Читать книгу Ich darf nichts sagen. - Johanna E. Cosack - Страница 7

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Erstes Kapitel

Nina weinte lautlos. Sie hatte die Bettdecke über den Kopf gezogen und umklammerte ihren Teddy. Doch selbst der konnte ihre Frage nicht beantworten. Seine Knopfaugen glänzten nur schwarz und vorwurfsvoll.

Nina fasste sich an die Stelle, wo Papa ihr immer wehgetan hatte, wenn Mama arbeiten war und er seinen nackten, verschwitzten Körper auf ihren presste. »Wir spielen doch nur Bauch-Bauch.« Er keuchte dann und sein Atem roch bitter nach Alkohol. Sie hatte ihn gewähren lassen und ihr Gesicht abgewandt, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte. Ihr zarter Körper schmerzte, sie verstand dieses Spiel nicht. Ihr größter, geheimer Wunsch war ein Schlüssel für die Badezimmertür, denn sie wollte endlich keine Angst mehr haben, wenn sie dort allein war.

Sie hatte Papa lieb und ihm fest versprochen, niemand zu verraten, dass sie manchmal im Badezimmer vor ihm knien musste. Es fühlte sich eklig an und tat ihr weh, aber er hatte sie sicher nicht mehr lieb, wenn sie sich weigerte.

Eines Tages war Papa weg.

Sie zermarterte sich ihren kleinen Kopf über die Frage, was an ihrem zwölften Geburtstag geschehen war. Was hatte sie denn angestellt? Sie hatte doch immer alles getan, was er von ihr verlangte.

Sie hatte Angst, dass Mama ebenfalls fortgehen könnte, und wagte nicht, nach dem Warum oder Wohin zu fragen. Nein, sie durfte ihre Mutter nicht noch mehr belasten. Das leise Wimmern eines Neugeborenen im Nachbarzimmer und der Anblick ihrer übernächtigten Mutter … all das war ihre Schuld. Und wenn sie dem kleinen Wesen frühmorgens sein Fläschchen gab und seinen süßen Babyduft schnupperte, spürte sie, dass sie ihren Bruder brauchte.

Zusammen waren sie nicht mehr so allein.

Siebenundzwanzig Jahre, vier Monate und elf Tage nach seinem Verschwinden knabberte Nina lustlos an einem Stück ihrer Lieblingspizza. Das italienische Restaurant war fast immer ausgebucht und die Kollegen in Anbetracht der Enge an den langen Holztischen lieber zu einem Würstchen-Imbiss weitergezogen.

Aber Nina war der Appetit vergangen, denn sie verabscheute Oliven, die entgegen ihren Wünschen wieder auf ihrer Pizza lagen. Jedes Mal aufs Neue ärgerte sie sich über die Nachlässigkeit des jugendlichen Personals, ihre Bitte zu ignorieren, die Oliven wegzulassen. Jetzt lagen die Früchte wie glänzende schwarze Käfer zwischen den angebissenen Stücken auf ihrem Teller und Nina wollte endlich zurück in die Agentur.

Während ihre Füße ungeduldig wippten, blickte sie über die anderen Gäste hinweg, um nach der Rechnung zu verlangen. Dabei bemühte sie sich vergeblich, die laute Stimme ihrer Tischnachbarin zu ignorieren, die sich bei ihrer Freundin darüber beschwerte, dass ihr Mann zu häufig allein verreiste.

Mein Gott, dann lass ihn doch! Nina warf die rot karierte Papierserviette auf den Teller. Die Situation erinnerte sie aber sofort daran, dass Michael vor Kurzem ebenfalls für zwei Tage weggefahren war, ohne ihr einen Grund hierfür zu nennen. Er war noch nie allein verreist! Sie wollte ihn schon längst darauf ansprechen, aber auch diese Frage wurde von der Routine der alltäglichen Konversation überrollt. Seit der Rückkehr schien ihn etwas zu beschäftigen, denn er wirkte wortkarg und nachdenklicher als zuvor. Aber es gab so vieles, das sie ihm schon lange sagen wollte – wenn sie nur endlich könnte.

