war leer. Wieso hatte Michael ihr keine Nachricht hinterlassen, dass er noch mal weggegangen ist? Hatte er einen Unfall und lag jetzt schwer verletzt im Krankenhaus? Oder hatte er einen Freund getroffen und war mit ihm in eine Bar gegangen?

Nein, absolut unmöglich. Michi hatte nur einen Freund: seine Musik. Einmal besuchten sie gemeinsam mit Dozentenkollegen ein Konzert eines berühmten Pianisten und waren hinterher in einem Restaurant. Möglicherweise hatte er sich nur mit einem Kollegen festgeredet und die Uhrzeit vergessen.

Sinnlos.

Alle möglichen Szenarien tauchten in ihrer Vorstellung auf und die Ungewissheit raubte ihr fast den Atem. Sie presste die Hände an die Schläfen, denn ihr Herz schlug so laut, dass sie das Echo von den Wänden des schmalen Flurs zu hören glaubte. Mit zittrigen Fingern wählte sie Michis Telefonnummer. Er antwortete nicht. Sie lief zurück ins Wohnzimmer und ließ sich auf einen Sessel fallen. Er hatte sicher Noten oder Unterlagen in der Musikschule vergessen und würde gleich nach Hause kommen, redete sie sich ein. Aber eine schleichende Ahnung ließ sich nicht verdrängen, dass etwas geschehen war, das nicht in ihre gewohnte Welt passte.

Sie war hilflos.

Nina schloss die Augen und atmete. Als sie sie nach ein paar Minuten wieder öffnete, wanderte ihr Blick umher. Seltsam, erst jetzt erkannte sie, dass der Flügel weg und alles sauber und aufgeräumt war! An der Stelle, an der heute früh der zerbrochene Deckel und Bruchstücke des Musikinstruments gelegen hatten, stand nur der Klavierhocker. Auf ihm lagen ein paar dicht beschriebene Notenblätter. Es waren aber keine Noten eines Musikstücks, sondern Michis Handschrift. Langsam wankte sie zu dem Hocker, doch mit jedem Schritt wuchs ihre Angst.

Liebste Nina,

Ich muss gehen, weil ich Dich liebe. Du wirst dies nicht verstehen, noch nicht. Daher müssen wir beide uns Zeit lassen und ich glaube, dass in der jetzigen Situation nur die Zeit, und eine räumliche Distanz hilft, einander wiederzufinden.

Ich habe alle Termine und Kurse abgesagt und wenn Du diese Zeilen liest, bin ich schon auf dem Weg nach Rom. Es ist eine wundervolle Stadt und bin überzeugt, dass es uns dort gefallen würde. Sobald ich ein kleines Hotel in der Nähe der Musikhochschule gefunden habe, lasse ich Dir die Adresse zukommen. Außerdem werde ich in den Semesterferien nochmals zurückkommen, um ein paar persönliche Dinge aus dem Frankfurter Konservatorium abzuholen.

Erinnerst Du Dich, als wir uns das erste Mal dort trafen? Du bist mit Deinem kleinen Bruder im Schlepptau in das Konservatorium gekommen und hast mich gebeten, ihm Klavierunterricht zu geben. Max hatte überhaupt kein Interesse an der Musik, aber ich war sofort von Dir fasziniert. In Dir schlummerte so viel Energie und zugleich so viel verborgener Schmerz. Deine Mutter war damals bereits sehr krank, Du hast Dich um sie gekümmert, Deinen kleinen Bruder versorgt und noch nebenbei Deine Marketingausbildung gemacht. Und – erinnerst Du Dich an unseren ersten Kuss am Mainufer, als wir Max mit ein paar Münzen zum Eisladen geschickt haben? Seit den ersten Treffen und unserer Hochzeit hatte ich Dich nie längere Zeit für mich ganz allein. Trotz alledem war ich bereits seit der ersten Begegnung so sehr in Dich verliebt, dass ich auch auf Max Rücksicht nahm, nur um Dich nicht wieder zu verlieren. Selbst wenn Du mitten in der Nacht fortgerannt bist, um Max von der Polizeistation abzuholen, wenn er wegen irgendeiner Schlägerei wieder einmal Deine Hilfe brauchte, habe ich auf Dich gewartet.

