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5 Der Platz
Оглавление„Eigentlich war Rainers Idee mit dem Rathaus ja genial!“, findet Lena, die sich wieder wie neugeboren fühlt. Es sollte schließlich in jeder auch noch so kleinen Stadt eines geben und man sollte es auch stets irgendwo im Zentrum finden. „Ja, eigentlich!“, lacht Tina, denn sie tun nun schon etwas länger genau das, was sie mit der Wahl einer kleinen Stadt zu verhindern versucht hatten. Orientierungslos irren sie durch diesen Ort und wissen zudem weder, was Rathaus auf Englisch heißt, noch auf Italienisch. Und was sollten Passanten, von zwei jungen, offensichtlich nicht aus ihrem Land stammenden Mädchen in englischer Sprache nach dem Haus gefragt, in dem man seinen Pass verlängern kann, denn auch antworten?
An einem weiteren Kreisel angekommen, beginnt Tina daher zu kombinieren. „Da fährt doch die Bahn über die Unterführung dort?“ Kann Lena ihr gut folgen. „Und die haben wir doch von der Autobahn aus gesehen. Die verläuft wie sie immer parallel zum Meer, oder?“ muss ihre Freundin ihr auch diesmal wieder Recht geben. „Schau mal!“, blickt Tina die Straße entlang, die links vom Kreisel abgeht. „In diese Richtung sieht es doch nicht aus, als würde noch ein Stadtzentrum kommen!“ – „Ne, da geht`s eindeutig in die Hügel hinauf! Da wird sich das Zentrum wohl kaum befinden“, folgt Lena Tinas Augen. „Findest du also auch, dass es sinnig wäre, so ein Zentrum am Meer zu bauen, nicht?“, grinst Tina sie an. „Also ab durch die Unterführung, meinst du?“, mag Lena diese, Tinas Art sehr, Menschen zu überzeugen und folgt ihr rechts entlang durch den nicht sehr hohen Tunnel. „Bingo!“, hält Tina ihr den erhobenen Daumen hin, noch bevor sie wieder richtig oben sind. „`Ne Einkaufsstraße, jäh!“, muss Lena die Augen zusammenkneifen, da die Sonne noch tief steht jetzt am Morgen und genau so blendet, wie schon in den vergangenen Tagen, in denen sie noch oben im Norden waren. Eben so, als hätte man sämtliche Wolken abgeschafft, als würde es kein anderes Wetter mehr geben, als blauen Himmel und Sonnenschein eben. Fast schüchtern gehen Tina und Lena auf der breiten Allee entlang. Ein Geschäft reiht sich hier an das andere und der Anblick all der schicken Klamotten, Schuhe, Küchenaccessoires und Delikatessen in den Schaufensterauslagen befremdet die beiden nach all der Zeit, die sie nun auf der Autobahn zugebracht haben.
„Versuchen wir es noch mal?“, blickt Tina auf die Eingangstür eines kleinen Tabakladens. Doch kaum, dass die beiden das kleine Lädchen betreten und ihre Frage gestellt haben, hat sich eine Traube von Menschen um sie herum geformt und sie können sich kaum mehr bewegen. Hier soll man am Tresen die gewünschte Ware erbeten, bezahlen und dann wieder gehen. Nun aber, da alle auf die beiden jungen Frauen mit den sperrigen Rucksäcken schauen, ist alles zum Stillstand, das Geschäft zum Erliegen gekommen. Auch von denen aber, die sich hier nun zwischen Tabakdosen, Pfeifen und Zeitungsständern dicht gedrängt um sie tummeln, scheint keiner zu begreifen, was die jungen Frauen von ihnen wollen, auf Englisch zu erklären versuchen. Und daran können auch die eigentlich recht treffenden Umschreibungen, die Tina und Lena sich zurechtgelegt haben, so gar nichts ändern. Ein jeder blickt sie freundlich an. Es werden viele Anläufe genommen, untereinander zu klären, worum es hier geht, doch es ist einfach offensichtlich, dass niemand sie versteht. Wie ein heilloses Durcheinanderreden wirkt das alles auf Tina und Lena. „Dabei wollen wir doch nur wissen, wo das Rathaus ist,“ stöhnt Lena. - „Rathaus?“ hören sie da die tiefe Stimme eines Mannes in der Ecke sagen. Verdutzt blicken sie in sein fragendes Gesicht und plötzlich herrscht Ruhe um sie herum. „Seid ihr Deutsche?“, lächelt er die beiden an, die nun ebenfalls sprachlos sind. Nur langsam scheint ihnen klar zu werden, was hier gerade geschieht. „Ich hab gearbeitet in Deutschland“, hören sie ihn sagen und die zusammengerollte Zeitung in seiner rechten Hand scheint in eine bestimmte Richtung zu weisen. „Vierzehn Jahre. In Bochum. Kennt ihr Bochum?“, streicht der Mann sich mit der freien Hand durch seine grauen Haare. Tina und Lena, denen immer noch die Worte fehlen, kommt es vor, als würde er für einen Moment in der Erinnerung versinken. Ja, dort in Bochum war er mit knapp zwanzig Jahren und seinen kleinen Reisekoffer in der Hand, zum ersten Mal in dem Heimatland dieser Mädchen aus dem Zug gestiegen. Geld wollte er dort verdienen im Wirtschaftswunderland. Mit seiner Ausbildung zum Betriebsschlosser und einigen Jahren Berufserfahrung hatte er auch schnell eine Stelle gefunden. Aber anders als viele seiner Landsleute war er nicht lange geblieben. Zu groß war sein Heimweh im Laufe der Jahre geworden. Daher war zurückgekehrt, als es auch mit seinem Heimatland wieder bergauf ging und hier auch für immer geblieben. „Nein, ich war leider noch nie in Bochum“, findet Tina als erste endlich wieder zu ihrer Muttersprache zurück und lächelt ihn beinahe entschuldigend an. „Ah, nicht schlimm!