Читать книгу Ich darf nichts sagen. - Johanna E. Cosack - Страница 8

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Zweites Kapitel

Michaels Nase kitzelte und der linke Arm schmerzte etwas, denn Ninas Kopf ruhte darauf, und er hatte das Gesicht in ihren Haaren vergraben. Nein, nur nicht aufwachen, schoss ihm in den Sinn. Müde blinzelte er mit den Augen, er hatte das Gefühl, eben erst eingeschlafen zu sein. Aus Angst vor einer drohenden Distanz hatten sie im Schlaf gegenseitige Nähe gesucht und lagen jetzt eng aneinandergeschmiegt unter einer Decke. Doch war diese Vertrautheit nicht nur durch die Ereignisse des vergangenen Abends schon längst brüchig? Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, strich Michael die weichen Haare seiner Frau zurück. Welches unaussprechliche Geheimnis verbarg sich nur in ihrem Kopf? Warum schien sie so sehr auf den Bruder fixiert? War es doch falsch, den Job an der italienischen Musikakademie einfach anzunehmen? Nein! Es war das einzig Richtige. Er liebte sie doch – aber was empfand Nina für ihn? Jetzt im Halbschlaf drehten sich seine Gedanken im Kreis.

Hinter den leichten Vorhängen der Schlafzimmerfenster schickte ein neuer Tag seine hellen Vorboten. Nina streckte sich etwas und atmete tief. In dem wenigen Licht erkannte er, dass sie die Augen öffnete.

»Baby, es ist noch zu früh um aufzustehen. Träum noch ein wenig.« Michi küsste sie zart auf die Nasenspitze. Losgelöst von der Realität des bevorstehenden Tages schien Nina einen Augenblick in seiner Umarmung zu ruhen.

»Michi, das mit deinem Flügel tut mir leid.« Sie gähnte schläfrig.

»Ich weiß, Baby. Aber es geht nicht nur um den Flügel, es geht um uns beide.« Er umarmte sie so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen.

»Wir beide sind doch zusammen. Oder etwa nicht? Ich kann niemand außer dir sehen.«

»Aber es geht darum, wer zwischen uns steht …«

Michael zögerte, doch nach einer Weile unterbrach er erneut das gedankenverlorene Schweigen: »Entweder muss dein Bruder fort oder wir weg von deinem Bruder.«

Ninas rückte ein wenig von ihm ab, ihre Stimme klang jetzt hellwach.

»Das geht nicht.«

Michael zog die leichte Daunendecke über ihre nackten Schultern und umarmte sie wieder.

»Doch, Baby! Warum denn nicht? Wir müssen etwas verändern in unserem Leben. Merkst du nicht, dass wir beide nur noch unausgeglichen und gestresst sind?«

»Aber das geht doch auch wieder vorbei. Momentan ist es halt alles ziemlich viel. Vielleicht sollten wir einfach mal Urlaub machen …«

»Ja, aber ohne Max! Aber selbst dann kommen wir wieder nach Hause und alles geht genauso weiter.«

»Wieso hast du so plötzlich ein Problem mit Max?«

»Weil ich dich dann nie allein für mich habe. Baby, ich muss und werde die Stelle an der Musikschule in Rom im August antreten. Komm mit mir, Nina. Bitte!«

Er spürte, wie Ninas Körper erstarrte.

»Michi, du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen und denkst, ich komme damit schon klar. Wie stellst du dir das denn vor? Soll ich Max und meinen Job einfach hinschmeißen? Versteh mich doch, ich kann hier nicht einfach alles zurücklassen. Max braucht mich. Ich kann ihn nicht im Stich lassen, er ist mein Bruder, ich bin für ihn verantwortlich.«

Michael hob sanft ihr Kinn, sodass sie ihm direkt in die Augen sah. »Nina, es tut mir leid, wenn ich dich mit Rom überrumpelt habe. Ich hielt es für die einzige Möglichkeit, etwas in unserem Leben zu ändern. Du warst nie da und wenn du zu Hause warst, kam Max meistens auch noch dazu.«

»Ich dachte, du magst meinen Bruder!« Nina richtete sich auf.