Doch das gestrige Ereignis hat mir deutlich gemacht, dass es nicht länger so weitergehen kann. Seit wir zusammen sind, habe ich versucht, mit Deiner übertriebenen Fürsorge für Max zu leben, auch wenn ich sie bis heute noch nicht verstehen kann, aber ich liebe Dich zu sehr. Die Erfahrungen der letzten Jahre und mein immer stärkerer Wunsch nach einer bislang kaum vorhandenen Zweisamkeit zwingen mich dazu, dich vor die Wahl zwischen Deinem Bruder oder unserer Liebe zu stellen. Maxis Anwesenheit verursacht Aggressionen in mir und zerstört die Harmonie, die ich brauche für meine Kompositionen. Liebste Nina, und ich brauche vor allem dich und Deine wirkliche Persönlichkeit, die Du so erfolgreich vor allen versteckst. Du warst es, der mich dazu befähigte, in immer weitere Höhen der Musik zu schweben, denn Dein geheimnisvoller Schmerz und Deine Liebe, verliehen mir die Flügel dafür. Max hat diese Schwingen mehr und mehr zerstört. Als er gestern Abend auch noch in den Musikflügel gefallen ist, stand es für mich fest, dass nunmehr eine Entscheidung getroffen werden muss.

Am römischen Konservatorium werde ich an meiner Symphonie weiterschreiben. Sie wird Dir gewidmet sein, denn nur durch Dich und die Musik lebe, liebe und atme ich.

Auch wenn es für mich unerträglich sein wird, dich nicht in meiner Nähe zu wissen, so hoffe ich, dass Du mich irgendwann verstehst. Bitte rufe mich nicht an, denn ich habe Angst zurückzukehren in eine Situation, die ich nicht länger ertragen kann.

Ich liebe Dich.

Michael

Ihre Hände umklammerten das Notenblatt, sie stürzte in eine bodenlose Tiefe. Nina fiel in sich zusammen wie die Hoffnung, alles würde sich an diesem Abend wieder zum Guten wenden. Bilder von Michi tauchten auf und verschwanden.

Nein, dies musste ein Albtraum sein, aus dem sie gleich aufwachen würde, und Michi saß wie gewohnt am Flügel. Nina schloss die Augen und versuchte zu atmen.

Als sie sie nach ein paar Sekunden wieder öffnete, drehten die Wände sich um sie herum wie ein Karussell. Sie taumelte zu einem Sessel, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Eine Flut von Tränen wollte den unerträglichen Schmerz aus ihrem Herz hinwegspülen und eine ohnmächtige Verzweiflung kroch kalt durch ihren Körper. Ihre Welt war zerbrochen.

Stundenlang saß sie zitternd da, bis sie keine Tränen mehr hatte, und es wagte die Hände von ihrem Gesicht herunter zu nehmen. Es war stockdunkel.

Aus dem Nachbarzimmer ertönten laute TV-Geräusche und Max hantierte in der Küche. Kleiner Max, schoss ihr in den Sinn, er würde sich Vorwürfe machen, wenn er von Michis Weggang erfährt. Nina sprang auf, um im Badezimmer ihr Gesicht wieder in Ordnung zu bringen, als er leise an der Tür klopfte.

»Hallo, jemand zu Hause bei euch?« Ihr Bruder streckte den Kopf durch den Türspalt. »Nina? … Michi? Hier ist ja alles dunkel. Kann ich reinkommen?«

»Ja … aber klar, Maxi«, antwortete sie und wischte schnell über die Augen.

Max’ schwarze Silhouette wirkte riesig vor dem hell erleuchteten Flur. Er schaltete das Licht an, blieb aber neben der Tür stehen, in der Hand einen Strauß Blumen. »Nima für dich!« Freudestrahlend hielt er ihr den Strauß entgegen, ließ ihn aber sofort sinken, als er Ninas verweintes Gesicht sah.

»Um Himmels willen was ist denn mit dir? Ist irgendwas passiert?« Max kam näher und legte die Blumen auf ein Tischchen. Sein entsetzter Blick ließ sie nicht los. »Wo ist Michi? Nina, was ist los?«

»Ach, nichts, Maxi … du … du kannst nichts dafür.« Wieder schluchzte Nina.

