Читать книгу Nächstes Treffen Adria - Johanna Kemme - Страница 6
4 Südwärts
Оглавление„Re-bel – Re-bel“ scheppert es aus den Autoboxen der roten Ente, die unweit vor München rechts die Ausfahrt auf die Autobahnraststätte nimmt. Endlich, denkt Lena. Endlich! Sie hat nichts gegen die Musik von Bowie. Im Gegenteil! Spätestens mit seinem Heldenlied hatte sich der britische Musiker auch in ihr Herz gesungen. Man konnte sich so wunderbar identifizieren mit diesen Helden und mit den sich Küssenden in diesem Song, fand sie. Man begann zu träumen von sich selbst und dem, der nun mal eben gerade das eigene Herz bewegte und konnte so selbst zur Heldin werden. Bis das mit den Schüssen kam. Das brachte sie dann immer wieder zurück in das Jetzt und Hier. Zurück an den Ort, an dem dieser Rocksong spielt. Denn diese Helden, sie küssen sich unweit der Mauer. Dieser Mauer, die einen Teil Berlins zu einer Insel macht. Einer Insel umgeben von einer Wand aus Beton und Wachtürmen, ganz gleich, in welche Richtung man sich auch dreht. Dahinter der Osten, das andere Deutschland, das unzugänglich ist für sie und die meisten anderen, sieht man von dem Stück Autobahn, auf welchem man durch dieses Deutschland hindurch direkt nach Westberlin fahren kann, mal ab. Und dort auf dieser Transit-Strecke, kam Lena mit Bowie im Ohr in der Ente in den Sinn, während sie auf die Landschaft schaute, die an ihnen vorüberzog, hatte man stets dieses seltsame, ja bedrückende Gefühl. Einfach, weil man nur zu genau wusste, dass man beobachtet wurde, die gesamte öde Strecke lang. Überall konnte man sie in ihren Trabis und Wartburgs in der Landschaft stehen sehen, diese Volkspolizisten, kurz Vopos genannt, die tagein und tagaus nur darauf lauerten, die Wessis auf ihrem Weg von oder nach West-Berlin wegen eines Regelverstoßes zu belangen, Devisen einzusammeln, Macht zu demonstrieren. Da brauchte man gar nicht verbotenerweise anzuhalten, um vielleicht einem dringenden Bedürfnis nachzugeben oder nur ein wenig schneller als die erlaubten einhundert Stundenkilometer zu fahren. Sie kamen schon, hatte man die Musik zu laut aufgedreht, so laut, wie gerade die von David Bowie hier in der Ente spielt. „Wir sind dann wir“, singt er in seinem Heldenlied, „für diesen Tag.“ Ach was! Er singt es nicht! Er schreit es! Laut und kraftvoll ruft seine Stimme es in die Welt hinaus und sie ruft es in eben der Sprache, die gesprochen wird, dort wo diese Mauer steht, zu beiden Seiten von ihr. Ja, und eben so hatte der Mann mit den verschiedenfarbigen Augen sich auch in Lenas Herz gesungen. Fünfundvierzig Minuten seiner Musik auf der einen und beinahe weitere fünfundvierzig auf der anderen Seite aber waren echt mehr als genug. Wer war denn nur auf diese bekloppte Idee gekommen, fragte Lena sich, sämtliche Scheiben des Musikers und seiner Band hintereinander weg auf eine Kassette aufzunehmen?
„Und ihr wollt durch Italien?“, hatte Frank, Fahrer und Besitzer der Ente mit den scheppernden Boxen, seine Mitfahrer auf Zeit kritisch angesehen. „Ja, warum denn nicht?“, hatte Rainer, der vorne neben Frank saß, ganz unbesorgt zurückgegeben. „Ihr habt aber schon gehört, dass die Maffia dort gestern grad wieder drei Polizisten erschossen hat. Einfach so! Auf offener Straße!“, erklärte Frank dann zu Lenas und Rainers Erstaunen. „Nein, nichts gehört!“, war Rainer einfach nicht klar, was ihr Fahrer ihnen sagen wollte. „Aber das wird ja wohl auch auf Sizilien gewesen sein oder irgendwo bei Neapel, denk ich mal. Und wir wollen ja zur anderen Seite hin“, warf er daher einen fragenden Blick aus seinen graublauen Augen nach hinten zu Lena. „Ja, schon! Aber das kam doch überall in den Nachrichten, im Fernsehen“, ließ ihr Fahrer nicht locker. - „Im Fernsehen?“, gab Rainer zurück, „So `n Ding ham` wir bei uns im Haus ja gar nicht.“ - „Radio? Zeitungen vielleicht?“, blickte Frank ihn herausfordernd an und Rainer schwante plötzlich, worum es ihrem Fahrer wirklich ging. Er hatte sich ihnen als Politikstudent vorgestellt. Politikwissenschaften im sechsten Semester. Wer so lange durchhielt, davon war Rainer überzeugt, hatte wirklich Gefallen an seinem Studium gefunden. Der Kram mit der Maffia, er sollte keine Warnung sein, begriff Rainer nun. Dieser Frank wollte einfach nur herauskriegen, wie informiert sie waren. Lena, auf der Rückbank eingeklemmt zwischen Taschen und Rucksäcken, sah, wie Rainer sich mit den Fingern seiner linken Hand langsam durch seine schulterlangen, straßenköterblonden Haare strich. Das tat er immer, wenn er unsicher war, ihm nichts mehr einfiel, was er hätte sagen können. „Meinst du, wir hätten lieber durch die Sozialistische Republik Jugoslawien fahren sollen?“ versuchte sie ihm daher zwischen dem Wenigen hindurch, was die französischen Autobauer in der Mitte an Platz zwischen den Vordersitzen des Kleinwagens gelassen hatten, zur Hilfe zu kommen. „Warum nicht?