Nina ging nicht, sie lief. Und selbst wenn die zierliche Gestalt für ein paar Sekunden innehielt, schien sie immer auf der Flucht vor einer imaginären Bedrohung zu sein. Die scheuen Augen hinter den langen dunkelblonden Ponyfransen vertieften sich nur kurz im direkten Blickkontakt mit anderen Menschen, aber ihrer ruhelosen Aufmerksamkeit entging selten etwas. Sie strahlte eine beängstigende Energie aus, die bei den Kollegen den Eindruck erweckte, Nina sorgte für fast alles. Ihre Bereitschaft mehr – und von anderen ungeliebte – Aufgaben zu übernehmen, war im Laufe der Zeit zu einem festen Bestandteil der Unternehmenskultur der Agentur Springer&König geworden.

In den modernen Büroräumen der Frankfurter Werbeagentur herrschte wie gewöhnlich jene konzentrierte Lässigkeit, die für den Ideenreichtum der Mitarbeiter und damit für Erfolg sorgte. An manchen Arbeitstagen allerdings verwandelte sich dieser Mikrokosmos in einen Bienenstock, in dem jeder Einzelne seinen Aufgaben nachging, aber in deren Ergebnis doch alle miteinbezogen waren. Eine mitunter chaotische Masse von kreativen Individuen funktionierte so perfekt wie ein Schweizer Uhrwerk.

Kahle Fenster, die von dem dunklen Parkettboden bis hoch zur weiß gestrichenen Decke reichten, eröffneten den Blick auf die alten Backsteingebäude in der Umgebung. Die warme Nachmittagssonne fiel auf eines der grellbunten Sofas, die überall in den Räumen zum Ausruhen einluden. Zwei Praktikanten hatten es sich darauf bequem gemacht und betrachteten unter Feixen ein Youtube-Video auf dem Laptop.

Von ihrem Schreibtisch aus beobachtete Nina die beiden. Sie selbst hatte gleich nach dem Studium als Marketing-Assistentin in der Werbeagentur angefangen. Nur dieser Job schien zu ihrer Persönlichkeit zu passen und war es bis heute geblieben.

Wenige Wochen zuvor war ihre Mutter nach kurzer Krankheit gestorben und Papa … nein … Nina wandte den Blick ab.

»Hier, Nina-Schatz, hab ich dir mitgebracht.« Ferdi, einer der Junior Designer, stellte einen Kaffeebecher neben Ninas Mac.

»Hey … alles okay bei dir? Du bist gerade etwas blass um deine hübsche Nasenspitze.« Seine freundlichen braunen Augen sahen auf Nina herab. Er zog die Schultern bis zu den tiefroten Ohren hoch und begrub beide Hände in den Taschen seiner Jeans, so als suche er darin sein überzeugendstes Lächeln.

»Du, Nina-Schatz, ich habe ein Moodboard für die Wellness-Drink-Kampagne in deine Mailbox gelegt. Könntest du eventuell mal drüberschauen und wir reden später darüber?« Ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen beugte er sich zu ihr »Pierre nervt mich schon den ganzen Tag damit.«

»Oh je, Ferdi, du bist nicht der Einzige, der von Pierre genervt ist. Ich arbeite gerade an seiner Müller-Präsentation.« Nina hob kurz den Kopf und pustete eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich hab noch die Excel-Tabelle mit der Kostenschätzung und etliche Sachen für vorgestern auf meiner To-do-Liste und eigentlich muss ich heute pünktlich weg. Ich gucke mir dein Moodboard aber gern heute Abend von zu Hause aus an und wir reden morgen früh. Ist das okay?« Sie ärgerte sich ein wenig über ihre Bereitwilligkeit, denn Michael hasste es, wenn sie abends arbeitete.

Ferdis schlaksige Gestalt richtete sich wieder auf, wobei er von einem Fuß auf den anderen trat, um dann auf Ninas Schreibtischecke Platz zu nehmen.

»Hmm … könnte nicht Sandra die Excel-Tabelle übernehmen? Sie ist doch so fit mit diesem Formelquatsch.«

Sein sommersprossiges Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, während er eine Locke seiner rotblonden Haare wieder hinter dem Ohr befestigte. »Ich hoffe, dass Pierre heute nicht noch mal danach fragt – du kennst ihn ja.« Er betrachtete die Seiten der Präsentation, die auf Ninas Monitor geöffnet war, als ihr Telefon summte.