»Aber Du weinst ja! Hat dich jemand geärgert? Glaub mir, den mache fertig, und zwar krankenhausreif.« Sofort ballte Max die Fäuste, aber dann lockerte er sie wieder und umfasste vorsichtig ihre Schultern. »Oder … Nina, hast du wegen dem Klavier geweint?«

»Nein, Max, du darfst niemand prügeln. Es ist …« Ihre Stimme versagte.

»Doch wegen dem Klavier, hab ich recht?«

Nina umarmte ihn. Max war wesentlich größer als seine Schwester, stämmig und durch sein jahrelanges Boxtraining hatte er breite muskulöse Schultern und Arme. Die schwarzen, sehr kurz geschorenen Haare und tief liegende, dunkle Augen verliehen ihm ein gewalttätiges Aussehen, aber in seiner einfältigen Persönlichkeit steckte ein weicher, gutmütiger Charakter. Nein, Max trägt keine Schuld, dass Michael weggegangen ist. Es war sinnlos nach einem Grund für sein Weggehen zu suchen. Die Verantwortung dafür trug sie ganz allein. Nina löste sich aus seinem Arm und gab ihm einen kleinen Schubs.

»Nein, kleiner Bruder. Der Flügel wird bestimmt schnell wieder repariert sein. Komm, wir setzen uns jetzt erst mal. Möchtest du ein Bier?«

»Ja, klar doch, ich mach das schon.« Max schob Nina energisch zum Sessel. In der Küche stellte er die Blumen in eine Vase und kam mit einem Glas Rotwein und einer Bierflasche zurück.

»Maxi.« Nina sprach leise, denn jedes Wort fiel ihr schwer. »Du musst mir glauben, es hat wirklich nichts mit dir zu tun, Michael ist heute vorübergehend ausgezogen. Er braucht für seine Kompositionen etwas Ruhe und in ein paar Wochen beginnt er eine neue Stelle an einem Konservatorium in Rom. Er hat mich gebeten, ihn zu begleiten, aber ich kann hier nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Der Job und so, weißt du? Daher ist er zunächst allein vorgefahren.«

»Mit seinem alten Auto die ganze Strecke nach Italien? Vorgefahren?« Maxi sah sie ungläubig an. »Aber Nima! Wieso? Er kann uns doch nicht einfach zurücklassen. Und was ist mit dir? Habt ihr euch etwa gestritten? Wegen dem Flügel?«

Nina schüttelte energisch den Kopf und sah ihn so fest wie möglich an. »Nein, Maxi! Wir haben uns nicht gestritten und wegen des Flügels schon gar nicht. Michi braucht einfach nur Zeit für sich … wegen seiner Musik. Verstehst du?«

»Nein, das verstehe ich absolut nicht, denn ich sehe doch, wie traurig du bist.«

»Ich bin nur ein wenig traurig, weil das alles so plötzlich gekommen ist.«

»Das ist doch nicht richtig. Ihr liebt euch doch und da macht man sich nicht so einfach auf und davon.« Wie um seiner Aussage mehr Nachdruck zu verleihen, haute er mit der Faust auf sein Schenkel.

»Michael ist nicht einfach auf und davon …«

»Doch! Er ist einfach weggerannt wie Papa damals. Ich sage dir, wenn ich dem jemals begegne, breche ich ihm die Nase, bevor er auch nur Guten Tag gesagt hat.«

»Max! Das ist kompletter Unsinn. Michi und ich … wir lieben uns und werden bestimmt einen Weg finden, damit wir wieder alle zusammen sein können.« Und mehr zu sich selbst: »Papa hingegen ist bestimmt schon lange tot und irgendwo in Südamerika begraben.«

Max beruhigte sich etwas, aber es war ihm anzusehen, dass er ihre Worte bezweifelte. Er sah sie eine Weile nachdenklich an, dann verschwand er wortlos in die Küche. Fünf Minuten später kam er mit einem Teller belegter Brote zurück.