“, winkt er mit der Zeitung in der Hand ab und seine Augen lächeln milde. „Ist keine Stadt sehr schön!“ Angestrengt sucht er nach den Worten. „Woher ihr seid?“, formuliert er langsam, denn er weiß noch, dass die Regeln für die Satzstellung in ihrer Sprache eine andere Reihenfolge vorsehen. Viel zu lange aber ist es nun schon her, dass er diese Sprache gesprochen hat. „Hamburg, na ja, in der Nähe davon“, ist Lena froh, überhaupt etwas von dem zu verstehen, was einer hier sagt. „Ja, Hamburg! Hamburg ist eine Stadt sehr schön!“, strahlt ihr Gegenüber erst sie, dann Tina an, „Und ihr macht Urlaub hier?“ - „Na ja“, wiegt Tina ihre Antwort ab. „Wir sind auf dem Weg nach Griechenland und...“ - „Griechenland?“, schaut sein schon leicht faltiges Gesicht erstaunt. „Das ist noch weit!“ - „Ja“, weiß auch Tina „und deshalb suchen wir das Rathaus. Dort wollen wir uns nämlich mit unseren Freunden treffen.“ - „Ah!“, streckt sich nun sein Arm mit der zusammengerollten Zeitung in der Hand erst in Richtung Ladenausgang, dann um die Ecke. „Ah, das Rathaus ist nicht weit! Die Straße runter, nur noch ein paar Meter.“ Die Erleichterung in den Gesichtern der beiden jungen Frauen zaubert ein warmes Lächeln auf das seine. „Municipio!“, spricht er das Wort langsam und deutlich und plötzlich lachen die Umstehenden auf. „Ach so, das Rathaus suchen sie!“ und gehen schon wieder ihren Beschäftigungen nach. „Municipio!“, wiederholt eine der Frauen das Wort noch einmal bevor sie sich anschickt, wieder ihrem eigentlichen Wollen zu folgen. Und so sprechen Tina und Lena es ein-, zweimal nach, auch weil sie glauben, dass sie diese Vokabel vielleicht noch einmal brauchen werden.
„Meinst du, das ist es?“, will Tina mal wieder ganz sicher gehen, als sie vor dem dreistöckigen Gebäude stehen, das genau so breit ist wie der Platz davor und spricht auch gleicht eine Passantin an. „Schì, schì!“, nickt diese nur kurz, ohne sich umzudrehen und die beiden Mädchen beginnen zu lachen. Denn es ist nicht nur die Aussprache, in der die Frau geantwortet hat, die für sie wahrlich witzig klingt, sondern auch eine Menge Erleichterung, die sich gerade in ihnen breit macht. Ganz automatisch suchen sie die Umgebung nach ihren Begleitern ab. Die aber sind nirgends zu sehen „Lass doch noch mal in dem Park da schauen!“, schlägt Tina vor und weist mit dem Kopf auf die Palmen, die hinter einem hohen, schwarzen Gitterzaun am Ende des Platzes stehen. Angenehm ist es hier! Kühler durch die Blätterkronen der hohen Bäume und den mehrstöckigen Springbrunnen mitten drinnen, auch wenn er klein ist, dieser Park, und die unterschiedlichen italienischen Vehikel unaufhörlich außen um ihn herumsurren. „Die sind noch nicht da!“, blickt Lena sie an und Tina muss grinsen und noch mehr an Jan denken, als sowieso schon. „Wollen wir hier bleiben? Hier ist es doch angenehm“, will sie aber nicht lange auf dem herumreiten, was ja offensichtlich war. Lena spürt, wie gerne sie jetzt im Schatten sitzen würde, umgeben von Grün. „Hm! Aber hier sieht uns ja keiner.“ Das, muss Tina einsehen, stimmt leider. „Vielleicht setzen wir uns da auf den Platz auf die Seite?“, schlägt sie daher vor. „Unter die Bäume da auf den Bürgersteig?“
Hart ist er dieser breite Bürgersteig, aber wenigsten können die zwei ihre Rucksäcke und daran sich selbst mit dem Rücken an die Baumstemme lehnen. Sie schauen zu wie sich neben ihnen alles, was einen Motor hat, auf zwei, drei oder vier Rädern an den am Straßenrand kreuz und quer abgestellten Fahrzeugen auf das Rathaus zuschiebt. Von dort aus es scheint es nur eine Richtung zu geben, die nämlich um den Platz herum. Nur wenige Menschen umrunden oder überqueren den Platz, auf welchem abgesehen von ein paar parkenden Autos im vorderen Bereich, gähnende Leere herrscht, zu Fuß. Tina betrachtet die Buden, die links und rechts vor dem Eingang zur Parkanlage stehen. Buden, die Eis anbieten, Süßigkeiten, Kaltgetränke, so etwas Ähnliches wie Kinderspielzeug. Die Augen der Mädchen folgen dem jungen Mann, der mit seiner Vespa quer über den Platz direkt bis zu einer dieser Buden fährt, seinen blonden, jungen Sohn stehend zwischen seine Beine geklemmt. Ohne abzusteigen will er dem Kleinen scheinbar einen Luftballon kaufen. Dieser würde wohl zu gerne gleich alle nehmen, doch er muss sich entscheiden. Geduldig hält der Mann aus der Bude ihm die Schnur mit einem schwebenden gelben Ballon daran hin, dann die mit einem roten, schließlich die mit einem blauen. Nach dieser Schnur greift der Kleine sogleich und schaut stolz grinsend an ihr entlang zum Ballon hinauf. Nun weist Papa ihn wohl an, die Schnur von nun an gut festzuhalten, bevor er das Gas wieder aufdreht. Ein schönes Bild finden Tina und Lena, wie Papa und Sohnemann mit dem blauen Luftballon über ihren Köpfen auf der Vespa langsam über den breiten Platz zurück zur Straße fahren. Dennoch ahnen beide schon, dass es öde werden kann, hier für längere Zeit herumzusitzen.