Bevor sie sich melden konnte, hörte sie Michaels vertraute Stimme: »Nina, ich bin schon zu Hause und stelle dich jetzt mal auf Lautsprecher. Hör mal. Wie findest du diese Melodie?« Wie aus einer anderen Galaxie strömten die harmonischen Takte eines Klassikstücks aus dem Hörer, aber sie lauschte ungeduldig auf deren Ende.

»Michi, das klingt wunderschön, von wem ist das?«

Ferdi machte keine Anstalten, wieder zu seinem eigenen Schreibtisch zurückzukehren, sondern nippte genüsslich am Kaffee.

»Baby, das ist von mir! Ich habe diese Melodie geschrieben. Heute Abend spiele ich dir das ganze Stück auf dem Flügel vor und …«

Michael atmete hörbar tief ein.

»Und außerdem habe ich eine riesengroße Überraschung für dich.« Er schwieg und erwartete offenbar eine Antwort. »Nina? Bist du noch dran? … okay, ich merke schon, du hast wie immer keine Zeit. Ich bitte dich, komm ein einziges Mal pünktlich heute Abend, es ist sehr wichtig … für uns beide.«

»Schatz, ich verspreche dir, ich versuche, so schnell wie möglich zu Hause zu sein. Muss vorher noch Maxis Sachen von der Reinigung abholen und komme dann aber sofort.«

Abrupt verstummten die Klaviertöne im Hintergrund.

»Nina! Max ist fast siebenundzwanzig und die Reinigung ist ganz in der Nähe seiner Kfz-Werkstatt. Kann er das denn nicht selbst erledigen? Wie lange willst du deinen Bruder eigentlich noch bemuttern?«

Nina erschrak über seinen harschen Ton und flüsterte: »Michi, ich kann jetzt nicht … bitte lass uns später weiterreden.« Schnell beendete sie das Gespräch. Es gab keine Antwort auf diese Frage.

»Stress mit deinem Mann?« Ferdi sah sie mitfühlend an, aber erhob sich endlich und strich sein T-Shirt glatt.

»Nein, Ferdi.« Nina schüttelte den Kopf. »Nur Kommunikationsbedarf … aber ich muss heute wirklich zeitig weg.«

»Schon okay, Nina-Schatz. Das verstehe ich doch. Wir reden dann halt morgen über das Moodboard, und Pierre werde ich einfach heute Nachmittag noch mal vertrösten. Mach dir keine Sorgen, sondern einen schönen Abend mit deinem musikalischen Herzblatt!« Ferdi zwinkerte ihr im Weggehen aufmunternd zu und nahm den leeren Kaffeebecher wieder mit.

Ihr von Max blitzblank geputzter Porsche quälte sich viel zu langsam durch die abendlichen Staus der Hanauer Landstraße in Richtung Nordend. Ihr Zuhause lag im zweiten Stock eines aufwendig renovierten Altbaus in der Wolfgangstraße. Vor ein paar Jahren hatte Nina Max ohne zu Zögern ein Zimmer angeboten, als der sich nach kurzer Liebelei wieder von einer Freundin trennte. Eine Entscheidung, die Michael schon längst bereute; es blieben stumme Blicke voller Vorwurf. Denn sein riesiger Flügel fand keinen Platz im Musikzimmer, wie geplant, er wanderte ins Wohnzimmer. Der schwarze Bechstein Academy war ein Geschenk seines Großvaters – und schlicht nichts anderes als Michis Lebensinhalt. Michael unterrichtete nicht nur klassische Musik an der Frankfurter Musikhochschule, er lebte sie – jede einzelne Zelle von ihm brauchte Musik und vor allem seinen Flügel zum Atmen.

Beladen mit einem dicken Wäschepaket stürmte Nina die Treppen zu ihrer Wohnung empor. Temporeiche Akkorde eines Musikstückes empfingen sie, Michi saß wie immer am Flügel. Die Hände ihres Mannes flogen über die Klaviatur, während Michis Kopf den Bewegungen der Tempi folgte. Mit geschlossenen Augen schien er versunken in der mitreißenden Welt seiner Musik, seinem Universum.