“, tat Fahrer nun glatt so, als hätte er wiederrum nichts von den Aufständen dort gehört, davon, dass gewisse Volksgruppen, die im Vielvölkerstaat Jugoslawien unterdrückt und wohl auch verfolgt wurden, gerade immer wieder versuchten, sich mit Gewalt dagegen zu wehren. „In den kommunistischen Ländern ist man doch viel sicherer unterwegs. Es gibt überall Polizei. Es wird doch alles viel mehr beobachtet und kontrolliert.“ Und so war es dann schlagartig wiedergekommen, dieses bedrückende Gefühl, dass Lena gehabt hatte, war sie nach West-Berlin gefahren. Dieses mulmige Gefühl auf der Transit-Autobahn. „Und auf genau so etwas hab` ich überhaupt keinen Lust!“, wehrte sie die Vorstellung daher vehement ab, so in Richtung Süden zu reisen, während Rainers Finger aus den Haaren auf sein Knie fielen, wo sie automatisch begannen, sich im Takt von Bowies Musik auf und ab zu bewegen. „Ich möchte mich in einem Land frei bewegen können, anhalten können, wann ich will, hingehen können, wohin ich will.“ – „Und du meinst, das kannst du in Italien oder Griechenland? Mit deinen hellen, rotblonden Haaren, so wie die in der Sonne leuchten!“, entgegnete Frank und seine Worte waren nicht ironisch gemeint. Mit ihm konnte man sicher endlos diskutieren, wurde Lena klar, und irgendwie war ihr dieser Student mit den langen Haaren, der nur vier, fünf Jahre älter sein konnte als sie, auch ziemlich unsympathisch. Rainer hatte schließlich unbedingt vorne sitzen wollen, befand sie nun, sollte er sich dann doch auch um die Unterhaltung mit diesem Studenten bemühen. Sollte er ihm doch einfach von dem leer stehenden Haus erzählen, in das er und ein paar seiner Freunde einfach eingezogen waren oder was auch immer. Im hinteren Teil der Ente konnte Lena bei der lauten Musik, sobald sie sich zurücklehnte, ja eh kaum etwas von dem verstehen, was die beiden da vorne von sich gaben. Und das, fand sie, war auch gut so nun.
Erst als Frank an der Tankstelle vorbei auf die Parkplätze vor dem Restaurant der Raststätte zusteuert, drosselt er auch die Geschwindigkeit. Reflexartig geht Rainers rechter Arm zum Fenster hin und klappt die untere Hälfte nach oben auf. Eine Lawine scheinbar kühler Luft ergießt sich in das Innere des Wagens. Fahrtluft wohl, denn kühl ist es zurzeit einfach nirgendwo. Vor fünf Tagen war sie gekommen, diese Hitze, und hatte es sich im ganzen Land gemütlich gemacht. Wer konnte, der lag jetzt an einem der vielen Seen Schleswig-Holsteins oder an den Stränden einer seiner beiden Meere. Sie aber hatten sich Griechenland vorgenommen, wollten einfach mal etwas anderes sehen.
„Da sind sie!“, ruft Rainer aus und auch Lena kann Tina und Jan auf der kniehohen Steinmauer vor der Hecke sitzen sehen, die das Gelände des Restaurants zu den Parkplätzen hin begrenzt. „Na, dann mal noch gute Reise!“, ruft Frank ihnen noch zu, nachdem Lena und Rainer sich und ihr Gepäck aus der Ente gepult haben. Sonderlich herzlich klingt es nicht. Froh, endlich aus dem Backofen heraus zu sein, atmet Lena tief die Luft ein. Sie scheint ihr voller Sauerstoff zu sein hier unten in Bayern.
„Das hat aber gedauert!“, grinst Jan ihnen schelmisch mit seinen großen, grünen Augen entgegen. „Wir warten hier schon über `ne Stunde!“ Er wirkt aber ganz zufrieden, findet Rainer und trommelt, kaum dass er neben ihm auf der Mauer sitzt, schon wieder mit den Handflächen auf seinen Knien und Schenkeln herum, tritt dazu mit den Füßen den Takt. „Das ist echt manisch bei dir, oder?“, funkeln Tinas große, haselnussbraune Augen ihn ein wenig genervt an. Gut, dass Tina das sagt, denkt Lena, und das in ihrer netten Art. Ihr selbst hängen die Stunden mit Bowie in der Ente noch nach. Rainer aber trommelt weiter, ganz unbeirrt.
„Habt ihr `nen guten Trip gehabt?“, erkundigt er sich bei Jan. Dieser schmale Kerl kann tatsächlich seine Stimme benutzen, ohne dass er beim Trommeln aus dem Takt kommt. Ganz unfassbar findet Lena das. „Bei uns ist alles ganz cool gelaufen, oder?“, strahlt Tinas rundliches Gesicht angetan über den bisherigen Verlauf ihrer Tour in das ebenfalls ein wenig rundliche Gesicht von Jan. „Jo!“, findet auch er. „Wann sind wir heute Morgen losgekommen?“, will Tina offensichtlich herausfinden, wie lange sie bis hierher gebraucht haben. „Gegen sieben“, meint Jan sich zu erinnern und versucht, sich seine dünnen, strohblonden Haare, die an seinen feuchten Wangen kleben, aus dem Gesicht zu streichen. „Na, acht war`s wohl schon!“, ist Lena der Meinung. „Und jetzt? Wie spät ist es jetzt?“ Sie alle, sie können nur spekulieren, denn keiner von ihnen hat eine Uhr mitgenommen. Zur Not kann man ja auch fragen, haben sie alle gelernt und auch dass sie ein recht gutes Gefühl dafür haben, wie viel Uhr es gerade so ist. „Gegen fünf schätz ich mal!“, sagt Rainers und „Denk ich auch mal so“ das von Lena, während sie die Pappschachtel mit den Eiern, die sie heute Morgen noch schnell hart gekocht hat, aus ihrem Rucksack kramt. Die Eier, sie sind warm. „Wir haben schon gefuttert“, erklärt Jan und hält ihr eine Brottüte hin. Belegte Brote sind darin. Auch die sind warm, wie der Belag aus Butter und Käse, der zwischen den Broten klebt.