»Ja, schon … aber ich brauche dich doch auch. Seit Monaten warte ich darauf, dass du endlich die Verantwortung für Max mal etwas zurückfährst. Ich würde mir wünschen, dass wir beide mehr Zeit für uns hätten.«

Ein paar Minuten lang überlegte er, ob er weiterreden sollte. »Hast du dich eigentlich jemals gefragt, warum wir keine Kinder haben?«

»Wir können eben keine bekommen. Das haben wir doch mittlerweile ausreichend diskutiert. Außerdem ist es doch auch so schön genug mit …« Ninas Augen glänzten feucht in der Dämmerung.

»… mit Max?«

»Das ist unfair, Michael. Ich dachte, das Thema Kinder hätten wir abgeschlossen. Es gibt keinen physischen Grund, warum es nicht geklappt hat, das weißt du auch. Unser Leben reicht mir auch so. Du hast deine Musik und ich einen anstrengenden Job in der Agentur.«

»Und wir beide noch deine übertriebene Verantwortung für deinen Bruder. Du behandelst ihn wie ein unmündiges Kind – dein Kind.«

»Du tust mir unrecht, denn du weißt genau, dass er seit Mamas Tod nur noch mich hat. Ich muss doch für ihn sorgen.« Ninas Ton wurde scharf.

»Nein! Das musst du nicht! Ich weiß nicht, warum du es immer weitermachst. Max ist alt genug. Seit er bei uns wohnt, machst du ihm die Wäsche und viel zu oft hockt er mit uns zusammen – sofern er nicht mit seinen merkwürdigen Trinkkumpanen unterwegs ist. Wenn ich ihm andeute, dass es längst Zeit ist, selbstständig zu sein, nimmst du ihn in Schutz. Nina, begreifst du nicht, du musst irgendwann damit aufhören! Und dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen!«

»Aber ich kann ihn doch nicht einfach vor die Tür setzen. Warum machst du mir mit einem Mal so ein Druck? Und was ist eigentlich mit meinem Job?«

»Baby, auch diesen Job machst du doch schon viel zu lange. Du könntest erst mal ausspannen und in Rom vielleicht etwas Neues finden. Du bist total überarbeitet. Ich glaube, deine netten jungen Kollegen machen Karriere und du hilfst ihnen auch noch dabei.«

»Michi, das ist nicht wahr! Ich brauche meinen Job … Du willst mich einfach nicht verstehen. Ich muss für Max da sein. Wenn du selbst einen Bruder oder eine Schwester hättest, könntest du meine Haltung vielleicht nachvollziehen.«

»Nein, Baby, auch wenn ich Geschwister hätte, könnte ich nicht so sein wie du. Ich habe so sehr gehofft, dass du die Verantwortung für deinen Bruder irgendwann einmal wieder zurückschrauben würdest. Was ist nur mit dir los?«

»Nichts! Ich kann einfach nicht! Aber warum tust du das alles? Ich verstehe nicht, wieso du nicht vorher mit uns über deine Pläne geredet hast. Vielleicht hätten wir gemeinsam eine Lösung gefunden.«

Nina wischte erneut Tränen aus den Augen. »Ich … ich glaube, ich sollte jetzt lieber aufstehen.«

»Nina, bitte bleib hier!« Seine Stimme klang ernst.

»Es geht nicht.«

Enttäuscht sah Michael ihr zu, wie sie aus dem Bett sprang. »Du willst also jetzt wirklich gehen? Nina?«

Er hatte geahnt, dass sie zunächst mit Unverständnis auf seine Bitte reagieren würde. Auch auf einen kleinen Streit und Tränen war er im Grunde vorbereitet gewesen. Spätestens in Rom, als er den Vertrag unterschrieben hatte, war ihm bewusst, dass dieser Schritt ein Risiko bedeutete. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Nina wieder einmal weglaufen würde.

Im Vorbeieilen küsste sie ihn schnell auf die Stirn.

»Michi, das führt jetzt zu nichts. Du erwartest doch nicht im Ernst, dass ich jetzt ab sofort alles stehen und liegen lasse. Ich kann dir nicht sagen warum, aber ich kann nicht zwischen dir und meinem Bruder entscheiden. Lass uns heute Abend weiterreden. Vielleicht brauchen wir einfach nur Zeit.«

»Ja, aber ohne ihn«, sagte Michael leise. Nina hatte das Schlafzimmer verlassen. Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und sah zur Decke. Minutenlang lag er nur da, wartend.