Als er sie bemerkte, erhob er sich sofort. Michael war über einen Kopf größer als Nina. Glattes und von ersten grauen Strähnen durchzogenes Haar umrahmte sein schmales Gesicht, in das sich tiefe Falten um die Mundwinkel eingegraben hatten. Michael liebte Rollkragenpullover. Sie spürte die weiche Kaschmirwolle an ihrer Wange und seine Hände sanft über ihren Rücken streicheln. Minutenlang verharrten sie in ihrer Umarmung, eine schützende Festung und der einzige Ort, an dem sie kurzzeitig eine Art Ruhe fand. Michi schien die Anspannung seiner Frau zu spüren. Er hielt sie fest umschlungen und stellte keine Fragen, denn er wusste, dass sie jedes Wort als einen Vorwurf gegen ihren übertriebenen Arbeitseifer verstanden hätte. Behutsam löste er sich und flüsterte ihr zu, dass er sich nur kurz um das Essen kümmerte. Dann verschwand er in der Küche.

Nach zu vielen Büro-Tagen, die erst spät in der Nacht geendet hatten, freute Nina sich auf den Abend in der stillen Geborgenheit ihrer Zweisamkeit – und auf die versprochene Überraschung. Vielleicht ein neues Stück seiner Komposition? Heute Nachmittag hatte er ihr einen Teil daraus vorgespielt, aber Nina hatte die Melodie schon vergessen. Oder hatte Michi noch eine andere Überraschung für sie? Sie sah sich um – aber alles war wie immer. Das warme Licht einer Stehlampe fiel auf die beiden Sessel, die vor dem großen Bücherregal standen. Davor der glänzende Flügel, der durch den aufgeklappten Deckel noch imposanter wirkte. Ihr Blick wanderte weiter zum gedeckten Esstisch. Ein paar Kerzen darauf flackerten leicht, als sie sich näherte. Sie schenkte zwei Gläser Wein ein. Michael stellte eine Platte mit Antipasti auf den Tisch.

»Bin gleich fertig, Baby. Es wird im wahrsten Sinne ein italienischer Abend … unser Abend.« Im Vorbeilaufen küsste er sie auf die Wange und verschwand wieder in die Küche.

Obwohl das Handy nur leise klingelte, klang es in Ninas Ohren wie ein Warnsignal. Ein schneller Blick auf ihre Uhr genügte – und Nina war überzeugt, dass einer der Kollegen wie gewöhnlich eine dringende Rückfrage hatte. Nein, bitte jetzt keine Fragen mehr! Nichts sollte diesen Abend stören. Doch ein ungutes Gefühl sagte ihr, dass genau dieses Klingeln keine Arbeit bedeutete.

Es war der Auslöser einer für sie unvorstellbaren Katastrophe. Aber Nina ahnte nicht, wie sehr der Anruf ihr Leben verändern würde. Vorsichtig griff sie zum Telefon.

Nur Max. »Hallo, mein Kleiner!«, Sie war erleichtert.

Ihr Bruder lallte in wirren Sätzen, dass er in einer Bierkneipe in der Nähe der Werkstatt festsitze. Die Freunde waren verschwunden, sein Portemonnaie ebenfalls und die Getränkerechnung unbezahlt.

Nina schluckte. Einen Augenblick war sie unschlüssig, ob sie erheitert oder wütend auf ihren Bruder sein sollte, aber am Ende war das in dieser Situation bedeutungslos. Michael, der die letzten Sätze des Telefongesprächs gehört hatte, stand verloren im Türrahmen. »Nina! Nein! Du gehst jetzt nicht! Bleib hier, bitte. Wir müssen reden.« Er stellte sich ihr in den Weg und breitete die Arme aus.