„Bis Brindisi sind es aber sicher noch über tausend Kilometer“, überlegt Jan laut, nachdem er die Doppelseite, die er zu Hause aus seinem Schulatlanten gerissen hatte, aus seiner hinteren Hosentasche gezogen und sorgsam auf dem Gehweg entfaltet hat. Im Schneidersitz lässt er sich davor nieder. „Zwei Tage noch und wir sind da, Leute!“, ist er gewiss. „Also trampen wir heute noch weiter?“ Das war zwar so abgemacht, aber Tina fragt eben immer lieber noch einmal nach. „Angebracht, wenn wir irgendwann mal ankommen wollen“, findet Rainer in seiner ihm eigenen, trockenen Art. „OK, Leute! Mal sehen, wo wir uns das nächste Mal treffen können!“, lässt Jan die Kuppe seines Zeigefingers durch Österreich und Norditalien wandern. Irgendwo an der Adria hält er an. Tina, Lena und Rainer beobachten aufmerksam, wie ihr Freund seinen Zeigefinger auf diesen Ort dort am Meer drückt, der Daumen derselben Hand auf München hinuntergeht und er dann versucht die so entstandene Distanz zwischen den beiden Fingern in der Luft festzuhalten, während er die Hand um den Daumen herum in Richtung Hamburg dreht. „Das ist in etwa die Strecke, die wir heute auch zurückgelegt haben“, erklärt er schließlich triumphierend das, was den anderen auch so klar geworden ist. „Hm“, hat Tina beim Anblick des Punktes an der italienischen Adriaküste, auf dem Jans Fingerspitze nun wieder liegt, aber Bedenken. „Vielleicht etwas groß, oder?“ - „Also Leute!“, kommt Rainer noch ein anderer Gedanke. „Vielleicht sollten wir erst mal klären, wo wir uns genau treffen wollen. Also, ich meine nicht den Ort, sondern wo da im Ort. Dann lässt sich der Ort vielleicht auch leichter bestimmen.“ - „Also das wo im wo“, fasst Jan ganz ernst Rainers Aussage zusammen, ohne seinen Zeigefinger von der italienischen Adriaküste wegzunehmen. „Ja, irgendwas, was es in jeder Stadt gibt“, findet der Trommler unter ihnen. „Ok, aber eben auch in einer kleinen!“ will Tina auf der Suche nach dem Treffpunkt nicht endlos durch irgendwelche italienischen Straßen irren. „Rathaus“, nuschelt Rainer neben ihr, den Rest des hart gekochten Eies noch im Mund. „Na klar! `N Rathaus gibt´s immer, oder?“, ist sie begeistert und tippt mit ihrem Zeigefinger auf einen Ort an der Küste gleich neben Jans Finger, welchen sie dabei leicht berührt. „Was ist denn hiermit?“ Skeptisch beäugt Jan das, was an dem langen Finger neben dem seinen geschrieben steht. „Kann ja kein Schwein aussprechen, das Ding!“, lächeln seine grünen Augen die Besitzerin des schmalen Fingers neben dem seinen dann liebevoll an. „Aber es ist nicht so viel weiter und scheint erheblich kleiner zu sein.“ findet die. „Na, hier auf der Atlasseite jedenfalls!“, schmunzelt Rainer und seine Hände, die auf seine Schenkel schlagen, wechseln den Takt. „Ach!“, bemerkt Jan. „Und außerdem ist das doch Latein!“ - „Latein? In Italien?“, grinst Rainer mit seinem breiten Mund die Mädels an, aber er erwartet keine Reaktion. Schon gar nicht von Jan. Alle kennen den Jungen mit den sanften, grünen Augen. Alle wissen, dass er immer wieder Bemerkungen macht, die vollkommen überflüssig sind, Dinge sagt, die sich jedem von selbst erschließen, die nicht noch einmal explizit benannt oder erklärt werden müssen. Aber alle drei wissen auch, dass es Jan seinen Freunden nicht übel nimmt, wenn sie sich über diese, seine Eigenart lustig machen. Da ist er großartig, hat Rainer schon oft gedacht. Als hätte Jan selbst Freude daran, mit dieser, seiner Marotte anderen Leuten ein Lächeln in ihr Gesicht zu zaubern.
