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1. Blume am Arno

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„Über die Grenzen

trägt uns ein Lied

mit sich fort“

P. Pollina/K. Wecker


für Loulou

Taramm-taramm.

Wackelig auf den weichen Polstern der Sitze stehend friemeln wir an unseren Rucksäcken herum, die oben auf den silberfarbenen Gestellen liegen, versuchen wir, unsere Schlafsäcke herauszuholen, ohne dass das, was sich noch im Rucksack befindet, dabei zwischen den Stäben des Gestells hindurch nach unten fällt. Sina und Olaf haben sogar ein Kopfkissen dabei, staune ich, eins für zwei. Schon legen die beiden ihre Köpfe darauf, kuscheln sich eng aneinander, tuscheln so neben mir. Mit so etwas habe ich rechnen müssen, sage ich mir, bin ich doch alleine mit einem Pärchen unterwegs und drehe mich um zur anderen Seite.

Taramm-taramm rollt der Zug in die Nacht hinein.

Zur Mitte des Abteils hin aneinandergezogen haben sich jeweils zwei der insgesamt vier einander gegenüberliegenden Sitze zu einem Liegeplatz verwandelt, einem Liegeplatz mitdrei Ritzen. Zwei entstehen jeweils dort, wo der bewegliche Teil der Rückenlehne eines Sitzes mit der Sitzfläche zusammenkommt, eine weitere dort, wo die aneinandergezogenen Sitzflächen in der Mitte aufeinandertreffen. Letztere kann etwas stören, spüre ich, aber zu Dritt haben wir auf dieser Liegenfläche auf jeden Fall ausreichend Platz, um hinter der Glasfront, die uns vom Korridor des Zuges trennt, in Ruhe schlafen zu können, immer vorausgesetzt, es kommt keiner mehr, steigt niemand mehr an den wenigen Haltestellen unterwegs dazu, der einen Sitzplatz in unserem Abteil haben will oder womöglich sogar einen reserviert hat. Wunderbare Schlaflandschaft der Deutschen Bundesbahn!

Taramm-taramm

Das ist ein beruhigendes Geräusch. Nur leicht bewegen sich die schweren, dunkelroten Vorhänge in der Zugluft, die durch die Öffnung des Fensters hineinströmt. Fenster, die sich bis ganz nach unten schieben lassen, wenn es heiß ist, so wie jetzt, wenn die Luft so stickig ist, dass man kaum atmen kann und einem der unverwechselbare Geruch der über Jahre besessenen, belegten und immer wieder gereinigten Sitze aus dunkelrotem Kunstleder in die Nase steigt, so wie heute in diesem Nachtzug auf seiner Fahrt von München nach Florenz.