Nina drängte vorbei. »Aber, Schatz … aber das können wir doch auch noch hinterher … ich hole ihn ganz schnell und dann essen wir einfach später.«

»Nina, ich bitte dich inständig, lass ihn ein einziges Mal selbst aus den Schlamassels rauskommen, die er sich dauernd einbrockt, und hör auf ihn dauernd zu bemuttern. Bleib hier – unseretwegen.«

»Stell dich doch nicht so an. Michi, ich kann Max doch nicht einfach hängen lassen. Er ist mein Bruder …«

»… und wer bin ich? Oder was bedeute ich dir überhaupt noch? Es sollte doch unser Abend werden. Seit du zwölf bist, sorgst du für ihn. Glaubst du nicht, dass du deine Fürsorge so langsam übertreibst?«

»Wieso? Was ist denn nur los? Max kann ja noch nicht einmal sein Taxi bezahlen. Ich muss hin. Versteh mich doch.«

Seine schmale Gestalt fiel in sich zusammen und ein Ausdruck verzweifelter Traurigkeit überschattete Michis hageres Gesicht. Die dunklen Augen schienen Nina durch die Intensität seines Blickes festzuhalten. »Seit fast fünfzehn Jahren versuche ich schon, dich zu verstehen, Nina. In der ganzen Zeit habe ich Rücksicht genommen, auf deinen Job und noch mehr auf deine Verantwortung für deinen Bruder. Aber ich brauche dich doch auch! Und zwar ganz und nicht nur den Teil von dir, der nach deinem Beruf und deinem Bruder noch für mich übrig ist.«

Mit Tränen in den Augen, aber den Autoschlüssel schon in der Hand, hielt Tina vor der Haustür inne: »Michi, Schatz! Jetzt mach doch keine Szene wegen dieser Kleinigkeit. Ich hole Max jetzt ganz schnell und dann machen wir uns einen schönen Abend. Es geht nicht anders.«

Michael folgte ihr in den Flur. Mit brüchiger Stimme sagte er leise: »Nina, ich habe vor ein paar Tagen die Zusage für eine freie Dozentenstelle an der Musikhochschule in Rom erhalten. Es sollte eine Überraschung für dich sein und für uns eine Chance wieder zusammen zu finden. Ein Leben ohne dass dein Bruder zwischen uns steht.«

Zwischen uns? Aber er ist doch ein Teil von mir, dachte Nina, dann rannte sie wortlos hinaus.

Zwei Stunden später parkte sie den Wagen erneut vor ihrer Haustür und versuchte die knapp neunzig Kilo schwere Gestalt ihres betrunkenen Bruders vom Beifahrersitz zu ziehen.

»Na, Ihr Mann hat aber ganz schön getankt«, bemerkte ein alter Mann, der von der anderen Straßenseite zu Hilfe kam. Eine dicke Wollmütze war tief in sein zerfurchtes Gesicht gezogen, strähnige Haare reichten bis auf die Schultern, auch seine Kleidung schien sonderbar. Nina erschrak zunächst, doch dann schoben sie Max gemeinsam die wenigen Stufen hoch. Trotz der Anstrengung fröstelte sie plötzlich und vom Bieratem ihres Bruders war ihr übel.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, aber er ist nicht mein Mann. Es ist mein Bruder und glücklicherweise kommt er nicht oft in diesem Zustand nach Hause.«

»Ihr Bruder?« Der Alte grinste. Ungepflegte Zähne kamen zwischen den Bartstoppeln zum Vorschein. Er wankte die Treppe wieder hinab, auf dem Bürgersteig drehte er sich noch mal um. »Tschuldigung, dass ich so neugierig bin. Ich habe vorhin Klaviertöne aus dem Haus hier gehört. Kam das aus Ihrer Wohnung?«

»Ja, ich hoffe, es stört niemand. Das war mein Mann. Einen guten Abend noch und vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Nina winkte dem Unbekannten kurz zu und rannte die beiden Stockwerke hinauf. Doch nach ein paar Treppenstufen blieb sie atemlos stehen. Ihr Herz raste. Die Eindrücke des Abends flimmerten wirr durch ihren Kopf und verwandelten sich in tonnenschwere Felsen, die es ihr unmöglich machten weiterzulaufen. Michaels Ankündigung, nach Rom zu ziehen, der unheimliche Blick des Alten auf der Straße und das Gefühl, durch den Druck in einen Abgrund zu fallen, bohrten sich durch ihr Bewusstsein. Ihr war schwindlig und ihr Magen rebellierte. Das Licht der

Treppenhausbeleuchtung blitzte in ihre Augen. Sie griff nach dem Treppengeländer, fasste ins Leere und setzte sich auf die Stufe. Sie brauchte jetzt dringend Ruhe und Michis Nähe.

Rom musste einfach warten.