„Ne, echt jetzt!“, muss Jan noch mal auf die Sprache zurückkommen, nachdem er den Namen des Ortes dort an der Küste noch einmal studiert hat. „Nova vita! Das kann man sich doch merken!“ - „Da steht zwar noch ein bisschen mehr, aber .... ach!“, seufzt Tina, „Ich schreib` mir das jetzt einfach mal auf! Hat jemand `nen Stift, `nen Kugelschreiber?“ Jan hat, griffbereit, und ein sanftmütiges Lächeln geht über sein noch jungenhaftes Gesicht, als er ihn Tina reicht. „Ich find ja auch, dass wir mal tauschen!“, will Rainer eigentlich nur mal schauen, wie Lena auf diesen Vorschlag reagieren wird. „Was meinst du mit tauschen?“, schaut die ihn aber vollkommen unberührt an, da sie zunehmend das Gefühl hat, die Welt um sie herum würde sich von ihr entfernen. „Na, mal die Jungs zusammen und die Mädels“, versucht Rainer sich nicht anmerken zu lassen, was er eigentlich herausfinden will. „Also, falls ihr keine Angst habt, so ausgerechnet in Italien, zwei Frauen und so….“ Tina und Lena schauen sich an. Angst, so sagen ihre Augen, wovor sollen wir die haben? „Was soll denn schon passieren?“ hat Tina das sichere Gefühl, dass sie Lena genau so vertrauen kann wie Jan. „Na ja“, gibt Jan zu bedenken, „man hat ja schon so einiges gehört!“ - „Oh ne, bitte!“, stöhnt Lena, während sie sich auf die Mauer legt, „Jetzt nicht wieder diese leidige Diskussion über all das, was beim Trampen passieren kann! Das muss ich doch schon ständig mit meinen Eltern durchkauen. Das reicht mir echt!“ – „Und mir erst!“, hasst auch Tina dieses Thema. Aber sie möchte dem blonden Jungen mit dem sanften Gesicht auch nicht vor den Kopf stoßen. „Wir sind doch zu zweit!“, erklärt sie daher ruhig. „Und viel, was man uns wegnehmen kann, haben wir ja nun wirklich auch nicht dabei!“ Eure Körper, denk Jan, dem der Vorschlag seines Kumpels nicht sonderlich gefällt. Doch dann schweift sein Blick ungewollt an Tinas recht langen, unbekleideten Beinen entlang und er beschließt, besser nicht davon anzufangen.
Hauptsache nicht wieder eingeklemmt zwischen lauter Gepäck hinten sitzen, seufzt Lena in sich hinein und dreht langsam ihren Kopf zur Seite. Gekochtes Ei und belegtes Brot verlassen da plötzlich ihren Magen ohne jegliche Vorwarnung quasi unverdaut in Richtung Hecke. „Scheiße, Mann!“, schaut Rainer sie erschrocken an und lässt abrupt das Trommeln sein. „Was hast du denn für `nen Trip geschmissen!“ Sehr witzig, denkt Lena. Aber wenigstens hört er jetzt mit diesem ewigen Getrommel auf! Sie werden blau sein, war sie überzeugt, als sie Rainer kennen gelernt hatte, seine Schenkel von oben bis unten. Eines Nachts aber hatte sie dann in seinem Zimmer trotz fehlenden Stroms und damit elektronischer Beleuchtung festgestellt, dass Rainers Beine einfach nur weiß sind. So weiß, wie die der meisten Nordeuropäer. Die vielen Schläge, die sie täglich erleiden, hinterlassen keine Spuren an ihnen. „Ne, echt jetzt, Lena!“, versucht der Dauertrommler seiner Sorge ernsthaft Ausdruck zu verleihen. „Was ist los mit dir?“ Wenn Lena das wüsste! Heiß ist ihr. Und übel eben auch. „Mensch Lena, du hast `nen Sonnenstich!“, ist Tina sich absolut sicher, nachdem sie ihre flache Hand auf Lenas feuchte Stirn gelegt hat. Sie muss es wissen, finden die anderen, wo sie doch Krankenschwester wird. Träge hört Lena die Jungs diskutieren. Verschwommen Jan und Rainers Figuren, als sie durch das Gebüsch im bayerischen Land verschwinden, überzeugt davon, es müsse sich dort doch eine Apotheke finden, in der man etwas gegen so einen Stich bekommen kann.
„Meinst du, du hältst bis zu diesem Nest da unten in Italien durch?“, blicken Tinas sonst so leuchtenden haselnussbraunen Augen Lena besorgt an. „Wird schon gehen!“, haucht Lena noch immer auf der Mauer liegend nicht wirklich auf dieser Welt, während Tina sich im Schneidersitz neben sie setzt und ihre Hand in der ihren hält.
Die Sonne hat nur langsam ein Erbarmen. Im Schneckentempo bewegt sie sich hinter der Hecke dem Horizont entgegen. Und die Hitze? Sie bleibt. Vor allem in Lena. Und ihr Kopf? Der pocht. Pocht noch mehr, weil nur wenige Meter von ihnen entfernt die unzähligen vorbeifahrenden Fahrzeuge ein nicht endendes Dauerrauschen verursachen. Dann aber nickt Lena ein, mit Tinas Hand in der ihren.
Nur ein junges Pärchen, das ebenfalls nach Italien will, steht noch vor ihnen. IT haben sie mit schwarzem Filzer auf ein Stück Karton geschrieben, in Druckbuchstaben, innen hohl. Es hätte wohl ewig gedauert, die großen Lettern mit dem dünnen Stift, der ihnen offensichtlich nur zur Verfügung stand, vollständig auszumalen. Erst wenn die beiden mit dem Schild weg sein werden aber, kann auch Tina ihren Daumen raushalten. Kurz nachdem sie sich mit Rainer und Jan in Warteposition an die Leitplanke der Ausfahrt gelehnt hat, erscheint noch ein junger Typ mit ziemlich viel Gepäck, der nach Österreich will. Er macht es sich hinter Jan auf dem Boden bequem, nachdem geklärt ist, dass alle hier in dieselbe Richtung wollen, denn so läuft das eben. Wer zuerst kommt, kommt auch zuerst wieder weg. Vordrängeln ist absolut nicht angesagt. Es sei denn, man möchte in eine ganz andere Richtung als die, die schon da sind oder in einen bestimmten Ort in der näheren Umgebung, in den sonst keiner der bereits Anwesenden will. Das sind die ungeschriebenen Tramperregeln, denkt Tina einmal wieder und findet, sie funktionieren ganz gut.