"Attenzione! Attenzione! Il treno sul binario cinque partirà in due minuti. Attenzione! Attenzione!", hallt die Lautsprecherdurchsage durch die lange, nach hinten hin offene Halle des florentiner Kopfbahnhofes und meine Freude ist so groß. Jetzt erst einmal den Zeltplatz suchen, der laut Olaf ja relativ zentral gelegen sein soll, das Gepäck loswerden und dann die Stadt erkunden. „Zeltplatz?“, schaut meine Kollegin mich mit unschuldigen Augen an, als hätten wir nicht vor der Reise schon einmal darüber gesprochen, und Olaf, ihr Liebster verkündet: „Wir haben gar kein Zelt mitgenommen.“- „Isomatten, Schlafsäcke, sogar ein Kopfkissen habt ihr dabei! Aber kein Zelt?“ Ungläubig schaue ich an dem riesigen Rucksack hoch und runter, der weit über den Kopf des kleinen Olafs hinausragt. „War uns zu viel schlussendlich“, schaut er mir mit seinen hellgrünen Augen ganz unbeeindruckt ins Gesicht. „Ich mag das eigentlich eh nicht so gerne mit all den Insekten im Zelt und überall in den Duschen und so“, erklärt Sina mit jetzt zum ersten Mal, während sie ihre schulterlangen. schwarzen Haare hinter ihre Ohren streicht, und plötzlich begreife ich, dass sie nie vorgehabt hat, auf einen Campingplatz zu gehen. Schon beginne ich, mir ernsthaft Sorgen um mein Reisebudget zu machen. Anders als Sina mit ihren ebenso wohlhabenden wie spendablen Eltern und Olaf, der schon ausgelernt hat, muss ich ja sehr genau darauf achten, wie viel und für was ich das wenige, was ich habe, aus den Händen gebe, zumindest wenn ich nicht irgendwann irgendwo in diesem fremden Land mittellos und ohne Rückfahrtkarte enden will. „Wir können ja auch hier am Bahnhof schlafen“, erwähnt Sinas blonder Freund nicht zum ersten Mal diese Möglichkeit, von der er irgendwo gelesen hat. „Für mich auch kein Problem!“, schaue ich mich in der langen Ankunftshalle des Kopfbahnhofes um, die nicht sonderlich hoch ist, da ja keine Züge durch sie hindurchfahren können. „Wenn das denn wirklich erlaubt ist.“- „Und wenn uns dann jemand überfällt?“ studieren Sinas schöne Augen die quadratischen Marmorplatten, die sich rot und weiß unter unseren Füßen aneinanderreihen. Oh je, so ängstlich habe ich Sina bisher gar nicht kennen gelernt! Selbstbewusst, ja mutig schien sie mir zu sein. Kein Wunder aber auch, hatte ich mir gedacht, wenn eine Frau so schöne schwarze Augen und Haare hat und einen so schönen hellbraunen Teint. „Wollen wir uns nicht doch lieber ein kleines Hotel suchen?“, bettelt meine schöne Kollegin nun geradezu, wobei sie ihre Worte ausschließlich an Olaf richtet, als wäre ich gar nicht präsent. „Wenn wir eins für fünfundzwanzig Mark finden, bin ich einverstanden“, stelle ich nicht zum ersten Mal klar, „Ansonsten kann ich mir das einfach nicht leisten.“ Sina und Olaf, dunkel und hell, stehen unentschlossen da. Weit gekommen sind wir ja noch nicht, seit der Ankunft unseres Zuges hier in der „Blume“ am Arno, muss ich ein wenig schmunzeln und schlage vor, dass wir erst einmal versuchen, unser Gepäck loszuwerden. Waschen möchte Sina sich aber zuvor. Das hätten wir auf dem Campingplatz machen können, denke ich noch, als ich den beiden zu den Bahnhofstoiletten folge. In den geräumigen, von den Toiletten abgetrennten Waschräumen, führen Sina und ich eine Katzenwäsche durch. Sogar duschen könnten wir hier, stellen wir fest, und dass die Benutzung dieser Duschen das einzige ist, wofür man hier bezahlen muss auch.

Das internationale Symbol mit dem Koffer darauf führt uns dann endlich zu einem sich scheinbar endlos weit in die Tiefe erstreckenden, fensterlosem Raum, der durch zwei verglaste Schwingtüren von der Halle getrennt ist. Freundlich nimmt der Bahnhofsmitarbeiter, der hier hinter einer langen Theke stehen, unsere Rucksäcke entgegen, beklebt sie mit einem Stück Papier, auf dem eine Nummer steht, reicht uns ein kleines Stück Pappe, auf dem dieselbe Nummer steht und verstaut unser Gepäck in den unzähligen Regalen, die hinter ihm hoch bis zur Decke ragen.