Er blieb allein.

Irgendwann schlurfte er in die Küche und wanderte mit einem Becher Kaffee in der Hand weiter ins Wohnzimmer. Der Anblick des demolierten Musikinstrumentes tat ihm weh, ein Sinnbild für die seit Langem zerstörte Harmonie. Tröstend, fast zärtlich strichen seine Finger über die Klaviatur und den zertrümmerten Deckel. Mit Tränen in den Augen versuchte er, einzelne kleine Bruchstücke aus dem Resonanzboden vorsichtig zu entfernen. Er wagte es nicht, eine einzige Taste der Klaviatur zu betätigen, um ihm keine weiteren Schmerzen zuzufügen, denn er wusste, dass dies nur erneut Missklänge ausgelöst hätte. Diese Qual musste ein Ende finden.

Es ergab doch alles keinen Sinn mehr!

Resigniert rief Michael einen Freund an, der ein kleines Klavierbau-Unternehmen leitete; er vereinbarte die sofortige Abholung des Flügels.

Glücklicherweise kam der mit seinen Helfern schon eine Stunde später und versprach, den Flügel nach der Reparatur bis zu seinem Anruf aufzubewahren. Als Michael zusah, wie die Männer mit starken Händen das große Instrument aus der Wohnung schleppten, empfand er eine fast unerträgliche Zerrissenheit, so intensiv, als trügen sie damit einen Teil seines Körpers hinaus. Die Leere des Zimmers erdrückte ihn. Mutlos ließ er sich auf den zurückgelassenen Klavierhocker fallen.

Lange saß er dort, das Gesicht in den Händen vergraben. Heute Abend würde dieser muskelbepackte Kerl wieder anwesend sein und ihn mit schwachsinnigen Entschuldigungen überhäufen. Wie konnte er in einer Umgebung, die nur Dissonanzen in ihm auslöste, an seiner Symphonie weiterarbeiten? Zu Beginn ihrer Ehe war er überzeugt, dass Nina zur Vernunft kommen und ihren Bruder loslassen würde. Warum hing sie nur so sehr an ihm? Und welche Rolle spielte er selbst überhaupt noch in ihrem Leben? Viele Jahre hatte er auf ein Baby gehofft und sich darauf gefreut, seinem Sohn oder einer Tochter das Klavierspielen beizubringen. Er war zuversichtlich, dass ein eigenes Kind Nina helfen würde, sich von ihrem Bruder zu lösen. Aber dieser Traum trat immer mehr in den Hintergrund, begraben unter endlosen Diskussionen, die meistens mit Streit und Tränen endeten.

Nach den Missverständnissen folgten Abende der Versöhnung und erneuter Hoffnung. Er war müde davon geworden und hatte in seiner Musik Zuflucht gefunden. Nina hatte sich immer tiefer in ihre Arbeit gestürzt. Diese Ehe zu dritt dauerte doch schon zu lange und Rom bot eine einmalige – die vielleicht letzte – Chance, etwas zu ändern, bevor alles zu spät war. Das Leben, ihre Zeit miteinander, plätscherte vorbei wie Wasser in einem Kanal. Aber der Fluss seines Lebens sollte sich doch auch durch neue Gebiete graben. Sich bei Misserfolgen verästeln und wieder zu einem stärkeren Strom zusammenfinden, um in vielen Jahren im Meer der Unendlichkeit zu münden. Aber ein Neuanfang ohne Nina? Kaum vorstellbar. Niemals? Er liebte ihre Gradlinigkeit, ihre selbstlose Zuneigung, ihre verzweifelte Liebe. Er liebte das Gefühl, sie zu spüren, zu umarmen und zu halten. Im Grunde liebte er alles an ihr, bis – ja, bis auf ihren Bruder.

Am späten Nachmittag fasste Michael einen Entschluss und griff zu seinem Handy. Er teilte dem Direktor der Frankfurter Musikschule telefonisch mit, dass er vermutlich bis zum Ende des Semesters beziehungsweise seiner Kündigung keine Termine mehr wahrnehmen könne. Nein, er sei nicht krank, beruhigte er den überraschten Leiter. Er müsse sich jedoch länger als geplant auf den Umzug und die neue Anforderung in der Musikakademie vorbereiten. Michael versprach, in den Semesterferien nochmals zur Musikschule zu kommen, um die restlichen Unterlagen und seine persönlichen Gegenstände von dort abzuholen.