»Jetzt iss erst mal etwas. Ich vermute, du hast heute mal wieder keine Zeit zum Essen gehabt.« Max’ dunkle Augen strahlten vor Freude, als sie sich auf die Brote stürzte. Er füllte Wein nach und nachdem sie alles bis auf den letzten Krümel gegessen hatte, brachte er den leeren Teller wieder in die Küche.

Nach ein paar Minuten kam er zurück. Seine kräftige Gestalt stand verloren mitten im Zimmer. »Nima, du solltest …« Er brach ab.

Nina lief zu ihm. »Nichts sollte ich jetzt tun, außer dir Danke zu sagen. Das hat gut getan. Max, wenn ich dich nicht hätte …«

»Wenn du mich nicht hättest, ging es dir besser und du könntest mit Michi nach Rom gehen.« Seine dunklen Augen glänzten feucht.

Nina atmete ein, um sofort zu widersprechen, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie riss sich zusammen. »Max, du redest wirklich Unsinn! Michis Auszug hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Ich kann hier nicht so einfach alles stehen und liegen lassen. Jetzt geh schlafen und mach dir keine Sorgen. Ich komme schon klar.«

Max tappte langsam zur Tür, aber sein Blick blieb auf Nina gerichtet, bedrückt und doch verständnisvoll zugleich. »Ich geh dann mal rüber. Ruf mich ruhig, wenn du Angst hast oder etwas sein sollte.« Nina knuffte ihn im Hinauslaufen heftig auf den Arm. »Keine Bange, ich weiß, dass ich einen starken Beschützer habe.«

Nachdem Max das Wohnzimmer verlassen hatte, nahm sie erneut das Notenblatt und las Michis Brief immer wieder, bis die Schriftzüge vor ihren Augen verschwammen. Die Stille des sonst von Klaviertönen erfüllten Raumes war fremd und das Gespräch mit Max ging ihr nicht aus dem Kopf. Könnte sie ihn tatsächlich zurücklassen und Michael nach Rom folgen? Nein, niemals. Es musste doch eine andere Lösung geben. Die Idee schien wie ein egoistischer Verrat an dem kleinen Bruder zu sein. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und trotz ihrer Müdigkeit war sie hellwach. Wie sollte sie Ruhe finden ohne Michis Geborgenheit? Schon allein die Vorstellung, ohne ihn einzuschlafen war unerträglich. Stundenlang saß sie regungslos im Sessel, Michis Brief in der Hand, ein weiteres Glas Rotwein in der anderen. Sie war so leer wie das Zimmer und die Flasche Wein vor ihr auf dem Tisch.

Am nächsten Morgen weckte sie ein leises Klopfen an der Schlafzimmertür. Michi? Ninas Kopf dröhnte entsetzlich. Sie hatte keine Ahnung, wann oder wie sie überhaupt ins Bett gegangen war. Verwirrt öffnete sie die Tür, doch der Anblick ihres Bruders löschte die Vorstellung, dass Michi zurückgekehrt war, sofort wieder aus.

Max hielt ihr ein Tablett mit Kaffee und frischen Brötchen entgegen.

»Guten Morgen, Nima. Ich wollte dir nur ein Frühstück bringen.« Seine müden Augen wirkten tiefer als sonst, trotzdem versuchte er zu lächeln. »Ist alles okay? Oh je, ich glaube, ich sollte dir gleich noch ein Glas Wasser und Aspirin dazu stellen.«

»Danke Maxi, das ist so lieb von dir. Aspirin könnte ich wirklich gut gebrauchen.« Sie nahm das Tablett entgegen und nippte kurz an dem Kaffee. »Mmm, schon viel besser.«

Max blieb unschlüssig in der Tür stehen. »Du … ähm, kann ich irgendetwas für dich tun?«

Nina strich ihre wirren Haare aus dem Gesicht und blickte ihn fest an. »Maxi, du tust doch schon so viel! Mach nicht so ein Theater um die Sache. Du weißt doch, dass wir bisher immer füreinander da waren, also werden wir auch die nächste Zeit überstehen. Michi wird sich bestimmt sehr bald telefonisch melden und dann sehen wir weiter. Es ist alles okay, du musst dir wirklich keine Sorgen machen.«

