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3 Der falsche Zug
ОглавлениеIch Dösch bin doch tatsächlich in den falschen Zug gestiegen! Wäre der Schaffner nicht so schnell gekommen und hätte er sich meine Fahrkarte nicht so ausführlich angesehen, ich würde wohl noch immer in die falsche Richtung fahren. Nun bin ich also wieder dort, wo ich vorhin schon war, um die paar Mark ärmer für die Rückfahrt von dort, wo ich nicht hingewollt habe. Aber wenigstens hat mein Ticket nach Perugia jetzt nicht auch noch seine Gültigkeit verloren. Doof nur, dass der nächste Zug erst irgendwas vor neun heute Abend fährt! Und das ja auch erst mal nur bis Foligno. Ich werde also sicher erst spät ankommen in Perugia.
Nun aber heißt es erst einmal wieder warten. Einen Cappuccino habe ich schon getrunken, direkt hier in der Bahnhofsbar, im Stehen, wie das eben alle hier machen, den schweren Rucksack neben mir. Beeindruckend die meterlange Theke aus altem, ausgedunkelten Holz, die sich von der Tür direkt am Gleis durch die gesamte Bar zieht bis zu den Türen zur Straße hin. Das sind bestimmt über zehn Meter.
Warten! Zeit totschlagen. Es lohnt sich nicht, noch einmal in die Stadt an der Adria zu gehen und ich habe sie auch schon gesehen. Was also soll ich anderes machen, als mich mitten in der endlos hohen Bahnhofshalle auf der ausgesessenen, alten Holzbank niederzulassen? Hier kann man sich sogar richtig schön zurücklehnen, denn die hölzerne Lehne, welche die Sitzflächen zu beiden Seiten trennt, ist wahrlich hoch genug, um zu verhindern, dass man mit Hinterköpfen zusammenprallt, wenn zwei Rücken an Rücken zu beiden Seiten Platz nehmen. Die hohen, schweren, halb verglasten Schwingtüren hinter mir, durch die man auf die Gleise gelangt, stehen halb offen. Die vor mir, wo es gleich eine ganze Front aus eben solchen endlos hohen, schweren Metalltüren zur Straße hin gibt, sind ständig in Bewegung. Menschen kommen und gehen, eilen von Tür zu Tür, kaufen Zeitschriften, Zigaretten, Zeitungen oder kleine Süßigkeiten an dem Kiosk rechts von mir. Sie recken ihre Hälse zu der Anzeigentafel hinauf, die der Höhe der Halle geschuldet, weit oben an der Wand über dem Kiosk Auskunft gibt über die Züge, die von hier fahren und auch über das geplante Wann. Klackerklackerklack werden die Zahlen und Buchstaben der Anzeige verändert. Klackklack Klackerdiklack klappen die beschrifteten Holzkarten so lange von oben nach unten, bis sich die gewünschten Zeichen eingestellt haben. Manchmal braucht es viele Klackerklacks, bis aus den einzelnen Schriftzeichen nebeneinander ein Ganzes, ein Sinnvolles entsteht. Die einen klappern länger, die anderen brauchen weniger Zeit.
Es sind immer die gleichen Geräusche, fällt mir auf. Immer die gleichen Geräusche, die man unentwegt hört, ob in den Hallen, auf den Gleisen oder im Zug.
Klackerdiklack. Klack. Klack.
Menschen gehen mit großen Koffern und mit kleinen, mit schweren, wie sich aus ihrer Körperhaltung schließen lässt, und mit leichten. Sie tragen Taschen, Beutel und nicht selten auch Rucksäcke auf ihren Schultern. Ich vertreibe mir meine Zeit, indem ich mir ausmale, wo diese Menschen wohl herkommen und wohin es sie wohl treibt. Bei denen im Anzug mit Aktenkoffer ist das keine große Herausforderung. Bei anderen lässt es sich aber nicht so leicht erraten, schick angezogen, wie manche sind und ganz sicher auch parfümiert. Wie die Frau dort, viel zu aufgedonnert, um gerade aus dem Büro zu kommen! Wohin will sie? Was ist ihr Ziel? Und wohin reisen wohl die da hinten in ihrer lässigen, aber sehr modischen Freizeitkleidung?