„Hattest du geschaut? Haben wir `nen Stempel von den italienischen Grenzbeamten gekriegt?“, hat Lena diesen Teil der Reise ja nun verschlafen. „Nein! Leider nicht! Die haben unsere Pässe gar nicht interessiert.“ – „Schade zwar, aber es wär doch cool, wenn das irgendwann mal in ganz Europa so sein würde, oder? Reisen von Land zu Land ohne Visa, ohne Ausweispapiere und ohne Grenzkontrollen“, findet Lena an dieser Vorstellung richtig Gefallen. „Ja, das wäre dann endlich auch ein Europa nicht nur für die, die Handel treiben“, gefällt auch Tina dieser Gedanke, „sondern endlich mal eins für die Menschen!“ - „Na, zumindest ein West-Europa ohne Schranken“, überlegt Lena. „Ja, wer weiß!“, spinnt ihre Freundin den Gedanken auch gleich weiter. „Vielleicht wird es irgendwann ja sogar mal einen Europa-Pass geben, ein Ausweispapier für alle, die auf diesem Kontinent leben.“ - „Und alle können unbegrenzt und unbehelligt von Nord nach Süd und Ost nach West hin- und herreisen.“ - „Ja, cool wäre das!“ -„Absolut!“, schweifen Tinas Augen über den Piazza „Und bis dahin haben wir hier erst mal einen ganz schönen Platz hier, oder? Schön im Schatten. Und gut sichtbar auch!“ - „Allerdings!“, lässt auch Lena ihren Blick über das Gelände um sie herum streifen. „Echt gut sichtbar für jedermann!“
Die Menschen, die an den beiden in alle möglichen Richtungen vorbeigehen, betrachten sie nicht selten lange, unverhohlen. Kaum jemand hier ist sonderlich bemüht, gleich wieder wegzuschauen, selbst wenn eines der Mädchen ihren Blick entgegnet. Nein, für die Menschen hier scheint es keine Selbstverständlichkeit zu sein, dass zwei junge Frauen mit Gepäck auf dem Bürgersteig am Rande des zentralen Platzes ihrer Stadt sitzen und offensichtlich nichts weiter zu tun haben, als auf irgendetwas zu warten. Immer wieder macht der eine oder andere die Mädchen von der Straße aus auch mit seiner Hupe bekannt. Die Menschen schauen, lächeln und rufen ihnen irgendwas zu, wohl damit die Mädchen sich zu ihnen umdrehen mögen, so dass sie ihre Gesichter sehen können. Das ist ungewohnt für die beiden aus dem hohen Norden, aber auch amüsant. Aber da es beim Lächeln, Hupen und Winken bleibt und keiner ihnen zu nahe kommt, fühlt es sich auch für keine von beiden unangenehm an. „Bald“, so ist Tina überzeugt, „werden wir hier Stadtgespräch sein.“ - „Ja, und alle fahren extra hier her, nur um uns zu sehen. Eigentlich ganz schön, mal so etwas Besonderes zu sein, nicht?“ Besonders ist für Lena aber auch dieser Wasserhahn, der aus einer gusseiserneren Säule nicht weit von ihnen ragt. „Ob sich da wohl jeder bedienen darf?“, fragt sie sich laut. „Wenn denn überhaupt was rauskommt“, bezweifelt genau das Tina, rappelt sich hoch, schaut sich noch einmal um und dreht dann den Hahn auf. Mit einem mächtigen Schwall spritzt das Wasser auf den Boden und von dort auf ihre Beine, so dass sie erschrocken ein Stück zur Seite springt. „Da kommt nicht nur was raus, da ist auch ordentlich Druck drauf!“, zieht Lena sie grinsend auf. „Sieht ganz klar aus“, beugt Tina ihren langen Oberkörper hinunter, hält ihren offenen Mund in das fließende Wasser und nimmt einen Schluck. „Und schmeckt auch ganz ok“, findet sie. „Und kühl ist es auch“, hält sie beide Hände in den Wasserstrahl. „Das ist ja echt geil!“, entfährt es Lena. „Hier kann man sich das Wasser mitten in der Stadt direkt in den Mund laufen lassen. Und das vollkommen umsonst!“ - „Man kann es sich aber auch in die Flasche füllen!“, feixt Tina und findet es einfach nur super, an einem heißen Sommertag wie diesem gleich neben einer kostenfreien Wasserquelle zu sitzen. „Wenn man bedenkt, dass man bei uns `ne Mark und fünfzig für so `ne kleine Glasflasche am Kiosk bezahlt, möchte man an einem Platz wie diesen mal was trinken“, fällt Lena ihre Heimat ein. „Ist doch voll abgefahren!“ – „Allerdings!“, nickt Tina, „Echt abgefahren!“
Erst als sie schon auf der Autobahn sind, stellte sich heraus, dass der Fahrer des LKWs zwar nach Italien will, zunächst aber von Innsbruck aus noch einmal in Richtung Schweiz fahren muss, um dort in irgendeinem Ort irgendetwas abzuholen. Der ältere Mann, der nur gebrochen Deutsch spricht, bietet Jan an, den Ort dort in Österreich auf der Karte zu suchen, die vorne an der Windschutzscheibe steckt. So könnten sich die beiden Jungen einen Überblick verschaffen. Zwei bis drei Stunden Umweg seien es aber sicher schon. Zweifelnd blickt Jan Rainer neben sich an, dessen Miene sich bereits wieder verdunkelt hat. „Immerhin fährt er dann bis Bologna“, findet er in seiner optimistischen Art voller Sehnsucht danach, endlich wieder in Tinas große, sanfte Augen zu schauen. „Ah!“, winkt Rainer jedoch zu seinem Leidwesen ab, wobei er seine Finger wieder einmal durch seine weichen Haare gleiten lässt. „Hab` eh keine Ahnung, wo das genau ist. Aber wir müssen auch mal was essen“, findet er. „Also besser, er lässt uns an einer Raststätte vor Innsbruck raus.“ Das mit dem Essen ist für Jan ein schlagendes Argument. Es ist aber ja auch nahezu unmöglich, hatte er schon gestern beim Genuss des aufgewärmten, belegten Brotes bemerkt, Nahrungsmittel für mehrere Tage mit auf eine solche Tramptour zu nehmen. Nicht nur, dass es dafür kaum mehr Platz gibt in den Rucksäcken, die vollgepackt sind mit allem Möglichen, was man so braucht. Es hält sich ja auch nichts bei dieser Wärme! Bei dieser dauerhaften Sonneneinstrahlung, der sie ausgesetzt sind.