Dann lief er ins Schlafzimmer und packte zwei große Koffer mit seiner Lieblingskleidung. Als er seine Notenblätter in eine Mappe sortierte, hielt Michael inne. Er nahm ein leeres Blatt und fing an zu schreiben. Den Brief legte er auf den vereinsamten Klavierhocker, ergriff die beiden Koffer und seinen Autoschlüssel.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, blickte er nicht zurück.

Nina war tränenüberströmt aus ihrer Wohnung geflüchtet, auf der Treppe hatten ihre Beine beinahe versagt. Ihr rasendes Herz umklammerte eine entsetzliche Angst vor der ungewissen Zukunft, die durch diese Katastrophe und Michis Entschluss ihren Lauf zu nehmen schien. Die mühsam errichtete Hängebrücke über die Schlucht der Erinnerungen drohte endgültig zu reißen. Jahrelang war Nina darüber gerannt, um beiden Seiten gerecht zu werden. Jetzt hing sie zwischen den geliebten Menschen, doch vermochte sie keinen der Stricke loszulassen, denn sie wollte – nein … sie durfte niemand verlieren. Unten in der Schlucht lagen die Erlebnisse ihrer Kindheit tief vergraben.

Vor ihrem Lieblingscafé im Öderweg hielt sie an und kaufte zwei Croissants und einen großen Milchkaffee. Trotz der frühen Uhrzeit schienen die Menschen, die aus den U-Bahn-Schächten strömten, schon alle in Eile zu sein, denn die Uhren in dieser Stadt tickten schnell. Eine Tatsache, die Nina seit der Kindheit verinnerlicht hatte.

Nach der Schule war sie meistens nach Hause gerannt, um Max vom Kindergarten abzuholen und ihm ein Mittagessen zu kochen. Am liebsten aß er Pudding – warmen, cremigen Schokopudding. Manchmal mischte sie Spinat unter den Pudding, da sie gehört hatte, dass Kinder Spinat essen müssten.

Es war ihr Fluchtinstinkt oder mehr ein verzweifelter Versuch, der Realität davonzulaufen, der Nina veranlasste, an den Main zu fahren. Sie parkte den Porsche am Straßenrand und stieg aus. Jetzt im März war der Wind noch kühl und ein leichter Regen prickelte auf ihrem Gesicht. Unzählige Menschen joggten auf dem breiten Uferweg entlang oder fuhren mit dem Fahrrad zu ihrer Arbeitsstelle. Auf einer Parkbank fütterte ein älterer Herr ein paar Schwäne, die stürzten sich gierig auf das trockene Brot. Der Anblick der Tiere erinnerte Nina sofort wieder an Michi, als der ihr bei einem Spaziergang am Main erklärte, dass Schwanenpaare ein ganzes Leben zusammenblieben. Genauso wie wir, hatte er damals verliebt hinzugefügt.

Jetzt drohte Michi allein in den Süden zu ziehen. Blind vor Tränen warf Nina den Rest der Croissants zu den Schwänen und eilte zurück zu ihrem Wagen.

Zwanzig Minuten später hastete sie die beiden Stockwerke in dem alten Fabrikgebäude hoch, in dem die Marketingagentur schon seit ihrer Gründung untergebracht war. Im Empfangsflur begegnete sie Pierre, der mit einer CD in der Hand offenbar in die benachbarte IT-Abteilung unterwegs war.

»Hey, Nina! Guten Morgen, Liebes, bist du heute aus dem Bett …« Dann stockte er. »Ist irgendwas passiert? Meine Güte, du siehst ja schrecklich aus. Hast du etwa geweint?«

»Ach, Pierre, guten Morgen! Nein, alles okay.« Nina schüttelte energisch den Kopf und wischte mit dem Ärmel ihres Pullovers über ihr Gesicht. »Nein, das muss wohl der dumme Regen sein. Ähm, Pierre, deine Müller-Präsentation ist so gut wie fertig. Ich lege sie gleich in dein Postfach.«

Pierre zupfte an seiner Krawatte und blickte stirnrunzelnd auf sie herab. »Das ist super … kannst du mir die Sachen auch noch mal ausdrucken? Der Termin morgen wird wichtig und daher möchte ich ein paar Kommentare hinzufügen, die für mich persönlich sind.« Er griff nach ihrem Arm.