Attenzione! Attenzione!, hallt die Durchsage von den Gleisen her durch die offenen Schwingtüren in das Bahnhofsgebäude. „Attenzione! Attenzione!“
Auffällig der, der hastig durch die große Tür beim Kiosk in die Halle kommt. Schaut sich ständig um, ohne stehen zu bleiben und durchquert so die Halle im schnellen Schritt. Verschwindet für einen Moment auf den Gleisen und kommt schon wieder hastig in die Halle zurück, läuft erneut durch sie hindurch, ständig um sich blickend, als würde er irgendetwas, irgendjemanden suchen. Schlank ist er und jung. So alt wie ich vielleicht. Auf jeden Fall etwas länger, also größer meine ich, für italienische Verhältnisse zumindest, mit angesagtem Vokuhila-Schnitt, das Haar vorne fransig und nicht zu kurz nach oben gestylt, das hinten nicht zu lang und glatt. Kurz vor den meterhohen Türen zur Straße hin spricht er einen Mann im Pullover an. Der kramt erst in seiner Hosentasche und hält ihm dann eine Schachtel hin, aus welcher sich der mit dem modernen Haarschnitt eine Zigarette nimmt. Die steckt er zwischen seine Lippen, bevor er auch schon wieder durch den Ausgang zur Straße hin verschwunden ist.
Nun sind da wieder nur ganz normale Menschen. Menschen, die in der Halle stehen und sich von anderen verabschieden. Menschen, die mich mit offenen Blicken kurz anschauen und Menschen, die nur mit sich selbst beschäftigt sind. Menschen, die mehr oder weniger geduldig in der Schlange vor den Fahrkartenschaltern links von mir warten, dort immer wieder ein Stück vorrücken, sobald eine Person vom Personal hinter den Glasscheiben abgefertigt worden ist. Menschen, die Koffer vor sich herschieben, mit ihrer Reisebegleitung schwatzen, nach Geld, Papieren oder sonst etwas in ihren Taschen kramen.
Klackklack, klackerdiklack.
Ein kühler Luftzug zieht durch die Halle von offener Tür zu offener Tür. Ich pule meine dünne Sweatjacke aus dem Rucksack und streife sie über mein T-Shirt. Mein Blick gleitet erneut auf die riesigen Zeiger an der Wand weit über mir. Der große aber steht dort, wo er eben schon war oder höchstens einen Zentimeter weiter. Warten! Zeit totschlagen. So viel Zeit, die man beim Reisen damit verbringt, auf irgendetwas zu warten! So viel Zeit, denke ich, als mein Blick von den langen Zeigern dort oben zurück hinunter zu den Menschen in der Halle fällt. Der kommt echt direkt auf mich zu, erschrecke ich. Hastig. Noch immer genau so hastig wie eben bereits, so dass ich plötzlich schmunzeln muss. Mit leicht zusammengekniffenen Augen fixiert er mich mit seinem Blick, eilt weiter in meine Richtung und sitzt auch schon neben mir. „Ha una sigaretta?“ Du hast doch grad erst geraucht, denke ich. “No, solo tabacco.” - “Parla Italiano?“, bezweifelt sein Blick. Aber er siezt mich! „No, non così bene. Solo un po`”, reiche ich ihm meinen Tabakbeutel. „Dalla Germania?“, bedankt er sich mit einem kurzen Nicken. „Sì”, nicke ich. “English?” Was genau will er jetzt? „No, tedesca“, erkläre ich erneut, dass ich aus Deutschland komme. Nett, wie er jetzt lacht, so in den Tabakbeutel hinein. „But you speak English?“, grinst er und zieht eines der Blättchen aus dem Päckchen heraus, welches im Tabakbeutel gesteckt hat. „Ja! Vielleicht besser!“ Das Blättchen mit dem Tabak darauf in beiden Händen haltend, fragt mich sein Blick, ob ich vielleicht bescheuert bin. „Also ja“, lache ich, „Ich spreche Englisch.