Endlich treten wir schließlich hinaus aus dem Bahnhofsgewusel hinein in das warme Sonnenlicht. Endlich Florenz denke ich und sehe, wie Olaf seinen Reiseführer aufschlägt. Während wir die breite Straße überqueren, auf der sich unzählige Vehikel um das Bahnhofsgebäude bewegen, beginnt er genau an der Stelle zu lesen, an der die erste Markierung, ein abgerissenes Stück kariertes Papier, zwischen zwei Seiten klemmt. Sina hat sich bei ihm eingehängt, umklammert mit beiden Händen fest seinen Arm. „Der erste Platz, den man betritt, geht man vom Bahnhof aus über die Straße in Richtung des Flusses Arno, ist der Piazza Santa Maria Novella, der sich vor der gleichnamigen Klosteranlage aus dem 13. Jahrhundert erstreckt. Nach ihr ist auch der Florentiner Bahnhof benannt“, zitiert ihr Freund im Gehen seinen Führer. „Meinst du, dass es das hier ist, das Kloster?“, blicken Sinas schöne Augen auf das Gebäude hinter der mit schwarzen und weißen Marmor verkleidete Mauer, welche die zum Platz hin breiter werdende Gasse, auf der nur Fußgänger erlaubt sind, rechts von uns begrenzt. „Ja, das hier sind die Grabnischen der Klostermauer“, höre ich Olaf sagen, nachdem er noch einmal seinen Führer konsultiert hat. „Die mit Marmor verzierten Spitzbögen hier, das sind wohl die einzelnen Gräber.“

Kaum, dass wir ihn betreten, verliebe ich mich schon in ihn, diesen großen, weiten Platz, der von hier aus gesehen der erste im historischen Zentrum ist, dem historischen Zentrum dieser Stadt in der Toskana, welches man erst im vergangenen Jahr zum Weltkulturerbe erklärt hat. Beinahe still liegt er da, dieser unbebaute Ort mit seinen noch unbesetzte Bänken zwischen den liebevoll angelegten, kleinen Beeten in seiner Mitte und beinahe auch noch menschenleer ist er zu dieser frühen Stunde, sieht man von den wenigen, die zügig über ihn hinweg streben, unbeirrt, als wären sie auf dem Weg zur Arbeit, einmal ab. „Siehst du?“, blickt Olaf seine Freundin an, die noch immer an seinem Arm hängt. „Das ist die Kirche des Klosters!“ Schön, davor einmal Platz zu nehmen und sich die imposante Fassade genau anzusehen, finde ich, mit Blick auf die rechteckigen Fensterrahmen, die aus schwarzem und weißem Marmor nachgestellt worden sind und die oben in runden Bögen auslaufen. Schwarz und weiß reihen sich auch darum herum die vielen Marmorplatten aneinander. Nur um das Eingangsportal und an den Seiten an den Säulen wurde roter Marmor gewählt und oben, wo durch die Dachschrägen ein Dreieck entsteht hat man aus hellen Steinen eine Sonne eingelegt. Freundlich schaut ihr Gesicht zu uns hinunter, eingerahmt von ihren schlangenförmigen Strahlen. „Marmor“, kann Olaf seinem Reiseführer entnehmen, „wird in Carrara in der Toskana schon seit dem zweiten Jahrhundert vor Christi abgebaut.“

„Lass uns da doch mal nach einem Zimmer fragen“, schlägt Sina mit Blick auf das fünfstöckige Gebäude auf der anderen Seite vor, auf dessen Fassade „Hotele“ in großen Lettern geschrieben steht. An der Rezeption redet Olaf gleich auf Englisch los, obwohl er doch weiß, dass ich ein wenig Italienisch gelernt habe. Er habe nur noch zwei Doppelzimmer frei, erklärt uns der Hotelangestellte. Sechzig Mark, errechnen wir schnell, soll ein jedes kosten. Keine Wunder bei dieser exponierten Lag! Während Sina und Olaf ihr Namen und Adressen aufschreiben, beginne ich mich zu ärgern. Darüber, dass wir nicht wie verabredet alle auf einem Campingplatz schlafen werden, darüber, dass Olaf die Dinge in die Hand nimmt, ohne zu fragen, ob das für mich in Ordnung ist, aber vor allem auch darüber, dass ich die Kosten für eine Übernachtung immer alleine werde tragen müssen.