Ein ohrenbetäubender Knall gefolgt von hellen Klirrtönen gerissener Klaviersaiten empfing sie in ihrer Wohnung. Der Krach pulverisierte jegliche Erschöpfung und Nina stürzte wie elektrisiert zu seinem Ursprung. Michi hatte Max offenbar die Wohnungstür geöffnet, doch der war orientierungslos in ihr Wohnzimmer gestolpert. Max stand jetzt schwankend neben dem Flügel, dessen Deckel er heruntergerissen hatte. Seine Augen waren auf ein Stück der schwarz lackierten Korpusabdeckung in seiner Faust gerichtet.

»Max! Um Himmels willen! Nein!« Entsetzt blieb Nina vor den Bruder stehen.

»Das … das wollte ich nicht …« Max’ verschwitztes Gesicht war schreckerstarrt.

Michi war aus der Küche geeilt. »Jetzt reicht es endgültig. Es wird Zeit, dass dieser versoffene Nichtsnutz hier endlich verschwindet.« Nina sah nur noch Hass in seinen Augen.

Vollkommen außer sich packte er den muskulösen Oberarm des betrunkenen Manns und zerrte ihn in sein eigenes Zimmer nebenan. Max faselte etwas, das sich wie eine Entschuldigung anhörte, aber folgte Michael willig hinaus.

Nein, das darf jetzt alles nicht wahr sein!

Nina wünschte sich, aus diesem Albtraum endlich aufzuwachen. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken, füllte ein Glas randvoll mit Wein und trank es in einem Zug aus. Die Kerzen auf dem Esstisch waren herunter gebrannt. Ende.

Das fragile Konstrukt ihres Lebens drohte in diesem Augenblick einzustürzen.

Michael kam fünf Minuten später zurück ins Wohnzimmer, aber er schien komplett verändert. Er atmete schwer und sein Gesichtsausdruck zeigte eine verzweifelte Entschlossenheit. Eine bisher nie gekannte Wut mühevoll unterdrückend setzt er sich.

»Bitte, Michi, sei nicht böse auf ihn«, schluchzte Nina. »Das ist alles nur mein Fehler, ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen. Max kann im Grunde genommen nichts dafür. Er wird sich morgen bei dir entschuldigen und für die Reparatur …«

»Nein, Nina! Merkst du denn nicht, dass es so nicht weitergehen kann!« Er schlug hart mit seiner Hand auf den Tisch, ein Glas fiel um. »Baby, wir können so nicht weitermachen und arbeiten kann ich schon gar nicht.« Fassungslos erkannte Nina die Flut an Emotionen, die sich bei ihrem Mann aufgestaut hatten.

Sie sprach leise. »Ich kann meinen Bruder doch nicht einfach vor die Tür setzen.«

»Wieso nicht? Er ist volljährig und hat einen Job. Ich weiß nicht, warum du deine Fürsorge so übertreibst. Was in aller Welt ist nur los mit dir?«

Nina saß verständnislos vor dem Menschen, mit dem sie seit mehr als vierzehn Jahren verheiratet war. Den sie bis zu diesem Abend zu kennen geglaubt hatte und der jetzt, ohne mit ihr vorher darüber zu reden, in eine andere Stadt ziehen wollte.

»Nichts, Michi! Ich muss einfach für meinen Bruder da sein … aber ich brauche dich.«

»Dann musst dir klar werden, ob du mich so sehr brauchst und vor allem liebst, dass du die Verantwortung für Max endlich ablegst. Entweder dein Bruder oder ich, so geht’s jedenfalls nicht länger.« Michi ergriff ihre Hand. »Baby, wir nehmen uns die nächsten zwei Wochen frei. Wir könnten nach Rom fliegen und gemeinsam die Stadt anschauen. Es gefällt dir sicher dort. … ich bitte dich, Nina, komm mit mir. Wir versuchen einen Neubeginn ohne deinen Bruder. Er kann uns doch später jederzeit besuchen.«

Nina schloss die Augen. Sie war todmüde und jedes weitere Wort hätte wie eine verlogene Entschuldigung geklungen.

»Michi. Es tut mir so leid. Ich kann nicht mehr.« Sie flüchtete ins Schlafzimmer. Im Bett zog die Decke über den Kopf und weinte leise.

Ich darf nichts sagen.

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