Auf der Raststätte kurz vor Innsbruck versucht Jan für Deutsche Mark belegte Brötchen zu bekommen. Die beleibte Dame an der Kasse des Selfservice-Restaurants will sich aber partout nicht darauf einlassen. Kleingeld würde sie nicht wieder gewechselt bekommen, erklärt sie den Trampern mit ihrem österreichischen Akzent. Es gibt keine Diskussion und auch kein Mitleid. Sie könnten mit einem Schein bezahlen und das Wechselgeld in Schilling zurücknehmen oder eben hungrig bleiben. Mehr kann Jan auch mit seinem entzückendsten Lächeln nicht herausschlagen, ganz gleich wie sehr seine schönen, grünen Augen die füllige Frau im Dirndl auch anstrahlen. Also bezahlt Jan die beiden mager belegten Brötchen und lässt sich die paar Schillinge Rückgeld geben. Der Wert des Scheines reicht nicht aus, um auch noch zwei Tassen Kaffee zu erwerben, ja, nicht einmal eine davon. „Das hat doch jetzt ein Vermögen gekostet!“, schimpft Rainer, kaum dass sie ein paar Meter von der Kasse entfernt sind. „Und die hat voll das Geschäft gemacht!“ Jan hält ihm eines der Brötchen hin. „Denk ich auch“ ärgert auch er sich darüber, dass man auf den Autobahnraststätten sowohl den Leuten, die dort arbeiten, als auch den Preisen so hilflos ausgeliefert ist. „Als Autofahrer würde ich ja auch zum Essen immer abfahren.“ „Ja ne, lass mal!“, grinst Rainer ihn verkrampft an. „Wir kommen ja auch so schon nicht voran.“ Er, Rainer, war schließlich von Anfang an dafür gewesen, an die Atlantikküste nach Frankreich zu fahren und zwar mit der Bahn. Griechenland, hatte er gedacht, war viel zu weit. Aber die anderen hatten sich ja von dieser Idee nicht abbringen lassen. Und nun merkte er deutlich, wie wenig er diese Hitze vertrug. Auch wenn er nicht gleich einen Sonnenstich erlitt wie Lena, deren Haare doch immer leuchteten, als wären sie die Sonne selbst, spürte er, dass sein Körper nicht gemacht war für dieses ewige Superwarm. Zudem war er in der Nacht immer wieder aufgewacht, hatte an Lena gedacht und sich geärgert, weil es seine Idee gewesen war, die Partner so zu tauschen, dass nun die beiden Mädels alleine unterwegs waren und er hier mit Jan nicht weiter kam. Immerhin war Tina als angehende Krankenschwester aber wohl besser in der Lage, sich um die kranke Lena zu kümmern, als er das hätte tun können, versuchte er sich zu trösten, doch es gelang ihm nicht recht. Sein Kumpel Jan schlief tief und fest neben ihm. Beneidenswert echt! Unfähig in den Schlaf zu finden, hatte Rainer daher wieder einmal damit begonnen, darüber nachzusinnen, was er nun eigentlich von Lena wollte und sie von ihm. Und wieder einmal konnte und wollte er sich nicht eingestehen, dass er noch viel zu sehr an seiner Sabine hing, als dass er sich auf eine andere Frau hätte einlassen können. Er mochte Lena sehr, das Strahlen ihrer dunkelblauen Augen, wenn sie lachte. Und sie lachte viel. Aber es hatte nicht geknallt zwischen ihnen, nicht so wie damals zwischen ihm und Sabine, seiner ersten wirklich großen Liebe. Diese drei Jahre mit ihr waren für Rainer einfach nur schön gewesen und es war jetzt auch erst knapp zwei Monate her, dass sie sich in diesen anderen Heini verliebt hatte. Was wollte sie nur von dem! Fünf Jahre älter als sie und der totale Spießer! Klar war es nach drei Jahren nicht mehr so zwischen ihnen beiden gewesen wie am Anfang. Er aber hätte sich niemals in eine andere Frau verlieben können. Ja, er konnte es ja nicht einmal jetzt, wie er schließlich feststellen musste, als es um das Zelt herum schon langsam zu dämmern begann.