Entmutigt von der Frau, die sie auf der Landstraße hinter der Autobahnraststätte angehalten hatten, waren Rainer und Jan schnell wieder von ihrem Ausflug ins bayerische Land zurückgekehrt. Der nächste größere Ort, hatte diese ihnen berichtet, sei etwa zwölf Kilometer entfernt und die Apotheke dort nun sicher auch schon geschlossen. Damit, fanden die beiden, war klar, dass sie auf diesem Wege nichts zu Lenas Genesung hätten beitragen können.
„Was für eine geile Mitfahrgelegenheit!“, findet Jan in Anbetracht des viertürigen Audis, der kurz hinter dem Pärchen hält. Neidisch schauen Tina, Jan und Rainer zu, wie die beiden vor ihnen mit ihrem Gepäck in dem großen Wagen verschwinden, in diesem Audi, der sie glatt alle Vier hätte mitnehmen können, bis wohin er nun auch immer fährt. Aber immerhin haben sie nun ihrerseits ihre Chance, noch an diesem Abend wegzukommen, freut sich Tina und hält lächelnd ihren nach oben zeigenden Daumen am ausgestreckten Arm jedem Fahrzeug entgegen, das nun noch an ihnen vorbeikommt. „Du kannst ruhig etwas Abstand halten zu uns“, lächelt Jan sie sanft an. „Sonst denken die Fahrer noch, sie müssten uns alle drei mitnehmen.“ Da hat er Recht, wird Tina klar, denn Lena war ja für die Vorbeifahrenden nicht sichtbar, dort im Gras hinter der Leitplanke, wo sie lag.
So am Straßenrand platziert muss Tina einmal wieder an die Gefahren bei Trampen denken, auf welche sie ihre Eltern ja auch immer wieder aufmerksam machen. Und bei diesen Gedanken wünscht sie sich nun sehnlichst, dass ein LKW anhalten möge. Zum einen war die Chance, dass die Warentransporter noch eine lange Strecke zurücklegen mussten recht groß. Zum anderen, meint Tina, sind ihre Fahrer schließlich bei der Arbeit. Sie haben eine Ladung an ein Ziel zu bringen, Termine einzuhalten und auch sicher kein Interesse daran, ihren Job zu verlieren. Und das sind alles gute Gründe, davon ist sie überzeugt, warum von diesen Fahrern keine Gefahr ausgeht. Ungläubig starrt sie daher auch auf den großen Lastkraftwagen, der mit quietschenden Bremsen nun neben ihr langsam zum Stehen kommt, so ungläubig, dass Rainer und Jan lachen müssen über ihr verblüfftes Gesicht.
„Komm schnell! Der fährt nach Italien!“ hört Lena Tina aufgeregt rufen und rappelt sich mühsam hoch. „Und das Pärchen?“, hat sie wohl eine Zeit lang geschlafen. „Schon weg!“, macht Tina ihr deutlich, dass Eile geboten ist. Und tatsächlich! Der fette Brummi steht, die Beifahrertür offen, so quer auf der Ausfahrt, dass er den nachfolgenden Verkehr blockiert. Es wirkt, als hätte der Fahrer sich erst im letzten Moment entschieden, hier wen auch immer mitzunehmen. Die Jungs haben auch schon nach den Rucksäcken der Mädchen gegriffen, stehen damit bereits vor der Beifahrertür. Flink krabbelt Tina die steilen Stufen hinauf und zieht die länglichen Gepäckstücke, die Jan und Rainer ihr nach oben reichen, in den Fußraum der Fahrerkabine. Der Mann fährt schon an, noch bevor Lena richtig zum Sitzen kommen kann. „Gute Fahrt!“, sieht Lena Rainers ernsten Blick weit unter sich. Der macht sich wirklich Sorgen, denkt sie noch. „Wir sehen uns im Neuen Leben!“, hören sie Jans Stimme schließlich noch durch den kleiner werdenden Spalt zwischen der sich schließenden Tür und dem Führerhaus und dann fahren sie auch schon auf der Autobahn in die Nacht hinein weiter in Richtung Süden.