Max zögerte. »Ja, vielleicht, ich weiß nicht.«

»Ganz sicher, Kleiner! Und du musst jetzt los zu deiner Arbeit, sonst kommst du zu spät.« Nina schob ihn zur Tür hinaus mit der gesamten Kraft, die sie in diesem Moment aufbrachte. Irgendwie musste sie es schaffen, diesen Albtraum zu überleben, doch die leeren Regalfächer im Kleiderschrank versetzten ihr erneut einen Stich ins Herz. Das Gefühl allein zu sein, wenn auch nur für eine kurze Zeit, ohne Michaels Nähe war unerträglich. Seine Abwesenheit lag wie eine feste Schlinge um ihren Hals, die sie langsam zu erstickten drohte. Nicht nur Michis Weggang, vielmehr die Erkenntnis ihres eigenen Versagens, zog diese Schlinge immer fester. Nina riss das Fenster auf, aber der Dämon einer tief verankerten Einsamkeit erwachte und verhinderte, dass sie ihren Gefühlen Folge leistete.

Von dem ausgiebigen Frühstück und zwei Kopfschmerztabletten gestärkt, rannte Nina eine Stunde später zu ihrem Wagen. Der Porsche heulte auf unter ihrer rücksichtslosen Fahrweise, und ein Radfahrer, den sie beinahe gestreift hätte, brüllte Beschimpfungen hinter ihr her. Sie krallte ihre Hände in das weiche Leder des Lenkrads und wischte immer wieder ihre Tränen ab.

Auf ihrem Parkplatz bestätigte ein kurzer Blick in den Fahrerspiegel, dass sich ihr Aussehen von heute früh im Badezimmer kein bisschen gebessert hatte. Im Gegensatz zu ihren sonstigen Gewohnheiten schlich sie mit gesenktem Kopf vorsichtig zu ihrem Schreibtisch im ›Garten‹. Nur keine besorgten Fragen der Kollegen riskieren, denn ihr Kummer und die dunklen Augenringe ließen sich kaum wegschminken. Am liebsten wäre sie unsichtbar an diesem Morgen. Still arbeitete sie an einer Produktbroschüre und hoffte, dass ihr Verhalten niemand auffallen würde.

Obwohl ihr Telefon Dutzende Male klingelte, hielt die Tarnung bis zum frühen Nachmittag. Dann aber wusste sie sofort, was auf sie zukam. Ein leises Bing des Mail-Eingangs ihres Macs hatte eine Katastrophe angekündigt, die jetzt in der Gestalt von Pierre auf ihren Schreibtisch zusteuerte.

Pierre de Valois hieß eigentlich Peter de Valois, aber er legte großen Wert auf die französische Aussprache seines Namens und auf die Tatsache, dass er angeblich einem uralten Herrschergeschlecht aus der Auvergne angehörte. Er hatte eine der bedeutendsten Hochschulen in Paris besucht, die École nationale supérieure des Arts Décoratifs, und arbeitete seit vielen Jahren als Koordinator in der Kreativabteilung. Als Einziger in der Agentur trug er ausschließlich Anzüge, die ausnahmslos aus vergangenen Modeepochen stammten und – mit ungewöhnlichen Krawatten kombiniert – ihm den Ruf eingebracht hatten, ein Sonderling zu sein. Sein blasses Gesicht war stets glatt rasiert und die dunkelblonden Haare streng zu einem kurzen Zopf gebunden. Wie immer, wenn er eine positive Reaktion auf seinen Auftritt erwartete, hatte Pierre diesen siegessicheren Gesichtsausdruck und sein betont verbindliches Lächeln.

»Nina, wie geht es dir?«

Sie pustete eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Wieso fragst du? Eigentlich ganz gut.«

»Nun … ich hatte schon letztens den Eindruck, dass dich etwas bedrückt. Und ich hoffe, dass es nichts mit unserer Arbeit zu tun hat?«

Sie sah zu ihm auf. »Nein! Ganz sicher nicht und ich habe auch kein Problem, weder mit unserer Arbeit noch sonst.« Nina erschrak über ihren harten Ton und fügte versöhnlicher hinzu: »Pierre, ich mache gerade etwas Feinschliff an der Produktbroschüre für Hoffmann, die Nahrungsmittelergänzungen und so. Hab heute erst die Bilder aus dem Design bekommen.«

»Oh je, die sind wirklich nicht die Schnellsten, gut, dass du das gleich in Angriff genommen hast. Der Entwurf war ja ganz okay. Aber jetzt verstehe ich, warum du dich heute so versteckt hältst.« Nina hielt seinem forschenden Blick stand, schwieg aber und unter dem Schreibtisch trommelten ihre Füße einen wilden Takt.