„Guck mal!“, lenkt Tina Lenas Blick auf ein kleines, grünes Vespadreirad, das aus der Seitenstraße ihnen gegenüber direkt auf sie zugefahren kommt. Es ist aber nicht das winzige Dreirad, das ihre Aufmerksamkeit erregt hat, begreift Lena sogleich. Von diesen Vespas, denen man hinten eine winzige Ladefläche auf zwei Rädern angehängt hat, haben sie heute ja auch schon viele gesehen. In keinem von ihnen saßen jedoch zwei so junge Männer mit so schönen, gelockten, schulterlangen Haaren drin. Jetzt lächeln diese beiden Jungs sogar direkt in Tinas und Lenas Richtung. Ja, sie wenden sogar noch mal ihre Gesichter zu ihnen um, nachdem sie um die Ecke gebogen sind und dem Strom der Fahrzeuge folgen, der sich unaufhörlich in Richtung Rathaus und von dort um den Platz herum bewegt. „Die sahen doch jetzt echt sympathisch aus“, findet Tina. „Allerdings!“, ist Lena ganz bei ihr, „Aber schau!“ zeigt sie auf die grüne Ape, die nun auf der Straße auf der anderen Seite des Platzes an eben diesem verbeifährt. „Schade eigentlich!“ seufzt ihre Freundin leise. „Ja, schade!“ nickt Lena, denn sie beginnt sich zu langweilen hier. „Ich hab grad voll Hunger“, spürt sie außerdem. „Kein Wunder!“, findet Tina. „Wo du doch gestern alles gleich wieder ausgespuckt hast! Aber eine von uns sollte wohl jetzt immer hier bleiben, denke ich. Wegen der Jungs und auch wegen der Rucksäcke“, ist sie gedanklich schon dabei, ihnen etwas zum Essen zu besorgen und holt auch schon ihr Portemonnaie aus ihrer bunten Umhängetasche heraus. Es wäre tatsächlich zu umständlich, sich mit den Rucksäcken auf dem Rücken in irgendwelche Läden zu zwängen, findet auch Lena mit Blick auf die italienischen Geldscheine, die Tina in ihren Händen hin- und herwendet. „Wie viele Lire hast du denn eigentlich?“ - „11.000 und noch ein paar Zerquetschte.“, zählt Tina die Lire nach, die sie noch daheim von ihrer Bank erhalten hat. „Besonders schick sind sie ja nicht.“, fällt ihr dabei auf und sie hält Lena einen 1000 Lire-Schein direkt vors Gesicht. „Na ja, auch nicht schöner oder hässlicher als die unseren, oder?“ - „Aber die in Frankreich!“, strahlen Tinas große Augen begeistert. „Die mit dem kleinen Prinzen drauf! Hast du die mal gesehen?“ Nein, muss Lena kopfschüttelnd zugeben, da sie ja noch nie in Frankreich war. „Und wie viel sind diese 11.000 nun wert?“ - „Etwa zwanzig Mark. Musste ja auch noch Gebühren bezahlen....“, schaut ihre Freundin sie fast entschuldigend an. Lena aber findet auch, dass das erst mal reichen sollte. Schließlich war ein längerer Aufenthalt in Italien ja nicht geplant. Und schade wäre es auf jeden Fall, wenn auch sie noch einen Travellerscheck hier einlösen müsste. denn das wären dann gleich fünfzig Mark, die für Lire draufgingen. Den Rest müsste sie dann auch in Griechenland wieder in Drachmen tauschen, wollte sie ihn nicht auf dem Rückweg hier in Italien ausgeben und ein jeder Umtausch kostete nun mal die von Tina schon erwähnten scheiß Gebühren. Geld, das man besser sparen sollte, war sie überzeugt, angesichts der geringen Mengen, die Tina als Auszubildende und sie als Abiturientin davon haben. „Puh, das wird kompliziert mit diesem Wechselkurs“, ist das, was ihre Freundin im Moment aber viel mehr umtreibt und sie sieht sich schon stundenlang im Laden stehen, verzweifelt damit beschäftigt, die Preise von Lire in D-Mark umzurechnen.
Alleine auf den Steinplatten sitzend wird Lena bewusst, wie heiß es schon wieder geworden ist. Auffällig auch, dass kaum einer mehr hupt oder ruft. Das aber hat wohl nicht damit zu tun, dass sie nun alleine hier sitzt, sondern eher damit, dass kaum einer mehr da ist außer ihr. Eine seltsame Ruhe hat sich über den Platz gelegt und schon sieht sie Tina auch mit leeren Händen wieder auf sich zukommen. „Alles zu! Mittagspause!“, zieht sie eine Schnute. „Ach, wie bei uns! Bis wann?“ - „Also, ich hab geschaut, aber da steht echt bei jedem Laden etwas anderes dran. Wenn überhaupt! Vor drei aber wird das hier nichts werden.“ - „Dann kann ich jetzt sicher auch kein Geld tauschen?“, nimmt Lena mal an. Zu gerne würde sie sich mal ein wenig bewegen. Träge schüttelt Tina ihr gestuftes, kurzes, strohblondes Haar. „Alles dicht!“ Lena blickt auf die langen Zeiger der Uhr, die oben an der Wand des Rathauses hängen. „Na, das ist dann ja noch etwas hin!“, stellt sie fest und lehnt sich wieder an ihren Rucksack an. „Ich würde an deiner Stelle aber auch noch nicht tauschen“, sieht auch Tina in der Geldwechselei keinen Sinn. „Lass uns doch erst mal die Lire ausgeben, die ich habe und dann schauen!“ – „War ja auch so abgemacht!“, wollte Lena ihre Freundin nicht irritieren. Aber wenn die Jungs nicht kommen und dann erst mal Wochenende ist.“ – „Warte wir mal ab, oder?“, ist Tina sich aber gewiss, dass die Jungs bald eintrudeln werden. Für Lena aber bleibt es ein mulmiges Gefühl, stellt sie erstaunt fest, selbst kein Geld in der Tasche zu haben, mit dem sie etwas kaufen kann. Als verlöre man ein Stück seiner Freiheit! Tina aber kann ihren Blick nicht mehr von diesem Ort abwenden, der ein wohliges Gefühl in Mund und Magen verspricht. „Komm!“, springt sie auf, „Ich lade dich zu `nem Kaffe ein. So teuer kann das doch nicht sein! Und vielleicht gibt es dort ja auch etwas zum Essen.“
Das kleine Cafe an der Straße auf der anderen Seite des Platzes war auch Lena schon ins Auge gefallen. Mehr noch die jungen Leute, die davor schon seit längerem saßen und immer mal wieder zu ihnen hinüber geschaut hatten. „Sollen wir die Rucksäcke hier lassen?“, hat Lena wenig Lust darauf, das schwere Ding erneut zu schultern. „Warum nicht?“, findet auch Tina. „Man kann sie ja von dort aus gut sehen.“ Nach all der Zeit, die sie nun schon hier gesessen haben, hat keine von ihnen beiden den Eindruck, dass sich irgendjemand hier an ihren Sachen zu schaffen machen oder sie gar einfach mitnehmen würde. Trotzdem drehen sich sowohl Lena als auch Tina auf dem Weg über den Platz noch zwei-, dreimal prüfend um, bis ihre Blicke sich treffen und sie lachen müssen, über sich selbst. Und sie lachen gleich ein bisschen mehr, weil sie merken, wie gleich sie ticken, wie ähnlich sie umgehen mit den Situationen, in die sie geraten. Vergnügt lassen sie sich auf die weißen Stühle links vom Eingang des Cafés fallen, so dass sie über den Platz sehen können, zu ihren Rucksäcken hin. Insgeheim hoffen beide in diesem Moment, Rainer und Jan würden um irgendeine Ecke kommen. Dabei entgeht Tina und Lena nicht, dass sie auch jetzt wieder gemustert werden. Ihre Freunde, sie sind nicht in Sicht, aber es kommt auch kein Kellner und auch keine Kellnerin aus dem Café zu ihnen, um sie zu bedienen. Daran ändern auch die sehnsuchtsvollen Blicke der Mädchen durch das Schaufensterglas in das Innere des Cafés, die von drinnen durchaus wahrgenommen werden, absolut nichts.