„Nach Italien?“, will Tina noch einmal ganz sicher sein, während sie und ihre Freundin noch damit beschäftigt sind, sich selbst und ihr Gepäck zu sortieren. „Ja, sicha, Italien!“, nickt der dunkelhaarige Fahrer, der noch recht jung zu sein scheint. „Bredisee.“ Was für ein Genuschel! Was für ein Akzent! Fragend schauen Tina und Lena ihn an. „Bredisee“ wiederholt er das Wort zu ihrem Leidwesen jedoch in genau derselben Betonung und wirft einen herausfordernden Blick aus seinen dunklen Augen auf seine Mitfahrerinnen. Tina, neben ihm, zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung!“- „Doch, doch!“, ist er sich aber sicher. „Adria. Bredisee. Seien große Stadt. Du kennst bestimmt!“ -„Brindisi?“, fragt Tina nach kurzer Überlegung, ungläubig, weil das ja nun wirklich nicht sein kann jetzt. „Ja!“, freut sich ihr Fahrer sichtlich, endlich verstanden worden zu sein. „Echt jetzt! Bis nach Brindisi?“ Fassungslos schauen sich die Mädchen an. „Oh man, da hätten wir jetzt in einem durchfahren können!“ – „Ja, scheiße, echt!“, entfährt es Lena. - „Ihr Bridisee? Kein Problem!“, findet der Mann hinterm Steuer aber. „Ich fahre. Ihr mit! Ich weiter nach Griechenland.“ - „Ne, nicht auch das noch!“, stöhnt Tina laut auf und „Oh, verdammt!“, seufzt Lena. Etwas seltsam aber findet der Fahrer diese jungen Mädchen, da er verstanden hat, dass eigentlich alles super ist und dann auch wieder nicht. Also versucht Tina Erklärungen, doch sehr viele deutsche Wörter versteht er wohl nicht. „Ihr die treffen?“, fragt er endlich, wobei er mit der Hand nach hinter weist. „Ja!“, antworten Tina und Lena fast im Kanon. „Tss!“, schüttelt ihr Fahrer den Kopf, weil nun auch er begreift, wie blöd das jetzt ist. „Wo?“ Tina versucht erst gar nicht, den Namen des Ortes auszusprechen, an dem sie mit den Jungs verabredet sind, hält dem jungen Mann stattdessen den Unterarm hin, auf dem dieser Name geschrieben steht. Intensiv betrachtet ihr Fahrer das Gekritzel, schüttelt unwissend den Kopf, schaut nachdenklich auf die Straße und dann erneut auf das, was dort geschrieben steht. „Ach, ja!“, erhellt sich plötzlich sein Gesicht. „Ich kenne. Ich fahre. Kein Problem!“ – „Abgefahren!“, freut Tina sich. „Einmal umsonst München-Adriaküste ohne Umsteigen und ohne lange Wartezeit!“
Da Lenas dunkelblaue Augen noch immer glasig sind, bemüht Tina sich um das Gespräch mit dem kleinen, dunkelhaarigen Mann hinter dem großen Lenkrad. Denn das, so findet sie, schuldet sie ihm. Wenn man schon mitgenommen wird, sollte man den Fahrer oder die Fahrerinnen unterhalten, auf das, was sie sagen, eingehen, sich freundlich zeigen, interessiert und gesprächsbereit. Und Tina hat auch einfach Spaß daran, denen, die da kreuz und quer durch Europa düsen, manchmal tausende von Kilometern immer nur auf den Autobahnen, stunden-, ja tagelang auf sich selbst gestellt, die Hände am Steuer, den Fuß auf dem Gaspedal, ein wenig die Zeit zu vertreiben.
Sakis heißt der kleine, dunkelhaarige Mann und kommt aus Griechenland. Er will nachts über den Brenner fahren. Dann sei da nicht so viel Verkehr. Und tagsüber würde man wohl auch ewig an den Grenzkontrollen warten, meint er. Und warum nicht durch Jugoslawien?“, ist Tina ernsthaft interessiert. „Naa!", verzieht Sakis abgeneigt sein Gesicht. „Viele Kontrollen! Die Leute nich gut", macht er eine wegwerfende Bewegung. „Italien teuer, aber gut. Und nix machen, denn zahlt Chef“, grinst er die beiden jungen Frauen durch und durch zufrieden an, so dass man seine weißen Zähne sehen kann „Ah!“, nickt Tina verständnisvoll. „Und welche Strecke ist weiter?“, zeigt sie mit den flachen Händen verschiedene Distanzen an. „Über Italien oder über Jugoslawien?“ Gut macht sie das, denkt Lena erleichtert und spürt erneut ihre unendliche Müdigkeit. Ein bisschen komisch dieses andere Mädchen, findet Sakis hingegen, das so schweigend da sitzt und nicht sehr gesund aussieht irgendwie. „Was ist?“, zeigt er auf die langen, rotblonden Haare die neben Tina Lenas längliches Gesicht verbergen. „Ah, zu viel Sonne“, erklärt Tina und zeigt erst in den Himmel und dann auf Lenas heißen Kopf. „Ah, sie schlafen!“, findet ihr Fahrer und versucht mit dem rechten Arm zwischen den Sitzlehnen den Vorhang hinter ihnen zur Seite zu ziehen. Tina jedoch ist unsicher und auch Lena weiß nicht so recht. Schließlich handelt es sich bei dem, was Sakis ihr dort anbietet, um sein Bett. Er aber versichert immer wieder: „Kein Problem. Schlafen gut!“, bis Lena endlich, wenn auch ein wenig verlegen, zwischen den Sitzen hindurch in den hinteren Teil des Führerhäuschens krabbelt, vorsichtig die Bettdecke ihres Fahrers zur Seite schiebt, ihre Schuhe auszieht und sich auf Sakis` Laken legt. Es riecht. So, wie auch die Decke riecht und das Kopfkissen, auf welchem ihr Kopf nun wunderbar weich zum Liegen kommt. Es riecht nach dem, der es sonst benutzt. „Das ist echt nett!“, versichern die Mädchen Sakis immer wieder. Sie solle ruhig die Bettdecke nehmen, bedeutet dieser Lena, sich immer wieder nach hinten drehend. Den Mädchen wäre es lieber, er ließe seine Hände am Steuer. „Ist das echt ok für dich?“, will Lena von ihrer Freundin wissen, denn die wird ja nun gleich allein sein da vorne mit ihrem griechischen Fahrer. „Ja, alles gut!“, schielt Tina kurz zu dem jungen Mann, der bereits dabei ist, die Vorhänge hinter sich und Tina wieder zuzuziehen. Und kaum, da sie geschlossen sind, ist Lena dieser Welt auch schon wieder entschlummert.