»Nina, ist wirklich alles okay?«

»Aber klar … was soll denn schon sein?« Nina zitterte vor Anstrengung am ganzen Körper. Die Erinnerung an den gestrigen Abend trieb ihr erneut Tränen in die Augen. Sie drängte schnell an ihm vorbei, spürte aber, dass Pierres Blick sie verfolgte, als sie auf ihren Schreibtisch zusteuerte.

Ninas Arbeitsplatz lag im ›Garten‹, einem Teil des Raumes, der aufgrund seiner zahlreichen Grünpflanzen diese Bezeichnung bekommen hatte.

Immer wieder versuchte sie sich auf das Moodboard vor ihr auf dem Bildschirm zu konzentrieren, aber ihre Gedanken kehrten sofort zu Michi zurück. Wie konnte er sie nur vor eine solche Entscheidung stellen? Warum tat er das? Wollte er wirklich ihr gemeinsames Zuhause verlassen, ihre kleine Familie? Hatten sie sich in der Gemeinschaft nicht alle wohlgefühlt, wie unter einer lieb gewonnenen Decke, unter der jeder seinen Platz hatte und die sie wärmte? Ihr bisheriges Zusammenleben war so selbstverständlich und verlässlich, ohne große Aufregungen. Sie brauchte und liebte ihn über alles, denn er war die einzige Zuflucht in ihrem hektischen Universum und Max hatte eigentlich nie darin gestört.

Aber warum beabsichtigte Michael, das alles zu ändern? Ninas anfängliche Entrüstung verwandelte sich zunehmend in hilflose Angst, dass er seine Pläne verwirklichen würde. Ein Gefühl aus der Kindheit nahm mehr und mehr Besitz von ihr und eine tiefe Narbe der Erinnerungen drohte aufzuplatzen. Nina riss sich zusammen. Sie musste verhindern, dass alles zusammenstürzte. Er durfte sie nicht allein lassen. Ihr Blick schweifte zu der Palme neben ihrem Schreibtisch, vielleicht waren sie wirklich nur überarbeitet und brauchten Urlaub. Es musste doch einen anderen Ausweg geben.

Das Klingeln ihres Handys unterbrach die Urlaubsträume.

»Nima, ich wollte mich nur mal kurz melden. Ich wollte euch nicht stören und bin schon ganz früh in die Werkstatt«, tönte die von Motorgeräuschen begleitete Stimme ihres Bruders. »Du, ich … ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, gestern Abend … es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Der arme Michi, jetzt ist er sicher noch wütender auf mich.«

»Max! Du sollst mich nicht Nima nen…«

»Doch! Für mich bist und bleibst du Nina-Mama!«, sagte Max und lachte. »Ich habe vorhin mit einem Freund telefoniert, der auch so ein Klavier hat. Mein Kumpel sagt mir später, wo man am besten so etwas reparieren lassen kann.«

Nina musste zum ersten Mal an diesem Tag lächeln.

»Max, es ist ein Flügel und kein Klavier. Ich glaube, Michi will sicher selbst für die Reparatur sorgen. Du weißt, was der Flügel für ihn bedeutet.«

»Ich werde mich heute Abend bei Michi entschuldigen und die Reparatur bezahle ich ihm auch. Hoffentlich ist er dann nicht mehr so böse auf mich. Schuld war nur mal wieder die blöde Trinkerei, und meine Kumpels waren plötzlich nicht mehr da. Wenn ich die sehe, bekommen die erst mal Prügel.«

»Nein, das wirst du nicht tun, Max. Diese Freunde lässt du künftig schön in Ruhe. Nur dein Portemonnaie sollten sie dir zurückgeben.«

»Ja, Nina.« Max’ Stimme wurde kleinlaut. »Ich mache das bestimmt wieder gut – versprochen. Und am Wochenende putze ich dein Auto und …«

»Alles gut, Kleiner. Wir reden später. Ich muss jetzt wirklich weitermachen.« Nina beendete Max’ Wortschwall, Ferdi stand mit einem fragenden Gesichtsausdruck vor ihrem Schreibtisch.