„Kommt ihr aus Deutschland?“ Es ist das Mädchen mit den langen, dunkelbraunen Haaren aus der Gruppe, die gegenüber auf der anderen Seite des Eingangs sitzt, das schmunzeln muss über die überraschten Blicke, die Lena und Tina jetzt tauschen. Das Lachen der beiden, das unweigerlich folgt, aber irritiert die Frau sichtlich. Skeptisch zieht sie ihre Augenbrauen hoch. „Ja“, beeilt Tina sich daher zu sagen. „Und du bist jetzt schon die zweite, die wir hier treffen, die unsere Sprache spricht.“ - “Ach so!“, versteht die junge Frau mit ihren dunkelgrünen Augen nun. „Ja, der ein oder andere in Italien hat schon mal in Deutschland gelebt. Aber hier in dieser Stadt?“ wendet sie sich wie zum Beweis an die drei jungen Frauen und die zwei jungen Typen, die um sie herum sitzen und offensichtlich ihre Bekannten sind. „Tedesco?“ Kopfschütteln, Abwinken, „No!“, ein jeder lächelt nur freundlich. „Du sprichst dafür aber ganz schön gut Deutsch“, ist Tina beeindruckt und die junge Frau vor ihr findet zu einem Lächeln zurück. „Ich bin ja auch in Deutschland aufgewachsen! Ich bin dort zur Schule gegangen.“ Sie hält einen Moment inne, als versuche sie sich an etwas zu erinnern. „Ja, genau wie ihr!“, verkündet sie schließlich und wirft ihre langen, dunklen Haare mit einem Kopfschwung nach hinten. „Nun aber lebe ich hier.“ Forschend blickt sie erst die lange Frau mit den strohblonden Haaren, dann die Kleinere mit den rotblonden, leicht gewellten an. „Und ihr? Woher kommt ihr?“ „Schleswig-Holstein“, versucht Tina gar nicht erst herauszufinden, ob das Mädchen ihren kleinen Heimatort oben im Norden kennt. „Puh“, macht die angesichts der Entfernung. “Das ist weit!“ Und der Ausdruck in ihrem Gesicht zeigt Anerkennung. „Und wie seid ihr hergekommen?“, ist sie neugierig. „Getrampt, nicht wahr?“, hält sie ihnen den ausgestreckten Daumen hin und freut sich über das Nicken der beiden so wie auch darüber, endlich mal wieder Deutsch sprechen zu können. „Wir haben nämlich schon gewettet hier, wisst ihr?“ Und sie macht sich schnell daran, ihren Freunden das Gesagte zu übersetzen. Nur eine der Frauen um sie herum lächelt nun noch. Die anderen wirken enttäuscht. „Wir beide“, zeigt die Deutschsprechende, die problemlos vom Deutschen ins Italienische wechseln kann, auf die Lächelnde „wir beide haben gewonnen!“ Doch der Mann rechts von ihr scheint noch etwas auf dem Herzen zu haben. „Ah, stimmt“, erinnert sie sich, „was ihr hier macht, das war auch noch eine Wette zwischen uns.“ Schön, denkt Tina, wie die Leute sich hier mit Spekulationen über uns die Zeit vertreiben! „Ihr wartet auf eure Partner, stimmt`s?“, hat die Deutsch-Italienerin offensichtlich das Bedürfnis, auch diese Wette zu gewinnen. „Nicht ganz!“, muss Tina sie nun aber enttäuschen. „Wir warten auf zwei Jungs, ja!“, wirft Lena ein. „Aber das sind nur Freunde. „So wie wir!“, legt Tina freundschaftlich den Arm auf Lenas Schulter. Diesmal lässt sich die deutschsprechende Italienerin mit der Übersetzung Zeit. Diesmal lag sie mit ihren Spekulationen über Lena und Tina wohl falsch.