Der Domus Dei, auf den wir uns durch eine Gasse zubewegen, ist kaum auszumachen, so nah stehen die anstehenden Gebäude um ihn herum. „Die Kathedrale Santa Maria del Fiore, das Wahrzeichen der Stadt“, sagt Olaf, sagt sein Reiseführer. Sina und Olaf neben mir geben die perfekten Touristen ab. Ich aber beginne mich zu wundern. Wollen die beiden auf diese Weise wirklich für den Rest des Tages diese Stadt erkunden? Wollen sie tatsächlich nur von einer Sehenswürdigkeit zur anderen eilen, ohne einmal innezuhalten, das Leben in dieser Stadt ein wenig in sich aufzunehmen? Und warum haben sie mir vorgeschlagen, mit mir zusammen zu reisen, wo sie sich doch selbst schon genug zu sein scheinen, frage ich mich, als wir auf den scheinbar von allen Seiten mit weißen, roten, grünen und schwarzen Marmor verkleideten Prachtbau zugehen, und ich Olaf „mit einem Längsschiff von über hundertundfünfzig Metern Länge, das viertlängste Kirchenschiff Europas, dessen eigentliches Wunder seine Kuppel mit ihren fünfundvierzig Metern Durchmesser ist“ sagen höre. All das hat er schon einmal gelesen, wird mir klar, als er noch zu Hause war. Und er hat dabei, wie ich erkennen kann, das Wesentliche unterstrichen. Oder zumindest das, was er für das Wesentliche hält. Das, was er Sina zeigen, was er ihr unbedingt vorlesen will. Sogar die Route, auf der wir uns durch die Stadt bewegen sollen, hat er offensichtlich schon auf dem Stadtplan seines Reiseführers festgelegt, und in diesem Moment begreife ich, dass zwischen den Vorstellungen, die Sina und Olaf und ich vom Reisen haben, unendliche Welten liegen. "Ich denke, es ist besser, wenn ich ab jetzt alleine weitergehe", höre ich mich selbst da auch schon sagen, und muss mich einmal mehr wundern, denn Olaf und Sina stehen vor mir wie vor den Kopf geschlagen. „Wir hätten dich schon noch zum Campingplatz gebracht“, erklärt Olaf und „Willst du denn nicht in die Uffizien gehen?“, kann Sina mich nicht verstehen. „Vielleicht, Sina, vielleicht auch nicht. Jetzt aber möchte ich erst einmal diese Stadt sehen, herumgehen, einfach mal schauen, was kommt. Verstehst du das?“ Augenscheinlich aber versteht Sina es nicht. Wir konnten wohl auch beide nicht ahnen, dass wir so verschieden sind. „Und wenn wir uns später noch mal treffen?“, scheint Olaf sich auch ein bisschen für mich verantwortlich zu fühlen und mit Blick in sein gutmütiges Gesicht, seine ernsthaft besorgten Augen, ergebe ich mich. „OK. Heute Abend um sechs am Bahnhof!“, fällt mir nichts Besseres ein und ich spüre, wie sehr ich mir wünsche, die beiden mögen jetzt zufrieden sein. „Bei der Gepäckausgabe?“, versucht er wohl meinen Gedanken zu folgen. „Genau“, bestätige ich den beiden, „Und dann können wir ja vielleicht auch noch etwas zusammen machen“, klammert Sina sich noch fester an Olafs Arm. „Ja, mal schauen!“, hebe ich meine Hand zum Gruß und marschiere an Herrn Brunelleschi vorbei, der hier in Stein gemeißelt mit seinem Zirkel in der Hand auf seinem Hocker sitzt und auf die, wie ich nun von Olaf weiß, von ihm erdachte Kuppel blickt dort oben auf dem Dom.

Als ich weiter in Richtung Arno gehe, fühle ich mich plötzlich frei. Frei und unabhängig von jeglichen Plänen lasse ich mich durch die Gassen treiben, schaue mir die riesigen Skulpturen an, die auf einem großen Platz herumstehen, bestaune eine Kopie von Michelangelos David und beobachte die vielen Straßenkünstler, die hinter ihren kleinen Ausstellungstischchen und -regalen, die vor ihnen Sitzenden porträtieren und die Silhouette dieser schönen Stadt immer wieder aus den verschiedensten Perspektiven malen.