Tina sinnt nach Themen, über die sie sich mit ihrem jungen, griechischen Fahrer unterhalten kann, während sie erst ihren, dann Lenas Pass aus ihren Umhängetaschen kramt. Sakis aber scheint gar nicht so sehr an einem Gespräch interessiert. Warum er sie wohl mitgenommen hat, fragt sie sich, wo er es doch so eilig hat und es ihm so schwer fällt, sich auf Deutsch zu verständigen? Für manche Fahrer, aber wird ihr dann klar, ist es wohl einfach nur wichtig, nicht allein zu sein, da in ihrem Führerhaus hoch oben über der öden, schwarzen, sich endlos hinziehenden Fahrbahn. Während der Brummi sich durch die Alpen quält, Sakis mächtig mit Schalten beschäftigt ist, um die Steigungen empor zu kommen, und sie eigentlich mehr tuckern als fahren, schlägt er Tina vor, es sich auf der zweiten Pritsche, der über Lena, gemütlich zu machen. Tina horcht noch einmal in sich hinein, ob man ihm wirklich trauen kann. Ob es gut geht, wenn nun auch sie sich noch schlafen legt und er mit ihrem Gepäck und ihren Pässen alleine bleibt? Aber da ist nichts, was stört, spürt sie, es fühlt sich alle gut an und so richtet sie sich leise das obere Bett. Lena darunter schläft ganz fest. Wie cool das doch hier ist für sie beide, denkt Tina noch, und entschwindet mit einem Lächeln im Gesicht ebenfalls im Land der Träume.
Seit der Tramptour mit Tina nach München hat Jan das wunderbare Gefühl, das Leben sei einfach nur schön und ihn könne nichts mehr aus der Fassung bringen. Die Nacht an der Raststätte in München war jedoch nicht sonderlich angenehm gewesen. Sie waren einfach zu spät dran. Der kleine Ausflug in das bayerische Land hatte Zeit gekostet und kaum, dass Tina und Lena davongefahren waren, schienen sich die übrigen LKW nun ihre Stellplätze für die Nacht zu suchen. Sie wollten oder konnten nicht mehr weiterfahren. Und die wenigen PKW, die noch an ihnen vorbeirauschten, machten keine Anstalten mehr anzuhalten. Der einzige Mensch, der noch auf die Bremse getreten war, hätte sie gerade mal bis Rosenheim mitnehmen können und da hieß es doch besser auf der Raststätte bleiben.
Jan weiß nicht warum, hat nichts Konkretes, woran er es festmachen kann, aber er ist sich nunmehr gewiss, dass Tina seine Gefühle erwidert. Vielleicht wegen der Art, in der sie ihn immer wieder angelächelt hat auf ihrer gemeinsamen Reise bis hierher. Wegen der Art, wie sie sich seitdem in die Augen sehen. Nun aber, da er aus dem Zelt kriecht, welches die beiden jungen Tramper in der Nacht hinter der Böschung gleich neben der Autobahn notdürftig aufgestellt hatten, und in Rainers Augen sieht, zweifelt auch er für einen Moment an der Richtigkeit ihrer Reisepläne. Zerknittert schaut Rainer ihn an. Er hat, das erzählt sein Gesicht, so gut wie nicht geschlafen. Jan schickt ihn Wasser holen, braut dann einen Kaffee für sie auf dem wackeligen Gaskocher zusammen. Rainer aber vermisst die Milch darin. „Wir sollten die LKW-Fahrer direkt ansprechen“, versucht sein Freund ihn aufzumuntern. „Meinetwegen“, zuckt Rainer aber nur mit den Schultern. Er ist echt missmutig am heutigen Morgen.
Gefolgt von seinem schlechtgelaunten Freund eilt Jan von Lastkraftwagen zu Lastkraftwagen. Dicht gedrängt stehen sie so früh am Morgen noch auf dem Parkplatz beieinander. Da Rainer sich nur in einer Sprache wirklich verständigen kann, in der nämlich, in der er groß geworden ist, mag er das Sprechen lieber seinem Kumpel überlassen, dem sein Talent für fremde Sprachen schließlich das Abi gerettet hat. Erst auf Deutsch, dann auf Englisch spricht dieser einen Fahrer nach dem anderen an. Genau wie die beiden Jungen, scheinen auch die Fahrer gerade erst aufgestanden zu sein. Sie frühstücken noch oder kommen gerade von den Toiletten der Raststätte zurück, das Waschzeug unter den Arm geklemmt und so rechnet sich Jan auch gute Chancen aus, schnell jemanden unter ihnen zu finden, der sie bis nach Italien mitnehmen wird.
„Nix verstehen!“, kommt eine ablehnende Geste von dem Fahrer, der wohl aus Bulgarien kommt. Das jedenfalls hat Rainer dem ovalen, weißen Aufkleber entnommen, der hinten auf seinem Brummi klebt. Der nächste Fahrer muss weiter nach Jugoslawien. Der untersetzte Mann, der gerade sein Kochgeschirr zusammenräumt, lässt sich sogar noch auf eine kurze Diskussion ein, da Jan nicht glauben kann, dass er sie nicht wenigstens bis hinter die italienische Grenze mitnehmen könnte. Jan will jetzt einfach unbedingt weiterkommen, im Notfall eben auch auf indirektem Wege. Erst als der Brummi-Fahrer ihm seine Route auf der Karte zeigt, sieht er, wenn auch ungern, ein, dass da nichts zu machen ist. Entschlossen klemmt er seine dünnen, blonden Haare hinter beide Ohren und eilt zu dem Fahrer des Zwanzigtonners nebenan, der wohl gerade aufbrechen will. Seines Zeichens Italiener scheint dieser sogar ein paar Brocken Deutsch zu verstehen und lässt die beiden Tramper in sein Führerhaus steigen. Begeistert stupst Jan Rainer an: „Siehste! Geht doch!“ freut er sich. Und das noch mehr, als er Rainer lächeln sieht, zum ersten Mal am heutigen Tage.