In den nächsten Stunden arbeitete sie mit dem aufgeweckten jungen Mann an dem Moodboard für den Wellness-Drink eines großen Getränkeherstellers. Nina war dankbar für seine humorvollen und manchmal doppeldeutigen Kommentare hinsichtlich einzelner Szenen der Collage. Sie lachten und stecken die Köpfe zusammen und kamen immer wieder auf eine noch treffendere Aussage. Erst am frühen Nachmittag erinnerte Ninas knurrender Magen daran, dass es längst Zeit für eine Nahrungsaufnahme war. Sie rief auf Michaels Handy an, um ihm ein Versöhnungs-Essen in seinem Lieblingsrestaurant vorzuschlagen, aber er ging nicht ran. Michi beantwortete nur ungern Anrufe auf dem Handy, daher war dies nichts Ungewöhnliches. Nina überkam das ungute Gefühl, dass ihr Mann aus einem anderen Grund nicht an sein Telefon ging. Sie steckte ein paar Geldscheine in die Tasche ihrer Jeans und rannte los, um in der Snackbar gegenüber wenigstens ein Sandwich zu besorgen.

Im Treppenhaus hörte sie Pierres Stimme, der ein Stockwerk tiefer leise telefonierte. Erschrocken hielt sie inne, denn seine Worte klangen ungewohnt gefühllos und hart und passten überhaupt nicht zu dem sonst so liebenswürdigen Kollegen. Es war eindeutig Pierres Stimme, aber ein ganz anderer Mensch schien dort zu sprechen.

»… nein, du Idiot, der Link funktioniert nicht. Ich kann mich nicht anmelden … natürlich über den Torbrowser, glaubst du, ich bin blöd …« Nina lauschte fassungslos, wie Pierres Stimme lauter wurde: »Ich musste jetzt die Bilder auf CD brennen und hab dir eine Kopie geschickt … steht Kleinkram drauf … das Material ist echt gut … nein, wie versprochen zwischen vier und maximal fünfzehn … hör mal, das kostet mich eine Stange Geld, das Material ist auch nicht mehr mit zwanzig Euro zufrieden. Die wollen alle neue Sneakers oder ein Handy …«

Nina wagte es kaum zu atmen. Vorsichtig schlich sie die Treppe hinab und räusperte sich. Als Pierre sie erblickte, unterbrach er sofort das Gespräch und bedeckte mit der freien Hand den Lautsprecher seines Handys. Ein paar Sekunden standen sie sich gegenüber wie ein altes Ehepaar, das sich gegenseitig mitten in der Nacht vor der geöffneten Kühlschranktür erwischt. Pierres blasses Gesicht wirkte zunächst wie versteinert, dann blitzen seine Augen sie wütend an.

»Nina, ich führe hier gerade ein sehr privates Telefonat. Du willst sicher nicht zuhören. Oder?«

Nina nickte ihm verständnislos zu und stürmte vorbei. Draußen auf dem Parkplatz atmete sie tief durch. Was oder besser wer war denn das? Welches Geheimnis steckte nur in dem Kollegen?

Der Wind hatte die Regenwolken vertrieben und warme Sonnenstrahlen empfingen sie an der belebten Straße, aber Ninas Appetit war vergangen. Selbst die Leute, die ihr auf dem Weg begegneten, wirkten fremd und ihre Blicke vorwurfsvoll. Die Theke des Sandwichladens erschien ihr wie ein Tribunal und die Stimmen um sie herum klangen für sie wie Anklagen.

Nina bezahlte schnell ihre Flasche Orangensaft und rannte fort. Wie paralysiert lief sie durch eine Umgebung, die nichts mehr mit der Welt gemeinsam hatte, die sie zuvor erlebt hatte, alles schien verändert und in einer seltsamen Weise beängstigend zu sein. Sie sehnte sich danach, endlich einen gemütlichen Abend mit Michi zu verbringen und alles wieder so vorzufinden, wie es war. Der Flügel würde repariert und Michi mit ihr in seinem Lieblingsrestaurant etwas essen und bei einer Flasche Wein über seine Pläne reden. Auch wenn die gestrigen Ereignisse und Michis Ankündigung ihre Probleme deutlich gemacht hatten, so gab es doch gemeinsam eine Lösung dafür. Michi hatte möglicherweise nichts dagegen, wenn Max sie kurz begleitete – nur während der Umzugsphase, für ein paar Wochen. Eine Trennung von seinen trinkfreudigen Kumpels würde ihm sicher helfen. Nina drehte um und eilte zurück ins Büro. Es war die perfekte Möglichkeit Michi in ein paar Wochen zu begleiten, ohne ihren Bruder hier allein zu lassen.