Auf einmal legt sich die Nacht über Florenz wie ein feines, dunkles Tuch und als hätten sie sich verabredet zum Einbruch der Dunkelheit, erscheinen plötzlich überall bunte Gestalten: Clowns, Zauberer, Straßenmusikanten. Schon haben sich die ersten Menschen im Halbkreis um sie formiert. Ein jeder möchte möglichst viel von dem, was ihm nun präsentiert wird, mit den Augen verfolgen können. Der eine jongliert, erst nur mit bunten Bällen, dann bringt er mit dem Fuß einen Kegel nach dem anderen in die fliegenden Bälle hinein. Der andere steht still, ganz still vor einer Wand. Hinter der dicken Schicht Farbe auf seinem Gesicht ist kaum mehr eine Mimik zu erkennen. Nur seine Augen bewegen sich, folgen den Menschen, die gehen. Bis diese Augen plötzlich ein Kind fixieren, es anstarren mit bösem Blick. Das Kind, ängstlich geworden ob der starrenden Augen, greift schnell nach Mutters Hand. Da löst sich die Gestalt plötzlich aus ihrer Starre und greift nach jemandem, der gerade erst an ihm vorbeigegangen ist. Einem, der sich darüber aufgeregt hat, dass der mit der Maske das Kind so erschreckt hat vielleicht. Von hinten angetippt, bleibt dieser so unverhofft Berührte erschrocken stehen, starrt nun seinerseits den maskierten Tipper an, während dieser ihm freundlich lächelnd die ausgestreckte Hand zum Drücken hinhält. Überall stehen sie nun, um die Leute zu amüsieren, stets den Hut, die Schachtel oder ähnliches neben sich, Behältnisse für ihren Lohn.

Auf einem kleinen Platz, der nicht mehr weit vom Bahnhof entfernt sein kann, steht ein junger Mann mit halblangen, dunklen Haaren auf einem winzigen Platz. An einem bunten Gurt schräg über seinen Schultern hängt eine Gitarre vor seinen Bauch. Den Koffer, in dem er sein Instrument transportieren kann, hat er vor seine Füße gelegt, den Deckel nicht zugeklappt. Unentschlossen schaue ich auf die vier, fünf jungen Leute, die sich vor dem Koffer im Schneidersitz auf den Boden niedergelassen haben. Der Straßenmusikant unterhält sich so angeregt mit einem von ihnen, dass er vergessen zu haben scheint, wozu er das Instrument in seinen Händen hält. Ich bleibe kurz stehen, warte, aber da nichts passiert, lasse ich mich von der Menschenmenge weiterschieben. Erst als ich schon in der angrenzenden Gasse bin, höre ich doch noch den Klang der Seiten. Gezupfte Töne, die schon kaum mehr wahrnehmbar sind durch die Geräuschkulisse, die mich umgibt. Sanft ertönt nun auch die Stimme des Musikanten mit einem mir bekannt vorkommenden, französischen Lied, wie ein zarter Ruf, dass ich bleiben möge. Ein wenig schüchtern lächelt mich der junge Mann mit der sanften Stimme an, als ich mich vor ihn zu den anderen setze. Die aufgerollte Isomatte, in welche ich meinen Schlafsack gestopft habe, lege ich neben mich. Auch der Straßenmusiker scheint nicht hier zu wohnen, spekuliere ich beim Anblick des kleinen Rucksacks, der hinter ihm an der Hauswand lehnt. Die zwei Mädchen rechts neben mir singen leise mit. Drei Späthippies haben sich mit dem Rücken an die Hauswand an der Seite gelehnt, wippen mit ihren Füßen zum Rhythmus hin und her. Sie machen den Eindruck, als würden sie hier leben, als wäre das ihr Stammplatz hier, ihr Draußen-Zuhause.