»Alles klar, ich verstehe.« Pierre hatte sich abgewandt, um wieder zu seinem Büro zurückzukehren, blieb aber abrupt stehen und sah sie erneut eindringlich an. »Ähm, Nina, ich wollte dir nur sagen, wenn du mir eine Frage stellen möchtest, kannst du das jederzeit tun.«

»Danke, Pierre. Das ist lieb von dir und wenn ich etwas wissen möchte, weiß ich, an wen ich mich dann wenden kann.« Nina drehte ihr Gesicht ab, aber er ließ nicht locker.

»Nina, du hast also auch keine persönlichen Fragen? Du weißt schon, dass die Kollegen gern über jemand reden.«

»Nein, Pierre. Ganz sicher nicht.« Nina kämpfte, um ihre Stimme gelassen klingen zu lassen. Pierre warf ihr einen letzten argwöhnischen Blick zu, dann verschwand er endlich.

Was sollte das denn jetzt sein? Ging es irgendjemand etwas an, wenn sie private Probleme hatte? Pierre wollte definitiv wissen, ob sie sein Telefonat belauscht hatte. Stand es etwa auf ihrer Stirn, dass Michi ausgezogen ist? Ihre Finger hauten auf die Enter-Taste, um die Änderungen zu speichern und das Programm zu beenden. In diesem Moment kam sie sich vor wie ihr kleiner italienischer Espressokocher: randvoll mit Koffein und unter einem enormen Druck.

Nina nahm einen Block gelber Klebezettel, schrieb mit schwarzem Edding jeweils nur ein Wort auf einen Zettel und klebte ihn an ihren Mac. NEIN – immer wieder in dicken Lettern nur dieses eine Wort. Ihre Finger schmerzten und der Filz knickte ab, sie nahm einen neuen Stift. Wie ein unbekanntes Mantra kritzelte sie NEIN auf jeden einzelnen Zettel, bis das Klingeln ihres Handys sie unterbrach.

»Michi! Endlich rufst du an.«

»Nein, leider nicht dein Herzblatt, liebe Nina.«

»Hey, Charly.« Sie stellte den Edding wieder zurück.

»Nina, störe ich dich gerade?« Die sonst schon hohe Stimme der Freundin überschlug sich am Telefon. »Nina, wir müssen uns unbedingt treffen!«

Der Bildschirm ihres Mac gähnte Nina an wie ein großer schwarzer Schlund mit gelben Zähnen. »So, müssen wir das? Was gibt es denn so Dringendes?«

»Mensch, Nina, was ist denn mit dir? Seit wann fragst du, ob ich etwas Dringendes habe?«

»Schon gut, sorry. Ich möchte dich auch gern mal wieder sehen. Bitte entschuldige. Ich bin gerade nicht so gut gelaunt und war möglicherweise etwas abweisend.«

»Klar, verstehe. Du hast ja auch immer viel um die Ohren.« Charlotte machte eine bedeutungsvolle Pause, um noch eine Oktave höher weiterzureden. »Ich muss dir von einem unwiderstehlichen Mann berichten …«

»Okay, Ehemann Nummer drei?« Ninas Füße fingen erneut an zu trommeln.