“ Zufrieden nickt er jetzt, während seine Zungenspitze über den Kleberand des dünnen, weißen Papierblättchens gleitet. Schon steckt die Zigarette zwischen seinen schmalen Lippen. „Wie kommst du darauf, dass ich aus Deutschland bin?“, würde ich aber jetzt schon gerne wissen. „Ah, einfach!“, fliegt seine rechte Hand nach oben in die Luft. „Die Haare!“ zeigt sie nun auf diese, „der Rucksack, dein Gesicht!“ -„Mein Gesicht?“ Er grinst, zuckt die Schultern, hat eh nur geraten, denke ich. „Alle jungen Leute bei euch im Land rauchen Tabak, oder nicht?“, grinst er weiter mit der Zigarette zwischen den Lippen, während er das Blättchenpäckchen zurück in den Tabakbeutel steckt, ihn nicht wieder richtig verschließt und mir reicht, als wolle er nichts mehr zu tun haben damit. „Weil Tabak in Deutschland viel billiger ist, als Filterzigaretten“, erkläre ich. „Ah sì? Hier nicht!“, hat er sich schon die Zigarette angesteckt. Ein Feuerzeug also besitzt er. Und ganz plötzlich wirkt er vollkommen abwesend. Schmales, eher längliches Gesicht, schwarze, buschige, sehr lange Augenbrauen, große Nase, stelle ich fest. Haben irgendwie viele hier in Italien, denke ich, eine große Nase. „Wohin fährst du?“, erwacht er plötzlich aus seiner Versunkenheit auf Englisch mit starkem italienischen Akzent, so dass ich seine Worte kaum verstehe. „Perugia.“ - „Ah! Mit dem Zug nach Rom?“ - “Ja!”, zunächst schon. „Den nehm` ich auch. Hat Verspätung das Ding! Wunderbar unsere italienische Bahn!“ - „Verspätung?“ - „Ja, steht dran. Bei den Gleisen. Mindestens `ne Stunde! Und `ne Stunde heißt in Italien zwei oder drei“, behauptet er sehr überzeugt und zu meinem Leidwesen. Noch mehr Zeit! Und wenn ich dann keinen Anschlusszug nach Perugia mehr kriege?
„Komm! Lass uns was trinken gehen!“, schlägt er vor, mit dem Kopf in Richtung Ausgang weisend. „Wo?“ erkundige ich mich lieber, bevor ich mich ihm anschließe. „Drüben, gegenüber vom Bahnhof ist eine Bar.“ Er steht schon, lächelt, nimmt einen tiefen Zug und tritt zappelig von einem Bein aufs andere, während ich mir die Träger meines Rucksacks über die Schultern streife. „Schwer?“- „Geht so!“, untertreibe ich. „Sieht es so aus?“ - „Beh, sì!“ (Na ja, ja!) und er eilt voraus in Richtung Straße. „Tut mir leid“, wendet er sich mir dort unvermittelt zu und tritt nah an mich heran, was ich, so spüre ich, nicht unangenehm finde. „Bin grad echt nicht so gut drauf.“ - „Warum?“ frage ich und ernte Schweigen, als wir die breite Straße überqueren, ohne auf die Zeichen der Ampeln zu achten. „Beh, hatte Stress!“ - „Ok. Warum? Mit wem?“ - „Beh, meinen Eltern“, hält er mir die Tür zu Bar auf und zieht mich leicht am Arm zur Theke hin. „Wein?“ Ich nicke. „Rot?“ Auch das! Der Mann hinter der Theke beäugt ihn skeptisch. Mit seiner Schürze steht er hier bestimmt Tag und Nacht, hier in seinem Reich, seiner Bar, und das sicher schon seit Jahren. Genau genommen müsste er ja aber mich schräg anschauen, finde ich, so wie ich hier sitze, mit meinen Schlapperklammotten, ohne Make-up, eben überhaupt nicht zurechtgemacht. Mein neuer Begleiter hingegen ist doch ganz gut gekleidet mit seiner kurzen weißen Sommerjacke, dem hellen beschen Hemd und dem weißen T-Shirt darunter. Aber vielleicht ist es genau das, was ihn skeptisch macht, dass so einer mit so einer wie mir hier auftaucht.