Mir fallen die Fotografien von den Zerstörungen ein, welche im II. Weltkrieg und bei dem Rückzug der Deutschen Wehrmacht 1944 in dieser schönen Stadt angerichtet worden waren. Ich hatte sie auf meinem Weg durch die Stadt gesehen. Schwarz-weiß sehe ich die Bilder von den Brücken vor mir, die in unzählige Teile gebrochen im Arno liegen und das Foto von dem Glockenturm, der einzig unversehrt in mitten von Trümmern steht, als hätte Gott seine Finger im Spiel gehabt. Wer hatte alle diese Fotographien wohl gemacht? Und wer war auf die Idee gekommen, sie in Passepartouts aus fester Pappe zu rahmen und sie den Touristen zwischen lauter alten Büchern zum Verkauf anzubieten? Diese Fotos waren mir wie Mahnmale vorgekommen. Mahnmale gegen den Faschismus, den Krieg, die Judenverfolgung. Mahnmale gegen all den Wahnsinn, den Menschen angerichtet haben vor nunmehr fast vierzig Jahren.

Gedankenverloren lausche ich der Stimme, die schon ein weiteres Lied angestimmt hat. Straßenmusiker gibt es ja viele. Dieser hier aber, finde ich, hat nicht nur eine selten schöne Stimme, er beherrscht sie auch wirklich perfekt. Kräftiger erklingt diese nun bei dem zweiten Lied, das er anstimmt, lauter. Das muss auch so sein, weil er die Seiten jetzt schlägt. Hinter uns bleiben die Menschen stehen, bilden eine schützende Wand um uns herum. Der letzte Akkord ist kaum verklungen, da applaudieren sie schon. Und einige, die weiter wollen, versuchen, sich zwischen uns Sitzenden hindurchzudrängeln, damit sie ein paar Münzen in den offenstehenden Gitarrenkoffer unsere Musikanten werfen können.

Der Platz zu eng, zu sehr Durchgangsort, als dass hier ein großes Publikum zusammenkommen könnte. Schade, fühle ich, denn dieser Musiker hätte ein paar mehr Zuhörer sehr wohl verdient. Schade auch, dass er hier in die Ecke gestellt nicht wie auf anderen Plätzen davon profitieren kann, dass die Töne von den mehrstöckigen Häuserfronten zurückgeworfen werden.

Von unten blicke ich in sein singendes Gesicht. Sanfte Züge hat der dunkelhaarige Mann, den ich mal auf um die zwanzig schätze. Und große, große Augen, wenn er mal seinen Kopf zu uns herunterneigt. Endlos scheint sein Repertoire zu sein, als hätte er sämtliche „Liederkisten“ komplett auswendig gelernt. Ob es die wohl auch in Italien gibt? Diese auf Umweltschutzpapier gedruckten Heftchen im DIN A5 Format, in denen sich stets eine große Auswahl an Liedern findet, handgeschrieben oft die Noten, die Texte dazu mit einer Schreibmaschine darunter getippt? „All, we are saying“, stimmen plötzlich viele Umstehende in den Refrain mit ein, ohne dass ich überhaupt mitbekommen habe, dass er dieses Stück gerade spielt. „Is give peace a chance!” Es klingt immer beeindruckend, wenn mehrere Menschen gemeinsam ihre Stimmen erheben, besonders aber an einem Ort draußen, der nicht explizit bestimmt ist dafür. Der junge Mann mit der Gitarre hat sie wohl gar nicht dazu aufgefordert, aber bei solchen Songs ergibt es sich eben. Mein Blick schweift durch die Menge hinauf zu den Menschen, die hinter mir stehen. Weiter oben sind in dem dunklen Himmel tatsächlich ein paar Sterne zu sehen. Ich beginne, leise mitzusingen, wann immer ich kann, wann immer ich den Text beherrsche.

Ein untersetzter Typ mit scheinbar endlos langen, dunklen Haaren, die er offen trägt und die, wenn er sitzt, den Boden berühren, spricht die, die um ihn herumsitzen, an, hält ihnen die offene Hand entgegen, wohl, damit sie etwas Geld hineinlegen. „For wine“, sehe ich das dunkelblonde Mädchen neben mir sagen, das schon die ganze Zeit mit ihren schmalen Fingern über die Hand und den Arm des Jungen streichelt, welcher sie liebevoll im Arm hält. Schon ist der Langhaarige aufgestanden und seine Hand kommt ganz nah an mich heran. Ich gebe ihm sämtliche Münzen, die ich in meinem Portemonnaie finden kann. Dafür bedankt sich der Langhaarige mit einem liebevollen Lächeln, bevor er seine Hand weiterwandern lässt von einem zum anderen. Ich schaue ihm nach, wie er in der gegenüberliegenden Gasse verschwindet. Gerade geschnitten ist seine Mähne, das kann man nun sehen, und sehr äußerst gepflegt.