„Ich heiße übrigens Martina“, stellt sie sich vor und zeigt auf die anderen. „Marco, Roberto, Chiara, Antonia, Teresa.“ So schnell also lernt man hier gleich eine ganze Gruppe von Menschen kennen! „Lena“, erwidert Lena das freundliche Nicken eines jeden einzelnen. „Tina. Eigentlich Christina, aber das muss echt nicht sein!“, hält Tina ihr das Peace-Zeichen hin und ihr fällt ein: „Dann hast du also auch einen deutschen Namen?“ Doch Martina schüttelt gleich lächelnd den Kopf. „Ach, nein! Es gibt viele Namen, die im Deutschen und Italienischen gleich sind. Sehr viele!“, und dann fällt ihr ein, „Ihr müsst euch hier drinnen bedienen. Hier kommt keiner heraus, um eine Bestellung aufzunehmen.“ Automatisch wandern Tinas und Lenas Blicke über den Platz zu ihren Rucksäcken hin. „Keine Angst!“, errät Martina ihre Gedanken. „Wir schauen schon auf euer Gepäck!“ Etwas, durchzuckt ein Gedanke Tina kurz, stimmt nicht mit ihren Augen. Doch schon in dem Moment, in dem sie aufgestanden ist, hat sie bereits wieder anderes im Sinn.
“Cappuccino”, da sind sich Lena und Tina einig und auf die Pizzastücke in der Vitrine kann man zeigen. Während die Frau mit der modischen Brille hinter der Theke an der riesigen Espressomaschine hantiert, breitet Tina ihre italienischen Geldscheine und Münzen vor sich auf dem Tresen aus. Doch es nützt wenig, dass sie sich zuvor mit dem italienischen Zahlungsmittel vertraut gemacht hat, denn weder sie noch Lena verstehen, was die weibliche Bedienung von ihnen für die Heißgetränke und die Pizzen haben möchte. Wohlwollend hält sie ihnen zehn Finger hin. Zehn Lire, da sind sich Tina und Lena schnell einig, wird sie kaum meinen. Amüsiert über die beiden jungen Ausländerinnen zeigt die Frau auf einen der 1000-Lire-Scheine, hält ihnen sogleich noch weitere sechs Finger hin. „Wenn ich mich nicht verrechnet habe“, blickt Tina ihre Freundin an, „dann waren das jetzt keine vier Mark.“ – „Und dass für zwei Kaffe und zwei kleine Pizzen?“, kann Lena kaum glauben. „Das kann ich eigentlich kaum sein!“ – „So was scheint hier erheblich billiger zu sein als bei uns“, ist Tina sich aber doch recht gewiss, dass sie beim Umrechnen keinen Fehler gemacht hat und grinst ihre Freundin erleichtert an.
„Ob das in Griechenland auch so wird?“, stellt Lena sich beim Rausgehen laut die Frage. „Hm, vielleicht“, hat ihre Freundin auch schon in die Zukunft gedacht. „Aber für Griechenland hat Jan doch diese Tabelle mitgenommen.“ Ach, ja, Jan!“, erinnert sich Lena daran, wie er ihnen allen stolz diese kleine Karte bei ihrem letzten Vorbereitungstreffen präsentiert hat. Die Umrechnungstabelle, die Beträge von 10 Pfennige über ein, zwei, drei bis zu 100.000 Mark jeweils den entsprechenden Betrag in Drachme gegenüberstellt. Drehte man sie um, fand man das Ganze umgekehrt. Natürlich hatte man auf dem Kärtchen den Wechselkurs zu einem bestimmten Zeitpunkt zugrundegelegt. Durch die üblichen Kursschwankungen konnte da der Betrag, den man am Ende tatsächlich für sein Geld in der anderen Währung bekam, auch mal etwas abweichen von dem, was auf dem Kärtchen stand. Aber man hatte wenigstens einen Anhaltspunkt, etwas, was man zur Hilfe nehmen konnte, wenn man herausfinden wollte, wie viel Geld man in der fremden Währung da eigentlich gerade zumindest in etwa aus den Händen gab. Ja, Jan war echt organisiert, hatte Lena anerkennend gedacht. Was man von Rainer nicht unbedingt behaupten konnte. So wenig wie von ihr, das wusste sie. Gut daher, dass sie sich nicht alleine auf den Weg gemacht hatten, dass sie Tina und Jan dabei hatten!
„Setzt euch doch zu uns“, lädt Martina sie an ihr rundes Tischchen ein, auf den Stühlen Platz zu nehmen, auf denen eben noch zwei der Männer und eine der Frauen gesessen hatten. „Die müssen noch was besorgen“, erklärt Martina ungefragt. „Ich warte noch auf meinen Mann. Dann muss auch ich gehen.“ Tinas und Lenas erstaunte Blicke verwundern Martina nicht. Sie hat fest mit ihnen gerechnet. „Der mit den kurzen Haaren, der hier saß.“ Zeigt sie auf den immer noch leeren Stuhl ihr gegenüber und erwartet eben diese Reaktion. „Du bist schon verheiratet? Wie alt bist du denn?“ „Einundzwanzig“, lächelt sie, denn sie kennt dieses Erstaunen, diese Art Fragen, ist sie doch in beiden Kulturen aufgewachsen, der deutschen und der italienischen. Von klein auf an musste sie lernen, mit den unterschiedlichen Gepflogenheiten und Gewohnheiten der beiden Kulturkreise umzugehen. „Ja, hier in Italien heiratet man nicht so spät wie bei euch in Deutschland“, erklärt sie den beiden jungen Mädchen daher auch wie selbstverständlich. „Mit neunzehn, zwanzig, einundzwanzig - das ist hier ganz normal.“ Heiraten, wird Tina in diesem Moment klar, das ist bei den Leuten, die sie so kennt, so überhaupt nicht angesagt. Und heiraten in dem Alter, in dem Lena und ich jetzt sind? Noch vor Beendigung der Ausbildung, des Studiums? Das scheint Tina gerade absolut undenkbar. „Hast du denn deinen Mann in Deutschland kennen gelernt?“, will Lena wissen und beißt voller Appetit in ihre Stück Pizza. „Ja, aber er war nur zu Besuch dort. Deshalb spricht er eure Sprache auch nicht. Wegen ihm bin ich auch hier hergekommen, hier in diese kleine Stadt. Aber meine Familie, die ist noch in Deutschland.“ - „Wo genau?“, setzt Tina ihre Tasse wieder ab, ohne getrunken zu haben. Zu heiß noch sind der Kaffee und die Milch darin. „Mayen“, schaut Martina sie mit ihren dunkelgrünen Augen sehnsuchtsvoll an. So unwahrscheinlich es auch ist, so hofft sie doch, wenigsten eine von den beiden würde diesen Ort kennen. „In der Nähe von Koblenz“, ergänzt sie auf das Kopfschütteln der beiden hin und macht einen enttäuschten Eindruck. „Deine Eltern arbeiten dort?“ denkt Lena sich. „Ja“, nickt Martina versonnen. „Sie haben dort ein Restaurant.“ Und es klingt, als hätte sie Heimweh.