»Nun sei doch nicht so ironisch, Nina. Kann halt nicht jeder so ein Glück wie du haben. Ich meine, ich habe ihn erst ein paar Mal getroffen, aber wer weiß?«

»Dann lass uns doch nächste Woche Donnerstag an der Alten Oper treffen. Wir können im ›Opéra‹ etwas essen und ein bisschen quatschen. Wäre sieben Uhr okay?«

Charlottes Stimme am Telefon piepste jetzt vorwurfsvoll. »Du weißt doch, dass ich abends keine Kohlehydrate mehr esse.«

»Na, dann isst du dort eben einen Salat, das ist doch kein Problem.«

»Nina, du verlangst wirklich viel von mir. Ich komme nur, weil du meine beste Freundin bist.«

»Ich weiß, liebe Charly, das beruht aber auf Gegenseitigkeit. Bis dann.« Nina beendete kurzerhand das Gespräch. Sie war unfähig noch länger zuzuhören oder an einer weiteren Aufgabe zu arbeiten. Sie wollte nach Hause, zurück in ihre heile Welt … zu Michael. Ihr Puls raste, erschöpft stützte sie den Kopf auf ihre Hände und sah in den schwarzen Schlund, der sie in diesem Augenblick zu verschlingen drohte.

Keine Minute länger konnte sie ihm widerstehen. Nina nahm ihre Jacke und von den erstaunten Blicken der Kollegen verfolgt, flüchtete sie zu ihrem Wagen. Selbst auf dem Nachhauseweg ließ sie die Vorstellung des dunklen Abgrunds nicht los.

Gegenüber von ihrem Haus stand ein schäbig gekleideter Mann am Straßenrand. Er schien zu warten und sprang sofort zur Seite, als sie mit dem Porsche in eine Parklücke direkt vor ihm raste. Es war der Alte, der ihr geholfen hatte, den alkoholisierten Maxi ins Haus zu schaffen.

»Na, junge Frau, heute ham Sie’s aber eilig.« Er grinste und kam auf sie zu.

Nina erschrak und blieb eine Sekunde wie versteinert stehen. Sie wusste nicht, ob ihre Angst vor seinem Anblick oder davor, fast diesen armen Obdachlosen zu überfahren, größer war. Als er näher schlurfte, roch Nina seinen alkoholisierten Atem. »Nein! Bitte entschuldigen Sie«, schleuderte sie ihm entgegen und eilte auf die andere Straßenseite.

»Sie müssen nicht erschrecken vor mir. Ich tu Ihnen nichts. Ich wollte nur …«, rief der Alte hinter ihr her, aber Nina war schon ins Haus gerannt. Mit zitternden Händen schloss sie die Wohnungstür auf.

»Michi?« Aber ihr Ruf blieb unbeantwortet. Ihr Zuhause war einsam und verlassen. Nur ihre Atemgeräusche, und der Lärm der wenigen vorbeifahrenden Autos erinnerte sie daran, dass sie noch lebte.

Sie konnte in dieser Leere nicht bleiben. Nina rannte wieder raus auf die Straße. Der Alte war verschwunden, allein die Bewohner der umliegenden Häuser kehrten von dem Arbeitsalltag zurück. Sie lief stadtauswärts zum Holzhausenpark und setzte sich auf eine freie Bank an dem kleinen Teich vor dem gleichnamigen Herrenhaus. Vom Spielplatz drangen Kinderstimmen an ihr Ohr und hier am Teich fütterte eine Mutter mit ihrem Kleinkind die zahlreichen Enten. Aber alle schienen namenlose Wesen ohne Schatten zu sein. Sie hörte das Rauschen der alten Laubbäume und das aufgeregte Schnattern der vielen Enten, der Wind spielte mit ihren Haaren. Vertraute Bilder aus einer anderen Zeit, einer glücklichen Zeit, die ihr jetzt fremd, fast außerirdisch vorkamen. Nina saß auf der Bank und erblickte ihre Umgebung, ohne sie wirklich zu sehen. Menschen kamen und gingen vorbei. Ein paar Jugendliche ließen sich auf der großen Grünfläche nieder. Bierflaschen wurden herumgereicht und der Dunst einer Shisha verbreitete sich in der Dämmerung über die Wiese.

Viele Stunden später raffte sie sich wieder auf und schlich zurück. Aber die Wohnung war unverändert. Räume, die früher mit Klaviertönen und dem Leben der drei Bewohner erfüllt waren, blieben jetzt still und einsam. Selbst Max war noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Mechanisch ging Nina zu Bett und zog die Decke über den Kopf. Aber sie hatte keine Tränen mehr.

Ich darf nichts sagen.

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