“Salute!“, halten die langen Finger meiner neuen Bekanntschaft mir sein Glas entgegen. „Salute!“, stoße ich mit meinem Glas daran. Schön sind die, finde ich, diese, seine Finger. „Von wo aus Deutschland bist du?“, will er wissen, scheinbar nicht in der Laune, weiter über den Stress mit seinen Eltern zu reden. „Und was machst du hier in Italien? Rumreisen?“, schlussfolgert er sicher aus der Tatsache, dass ich mit einem Rucksack unterwegs bin und ich nicke. „Und was hast du gesehen bisher?“ - „Ich war in Florenz. Jetzt hier...“, versuche ich wenigstens die letzte seiner Fragen zu beantworten, bevor ihm wieder eine neue einfällt. „Und gefällt dir dieses Land?“, erkundigt er sich, als hätte er selbst rein gar nichts mit diesem Land, in dem er ja wohl selbst lebt, zu tun. „Ja, sehr!“, ist meine ehrliche Antwort. „Hm“, macht er mal wieder. Unklar, was genau er mir damit sagen will. Immer wieder begegnen sich unserer Blicke, aber er lässt mich nie länger als ein, zwei Sekunden lang in seine Augen schauen. Dabei wirkt er nicht unbedingt schüchtern und nunmehr auch schon ein wenig ruhiger als vorhin. Kleine Augen. Grün. Und flink. Kleine, grünbraune Augen, die flink umherschauen, als wollten sie stets alles um sie herum mit wenigen Blicken erfassen. „Hast du Geschwister?“ Wie er jetzt wohl auf diese Frage kommt? „Ja, einen Bruder.“ - „Ah, sí, ich auch. Älter?“ – „Nein, zwei Jahre jünger.“ - „Beh, wie bei mir.“ Er stürzt den Wein hinunter, bestellt gleich noch zwei Gläser, verlangt Wasser dazu. Wieder erntet er einen skeptischen, ja fast schon abfälligen Blick des Mannes hinter der Theke. Ich will auch gar nicht noch ein Glas, aber er fragt ja nicht. Er wird es schon auch noch hinunterkippen, denke ich mir amüsiert und trinke weiter vom Inhalt meines ersten. „Also hast du Ferien?“, wechselt er erneut das Thema. „Nein, Ferien habe ich nicht mehr.“ -„Dann arbeitest du?“, schlussfolgert er richtig und das klingt nach: Arbeitest du etwa? Lachend nicke ich diesmal. „Wie alt bist du?“, hat er wohl gedacht, ich sei jünger und würde noch zur Schule gehen. „Achtzehn. Und du?“ - „Achtzehn? Ah, du bist noch jung!“ findet er, doch mir scheint, da war ein wenig Ironie mit im Spiel. „Ja, ja, und du?“, nehme ich seinen Ausspruch daher auch nicht so ernst. „Einundzwanzig“, verkündet er so, als wäre ihm das schon viel zu alt. „Ja“, betone ich anerkennend, „da bist du ja wirklich viel älter als ich!“, und freue mich über sein Lächeln. „Also, womit verdienst du dein Geld?“, will er nun doch sehr neugierig wissen und da meine Antwort ihm wieder einmal nicht schnell genug kommt, beginnt er zu raten. „Du machst was mit Kindern!“, versucht er meinem Gesicht zu entnehmen. „Im Kindergarten oder als Lehrerin?“ - „Nein!“ Da hat er etwas in meinem Gesicht missverstanden. „Sekretärin?