„Wisst ihr, woran ich erkannt habe, dass ihr aus Deutschland seid?“, findet sie nach einer Weile zurück an den Tisch. Für Tina und Lena aber stellt sich diese Frage doch gar nicht, wenn Martina doch in Deutschland aufgewachsen ist. „An euren Klamotten!“ erwartet Martina erneut verblüffte Gesichter. „Ja, daran erkennt man Deutsche sofort!“, behauptet sie und zeigt wie zum Beweis auf ihr Kleid. „Ja“, fährt sie fort, weil Tina und Lena schweigend an ihren Cappuccini nippen. „Hier in Italien können sich auch Menschen Mode leisten, die nicht so viel Geld haben. Mode ist sehr wichtig bei uns. Nicht wie in Deutschland, wo modische Kleidung nur für die reichen Leute ist.“ So wie Martina das sagt, wirkt es nicht, als wolle sie Tina und Lena beleidigen. Trotzdem klingen Tinas Worte ein wenig nach Verteidigung. „Mode interessiert mich aber auch echt so gar nicht!“ - „Ja, aber genau das meine ich!“, muss Martina grinsen. „Hier in Italien ist sie wichtig. Bei euch in Deutschland eben nicht. Oder zumindest nur für einige.“ - „Gilt das denn auch im Umkehrschluss?“, will Tina wissen. „Erkennt man die Italiener auch an dem, was sie anhaben?“- „Ich finde schon!“, ist Martina überzeugt und wiegelt dann ab. „Macht euch mal keine Sorgen! Ist ja nicht so schlimm! Und bei den Frauen fällt es eh nicht so sehr auf. Aber wie die deutschen Männer sich in ihrer Freizeit oder im Urlaub kleiden, das würden Italiener sich niemals trauen.“ - „Du meinst mit kurzen karierten Schlabberhosen und einem Hawaihemd?“, hat Tina sofort ein ganz bestimmtes Bild vor Augen. „Ja, genau so!“ lacht Martina nun von Herzen. „Genau so!“
Möglichst unmerklich mustern Lena und Tina nun die Anwesenden und alle, die an ihnen vorbeigehen, studieren, was sie an ihren Körpern tragen. Zugegeben, das entspricht schon dem, was jetzt Mode ist. Die Kleider, die Hemden und Hosen, ja selbst die Farben sehen angesagt aus, und bringt sie dazu zu glauben, dass es ja vielleicht tatsächlich so ist, dass man aufgrund der Kleidung, die Menschen tragen, erkennen kann, aus welchem Land sie kommen. Ein wenig so wie früher eben, als die verschiedenen Trachten und Kopfbedeckungen ein Zeichen dafür waren, aus welcher Region die Menschen stammten.
„Habt ihr denn schon Ferien?“, reißt Martina die Mädchen aus ihren Gedanken. „Es ist doch erst Anfang Juni!“ - „Schleswig-Holstein ist doch immer sehr früh dran“, erinnert Lena Martina daran, dass in Deutschland ja jedes Bundesland zu einem anderen Zeitpunkt in die sechswöchige Schulpause geht. „Und ich“, hat Tina sich gerade den letzten Bissen Pizza in den Mund geschoben „arbeite schon. Also Ausbildung. Erstes Lehrjahr.“ - „Hm“, lächelt Martina etwas müde. „Ich könnte ja jetzt raten, aber ich glaub, ich hab für heute genug davon.“ - „Krankenschwester“, nickt Tina ihr verständnisvoll zu. „Und du?“, würde sie gerne herausfinden, warum Martina und ihr Mann hier tagsüber im Café herumsitzen können. „Krankenschwester?“, ist Martina voller Anerkennung. „Das ist sicher kein einfacher Beruf. Find ich voll cool, dass du das machst!“ Tina, die nun ihrerseits diese Art Reaktionen schon kennt, lächelt nur. „Ach so! Ich?“, begreift Martina endlich. „Ich arbeite in einem Restaurant. Aber nur abends! Dort hinten“, zeigt sie schräg hinter sich, „am Strand.“ - „Ist der Strand nicht da?“, wundert Tina sich und zeigt in die andere Richtung. Herzlich, wie Martina jetzt lacht. „Strand ist hier doch überall. Die ganze Adria entlang - rauf und runter.“ Klar, durchfährt es Tina, dumm von mir! Aber wenn man denn auch so gar keine Orientierung hat!
Hastig kommt der junge Mann mit den kurzen Haaren von der Straße auf sie zu. „Komm!“, scheint er Martina schon von weiten immer wieder aufzufordern. Sie ruft ihm etwas auf Italienisch entgegen. Nervös bleibt er vor Tina und Lena stehen. „Das ist mein Mann!“, stellt Martina ihn erneut vor. „Roberto.“ Roberto aber nickt nur kurz. Dann wirft er leicht genervt den Kopf zur Seite. „Ich muss los“, sagt sie schon im Stehen. „Vielleicht sehen wir uns später noch!“ Und sie folgt ihrem Mann, der hastig zurück zu der Seitenstraße eilt, aus der er eben gekommen ist, als hätte er dort etwas sehr Wichtiges zu erledigen.