Unser Musiker hat Texte in allen möglichen Sprachen im Kopf. Er kann sie singen, Strophe für Strophe, ohne sich zu verhaspeln, ohne dass es falsch klingt in meinen Ohren. Ob sie wohl braun sind diese großen Augen? Unmöglich bei diesen Lichtverhältnissen, das zu erkennen.

Vorsichtig zwängt sich der junge Mann mit den endlos langen Haaren durch die umherstehende Zuschauermenge an seinen Platz zurück, eine Flasche Rotwein in jeder Hand. Wo er wohl denjenigen gefunden hat, der ihm die Korken aus den Flaschen gezogen hat? Ein oder zwei Schlucke, dann wird er weiter gereicht, der Rotwein in den Flaschen, die keinen Korken mehr haben. Ich schaue in die Gesichter der jungen Leute, die um mich herum sitzen. Zwanzig sind wir hier wohl alle zusammen, von den Späthippies an der Wand mal abgesehen. Die sind gerade im Begriff, einen Joint zu bauen und amüsieren sich köstlich über etwas, was dabei scheinbar schief gegangen ist. Immer kühler wird die Luft, immer angenehmer. Auch das Gedränge hinter uns verringert sich langsam. Die Menge hinter uns löst sich auf, als auch der Straßenmusiker sich auf den Boden setzt und aufhört zu spielen, weil einer ihm eine der beiden Flaschen mit dem Rotwein hinhält.

So gut unser Musiker die vielen Sprachen singen kann, so schlecht spricht er sie aber wohl. Mit dem Englischen, gibt er uns lächelnd zu verstehen, sieht es besonders schlecht aus. Er nimmt dankend ein paar Schlucke von dem Wein, wechselt dazwischen ein paar Worte mit dem Mann mit den langen Haaren, der die Getränke besorgt hat und aus Spanien zu kommen scheint. Die Augen des Cantante leuchten, als er lacht und erneut an die Seiten seiner Gitarre greift. Aber er bleibt sitzen, als er das folgende Lied anstimmt. Nun ist er einer von uns geworden, empfinde ich, von denen, die hier auf den Boden sitzen aus aller Herren Länder und die Zeit vergessen hier durch seine Musik. Die Klänge der Gitarre, der Gesang, sie entführen mich in die Welt meiner Gedanken. Ich beginne zu träumen und spüre, wie müde ich bin. Die vielen Eindrücke, die ich gesammelt habe, während ich kreuz und quer durch die Stadt gelaufen bin, müssen erst noch verarbeitet werden, aber das Gefühl, in einem traumhaft schönen Ort zu sein, eingenommen von einer wunderbaren nächtlichen Stimmung, das wird sicher bleiben.

Ach, was gibt es doch für traurige italienische Lieder, fällt mir auf, als der Cantante eines anstimmt, welches sich die drei Hippies an der Wand inständig von ihm gewünscht haben. So wehmütig und voller Verlangen, das es mir fast ungeeignet scheint, dieses Lied, für einen öffentlichen Auftritt auf der Straße, aber wir sind ja jetzt auch unter uns.