Die Bildbearbeitung für Pierres Präsentation gestaltete sich zeitaufwendiger erwartet, denn Ninas Perfektion entging kein einziges Detail. Erst zwei Stunden später speicherte sie die gesamte Mappe und legte ein Exemplar in Pierres Mail-Eingang. Als sie einen Ausdruck der umfangreichen Präsentation auf seinen fast leeren Schreibtisch legen wollte, wich sie erschrocken zurück, denn neben seinem Mac lag eine CD mit der Aufschrift Kleinkram. Das Telefongespräch im Treppenhaus schoss ihr in den Kopf. Doch Pierre, der nicht weit entfernt heftig gestikulierend mit dem Agenturleiter Patrick redete, hatte sie schon entdeckt und kam sofort auf sie zu.

»Nina! Danke, Liebes. Du bist wirklich ein Schatz.« Er verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, aber seine Miene blieb distanziert und aufmerksam.

»Ich … ich wollte dir nur die Mappe für die Hartmann-Präsentation geben.« Ninas Stimme bebte, obwohl sie sich bemühte unbeteiligt zu bleiben.

Pierre schien das zu merken. »Alles okay? Du klingst gerade etwas außer Atem. Vorhin warst du auch ziemlich in Eile?«

Nina schüttelte den Kopf. »Ja, es sind ein paar Sachen liegen geblieben und ich wollte nur schnell zwischendurch etwas Essbares holen.«

Sein durchdringender Blick ließ sie nicht los. »So? Also nur schnell etwas zu essen?«

»Ja, klar.« Nina drehte sich weg. Aber Pierre hielt sie am Arm fest.

»Du … ähm … Nina … du verstehst schon, dass jeder ein Privatleben hat, über das hier nicht geredet werden sollte? Geht dir doch auch so. Oder?«

Nina erschauderte. »Ich … ich mach dann mal wieder weiter.« Damit stürmte sie zurück zu ihrem Schreibtisch. Auf dem Weg prallte sie mit Sandra zusammen, die im vierten Semester Kommunikationswissenschaft studierte und ein Praktikum in der Agentur absolvierte.

»Hey! Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als ob du gerade dem Teufel höchstpersönlich begegnet wärst.«

Nina blieb erschrocken stehen. »Tut mir leid, Sandra. Ich war wohl gerade etwas abwesend.«

Sandra rieb sich lächelnd die Schulter. »Na, dafür warst du körperlich ganz schön anwesend. Alles okay?«

»Ja, schon. Ich brauch vielleicht einfach mal ’ne Pause.«

»Klingt doch gut. Wollen wir zusammen im ›Spielplatz‹ einen Versöhnungstee trinken?«

Der ›Spielplatz‹ war eine Art Aufenthaltsbereich für die Mitarbeiter der Agentur mit Loungemöbeln, einem großen amerikanischen Kühlschrank und dem beliebten Tischkicker. Nina schüttelte den Kopf. »Nee, du. Ein anderes Mal sicher gern. Aber jetzt hab ich noch einiges zu erledigen und wollte heute mal nicht zu spät hier raus.«

Sie eilte zu ihrem Arbeitsplatz zurück und hoffte, dass Pierre keine Änderungswünsche hinsichtlich der Präsentation hatte. Nur keinen Kontakt mehr, keine unangenehmen Fragen und keine fragwürdigen Blicke von ihm.

Die restlichen Stunden des Nachmittags ging sie ihm aus dem Weg. Nicht noch mehr Probleme und außerdem hatte sie Pierres Privatleben wirklich nicht zu interessieren. Aber irgendetwas stimmte hier nicht.

Selbst auf dem Nachhauseweg drehten sich ihre Gedanken um den Kollegen. Was war mit Pierre nur los und warum benahm er sich so merkwürdig?

Ich darf nichts sagen.

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