Es ist noch nicht richtig hell, als Tina wieder erwacht und den Vorhang ein wenig zur Seite schiebt. Sakis aber, der nun die ganze Nacht durchgefahren ist, ist so erfreut, sie zu sehen, dass sie sich genötigt fühlt, von der Pritsche hinunterzukrabbeln und ihm auf der Beifahrerbank Gesellschaft zu leisten. Verschlafen lächelt sie ihn an. „Gut?“, lächelt er zurück und sieht müde aus. „Gut!“, hält Tina ihm den erhobenen Daumen entgegen. Lena schnarcht hinter ihr leise vor sich hin. Ja, sie sind schon seit längerem in Italien, gibt Sakis Tina zu verstehen, und er muss bald mal eine Pause machen. Vorgeschrieben wäre nun wohl eine längere, aber das kümmert ihn nicht sonderlich. Nur kurz ein bisschen frisch machen, einen Kaffee trinken und dann weiter, so ist sein Plan. „Familie“, schaut er Tina eindringlich an und seine dunkelbraunen Augen strahlen. „Weißt? Griechenland. Familie. Warten auf mich.“
Als sie auf die italienische Autobahnraststätte fahren, die rundherum mit einem mannshohen Zaun umgeben ist, erwacht auch Lena. Gut sieht sie aus, finden die anderen.
So sehr die Mädchen sich auch mühen, sie schaffen es nicht, Sakis davon abzubringen, ihnen beiden einen Cappuccino und ein Cornetto zu spendieren. Hügelig ist die Landschaft, durch die er dann seinen großen LKW auf der rechten Spur der Autobahn lenkt. Unzählige, runde, kleine, grüne Erhöhungen reihen sich um sie herum aneinander. Auf einem von ihnen rechter Hand thront über einem leicht ansteigenden Olivenhain ein Dom mit einem Kloster oder ähnlichem. „Das Haus von Maria“, grinst Sakis die beiden Mädchen an. „Dort ist geboren.“ Na klar, denken die Mädchen sich, das war wohl als netter Scherz gemeint. Schließlich steht das alles ja nun mal eindeutig anders in der Bibel. „Haben Haus hier wieder aufgestellt“, versucht der junge Grieche ihnen daher zu erklären, woran er selbst nicht recht zu glauben scheint. Und während die beiden noch überlegen, was sie von Sakis` Worten halten sollen, blitzt linkerhand zwischen den rundlichen Hügeln auf einmal das Meer auf. Dunkelblau und scheinbar unendlich liegt sie da, die Adria. „Gleich sind da!“, lächelt Sakis sie zufrieden an und Tina und Lena schauen gespannt auf das Wasser und die Strände, die hier und da bläulich und gelblich zwischen den Hügeln in der Sonne aufleuchten.
„Kann nicht in Stadt fahren!“, beteuert Sakis etwas nervös, als er auf eine der Ausfahrten zusteuert. „LKW zu groß.“ Die Mädchen neben ihm können seine Sorge jedoch kaum nachvollziehen. Ihr griechischer Fahrer hat sie in einem Rutsch bis hier hergefahren, das Meer, es ist ganz nah und sie wissen, dass sie gleich nicht in einer riesigen Stadt aussteigen werden. Was also soll jetzt noch passieren? In ihrer Freude, so schnell ans Ziel gelangt zu sein, haben beide nicht daran gedacht, dass Sakis zunächst durch eine Mautstelle fahren muss, bevor er sie aussteigen lassen kann. Mühsam quält er sich in den Kreisverkehr dahinter, auf dem sämtliche Fahrzeuge, die zuvor auf mehreren Spuren an mehreren Kassenhäuschen vorbeigeleitet wurden, nun alle wieder zusammenkommen. Es wird gehupt, es wird durch das offene Fenster geschimpft, aber ihr Fahrer lässt sich davon nicht irritieren. Das was dann hinter dem Kreisel folgt, finden Lena und Tina aber, sieht genau so aus, wie die Autobahn eben und scheint zudem auch noch ewig so weiter zu gehen. Ein schlechtes Gewissen übermannt sie dann, als sie endlich kapieren, wie verzweifelt Sakis nach einer Straße sucht, auf der er mit seinem sperrigen Transporter wenden kann. Dann, als er die metallene Statue sieht, die in einem großen, runden Beet in einem Kreisel vor ihnen steht, hält er abrupt an. Schnell lassen Tina und Lena ihre Rucksäcke auf den Bordstein fallen und krabbeln hinaus aus dem Führerhaus. Zu schnell aber, haben beide das Gefühl, müssen sie sich jetzt von Sakis verabschieden. „Vielen, vielen Dank für alles!“, ruft ihm Lena zu, bevor sie die Beifahrertür zuschlägt. Tina hält ihm noch mal den ausgestreckten Daumen entgegen und beide winken ihrem Fahrer herzlich zu, als er auf der anderen Straßenseite noch einmal an ihnen vorbeifährt. Es ist sein Grinsen dort hinter dem Steuer, das ihnen verrät, wie froh auch er ist und wohl auch stolz, die beiden jungen Mädchen heil an ihr Ziel gebracht zu haben.