Es sind wohl die letzten Gäste, die dem Kellner des Restaurants schräg gegenüber „Buona notte!“ wünschen. Dieser nutzt die Gelegenheit vor dem Restaurant eine Zigarette zu rauchen und lauscht dabei dem Gesang unseres Sängers. „Bravo!“, hören wir ihn rufen, bevor er wieder in das Restaurant hineingeht. Nur ein paar Minuten später aber erscheint er erneut und hält eine Espressotasse in der Hand. Anerkennend nickt er unserem Sänger zu, als er die kleine Tasse mit der Untertasse vorsichtig vor ihm auf dem Boden abstellt. Während er sich dann anschickt, die Tische und Stühle vor dem Restaurant so geräuschlos wie möglich zusammenzuräumen und dabei leise mitsingt, als das nächste Lied auf Italienisch ertönt, wird es zunehmend stiller in den Gassen um uns herum. Schon löscht der Kellner auch das Licht im Gastraum, schließt hörbar die Eingangstür ab und verschwindet „Buona notte!“ in der Nacht. Aufbruchsstimmung macht sich breit. Die drei Späthippies bedanken sich beim Cantante mit einer Verbeugung und schlendern davon. Der Musikant legt seine Gitarre in den Koffer, der nun schon seit einiger Zeit, ohne dass noch Münzen darin gelandet wären, an seiner Seite liegt.

„Weiß einer von euch einen Platz zum Schlafen?“, wendet er sich an einen der jungen Männer, der gerade aufgestanden ist, an das Pärchen, das den Abend über Arm in Arm neben mir gesessen hat, und an mich. Ich kann nur mit den Schultern zucken. Auch der Mann hat keine Idee und das Pärchen versteht den Cantante offensichtlich nicht. Ich gebe seine Frage auf Englisch an sie weiter. Sie hätten nicht weit von hier ein billiges Zimmer gefunden, erklärt das Mädchen mit den schmalen Fingern und dass es dort wohl keinen Nachtportier gibt, der dem Sänger jetzt noch ein Zimmer vermieten könnte, ihr Freund. Unsicher schaut unser Musiker von einem zum anderen, als hätte auch er die Zeit vergessen, als hätte auch er nicht daran gedacht, sich einen Platz zum Schlafen zu suchen, bevor er mit seiner Vorstellung begonnen hat. „Ich gehe zum Bahnhof“, lächle ich ihn verlegen an, überzeugt davon, dass man dort schlafen kann. „Bahnhof?“, kann er wohl kaum glauben und schaut unentschlossen erneut zu den anderen. Achselzuckend blicke ich in sein weiches Gesicht, wende mich um und gehe in die Nacht hinein. Etwas Besseres als den Bahnhof weiß ich halt nicht. Drei, vier Schritte habe ich getan, da sehe ich ihn plötzlich neben mir gehen, mit seinem kleinen Rucksack auf den Schultern, den Koffer mit der Gitarre in der Hand. Nun will er also doch mit, denke ich und weiß nicht, was ich sagen soll. Auch ihm fehlen wohl die passenden Worte und so gehen wir schweigend durch die fast menschenleeren Gassen auf das Gebäude des Bahnhofs zu. Es sind viele Menschen, die dort bereits in seiner Halle liegen, an der langen Seite gegenüber den Gleisen vor der Wand, vor den heruntergelassenen Gittern vor den Läden und vor den geschlossenen Durchgangstüren. Und auch um die Ecke herum, dort wo es zu den zurückversetzten Gleisen und den Toiletten geht, haben sich Reisende hingelegt. Die Rucksäcke vor oder neben sich schlafen die meisten schon oder haben sich zumindest eingekuschelt in ihren Decken und Schlafsäcken. Erleichtert bin ich, dass wir hier wirklich bleiben können und erleichtert, wenn auch ein wenig schüchtern, lächelt auch das Gesicht des Straßenmusikanten mich an. Gemeinsam rollen wir unsere Matten aus, dicht nebeneinander, dort wo eben noch Platz ist zwischen all den anderen für uns beide und seine Gitarre. „Buona notte!“, wünscht er, kaum, dass wir liegen und schaut mich kurz noch einmal an, bevor er sich umdreht zu seinem Instrument. Grün sind seine Augen. Dunkelgrün.

Ein Hüsteln hallt durch das hohe, halboffene Gebäude. Weiter hinten schnarcht jemand laut. Die Züge, die noch im Bahnhof stehen, sie werden die Nacht über bleiben. Ein kühler Windhauch weht von den Gleisen her an ihnen vorbei bis zu uns hin. Ich ziehe den Schlafsack bis hoch an die Nase, höre noch einmal die schöne Stimme des Mannes neben mir, die singt und schlummere selig ein.


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