“, grinst er mich an. „Findest du, ich sehe so aus?“, grinse ich zurück. „OK. Also Hausfrau von zwei Kindern?“ Ach, er gibt schon auf! „Genau!“, bestätige ich ihm und halte ihm mein Glas hin, damit er anstoßen kann daran. „Ich habe die Schule geschmissen, ein Jahr vor dem Abitur“, verrate ich ihm dann gespannt auf seine Reaktion. „Mit achtzehn? Da ist man doch fertig!“, kann er zunächst nicht verstehen. „Ach nein“, erklärt er sich dann aber selber. „Bei euch dauert die Schule bis zum Abitur ja ein Jahr länger als im Rest der Welt.“ Das als weiß er, woher auch immer. „Aber du? Geschmissen?“, traut er mir das wohl nicht zu. „Man, dann haben wir ja etwas gemeinsam. Und jetzt?“- „Verkaufe ich Bücher“, grinse ich. „Echt! Siehst gar nicht so aus!“, meint er es diesmal erstaunlich ernst. „Weil?“, muss ich lachen. „Na, Brille und so“, scherzt er und wird dann nachdenklicher. „Ja, so stelle ich mir Buchhändler vor. Immer in ihre Bücher vertieft“, und dann ergänzt er nach kurzer Überlegung, als müsse er sich selbst noch davon überzeugen, „Na klar! Von morgens bis abends, egal, wo sie sind. Nicht? Immer in so anderen Welten versunken. Du aber bist so nicht! Du bist offen!“ - „Offen?“ Was meint er damit? - „Na, offen, eh!“, will er nicht glauben, dass ich nicht weiß, was er damit sagen will. „Also, als ich dich da im Bahnhof sah, wusste ich sofort, dass ich dich ansprechen kann, verstehst du? Ah, und du hast nicht gelesen!“, triumphiert er. Schön, mit ihm zu lachen. Nichts mehr von dieser unglaublichen Hastigkeit. „Ich dachte wirklich, dass Leute die Bücher verkaufen immer lesen, immer mit der Nase in einem Buch stecken“, sagt er nun wie zur Entschuldigung und tut so, als würde er die seine, die große, ganz tief in eines hineinstecken. „Ach nein, das denkst du nur. Und außerdem verkaufe ich sie ja auch nur. Als Job, um Geld zu verdienen“, erkläre ich ihm. „Hm“, ist er aber noch immer nicht überzeugt oder hat meine letzten Worte vielleicht auch nicht verstanden. „Also, warum hast du nicht gelesen, als du gewartet hast?“ - „Na, ich habe Urlaub!“, finde ich und wir lachen wieder.
Schön, dass er meine Ironie versteht, freue ich mich, obwohl wir beide nun wahrlich nicht perfekt Englisch sprechen. Nur manche Sätze gelingen schnell und ohne Überlegung. Immer wieder müssen wir beide auch nach passenden Vokabeln suchen, beziehungsweise den treffenden Umschreibungen für sie. So aber ist es fair, was, würden wir Italienisch reden, ganz anders wäre. Auch zeigt mir, dass er nun lacht, dass man diese Form des feinen, aber verdeckten Spottes nicht nur an der Wahl der Worte erkennen kann, sondern eben häufig schon an der Betonung, mit welcher solch ironische Bemerkungen geäußert werden sowie auch an dem Ausdruck des Gesichtes, der mit diesen Äußerungen einhergeht.
Einen Moment lang schaut der junge Mann neben mir mich nun an und hat plötzlich direkt etwas Sanftes, etwas Weiches an sich. „Und du?“, hoffe ich, dass ich jetzt nicht raten muss. „Ich?“, winkt er ab. „Ich habe angefangen zu studieren. In Macerata. Kennst du die Stadt?“ – „Die ist quasi schon in den Bergen in den Marchen, nicht?“, meine ich. „Dort gibt es eine der ältesten Universitäten Europas“, nickt er „Weißt du?“ Nein, ich weiß nicht! „Gegründet im Jahr 1290 nach Christi, eh!“ Ich hoffe, er sieht Anerkennung in meinem Gesicht! „Und was studierst du da?“, will ich natürlich wissen. Er hebt einen Zeigefinger und bewegt ihn hin und her, während er mit der anderen Hand das Glas vom Mund zurück auf die Theke stellt. „Ich hab` doch gesagt, wir haben was gemeinsam. Ich habe es abgebrochen, wie du. Rechtswissenschaften! Maah (abweisend), das ist nicht mein Ding!“ – „Echt nicht?“, kann ich das gar nicht nachvollziehen. „Da könntest du doch die Welt ein wenig besser machen, wenn du später Anwalt oder Richter wirst.“ – „Tsss!“, macht er und schaut mich fast höhnisch an. „Glaubst du daran? Glaubst du daran, dass das Recht auch gerecht ist? Daran, dass man als Anwalt oder Richter tatsächlich Gerechtigkeit schaffen kann? Ich nicht!“, untermauert er das Gesagt mit einem vehementen Abwinken seiner freien Hand. „Aber warum hast du dann überhaupt mit diesem Studium angefangen?“, muss ich mich da ja wohl wundern. „Beh“, verzieht sich sein Gesicht „etwas anderes hätten meine Eltern niemals zugelassen! Und wenn es nach ihnen geht, dann müsste ich mich auch auf Wirtschaftsrecht spezialisieren. Verstehst du?“ Nicht so ganz, schaue ich ihn fragend an. „Na, die Reichen vertreten, damit sie noch reicher werden. Hältst du das etwa für gerecht?“ So, wie er es formuliert, sicher nicht.
Und dann scheint er diese Welt wieder für einen Moment zu verlassen, vollkommen abwesend zu sein. Ging es also wohl darum in dem Streit, über den er nicht sprechen mag. „Und was interessiert dich?“, versuche ich ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken. „Booh“, beginnt er wie so oft und wie so viele Italiener seinen Satz erneut mit einem von diesen Lauten. Diesen Lauten, die wie die Zeichen, die sie mit den Händen machen, alle eine Bedeutung haben, die jedoch, je nach Zusammenhang, auch variieren kann. „Also“, meint er in diesem Fall, „Musik. Ja, vielleicht sollte ich etwas mit Musik machen!“, scheint er kurz zu überlegen „Ah, ich kann nur Punk in ein Mikro schreien!“ nimmt er sich selbst aber gleich wieder zurück. „Weißt du, ich habe nie irgendwas spielen gelernt. Ist auch so typisch für meine Eltern!“ Ich glaube nicht, dass er für die Seinen, wie man seine Familie im Italienischen nennt, heute noch ein gutes Wort finden wird. „Sieh mal! Sie haben echt viel Geld. Wenn man Geld hat und Kinder, dann sollte man sie doch fördern, nicht? Sie sollten ein Instrument spielen lernen, vielleicht auch zwei. Sie sollten zeichnen lernen, malen, singen, was weiß ich!“ klingt das, was er da gerade von sich gibt, in meinen Ohren nicht verkehrt. „Aber nichts!“, empört er sich. „Nichts Kreatives!“, verzieht er sein Gesicht und äfft wohl die Stimme seines Vaters nach: “Junge, damit kann man doch kein Geld verdienen!“
Seinen Wein hat er ausgetrunken. Gespannt warte ich, ob er sich an meinem zweiten Glas zu schaffen machen wird. Aber er greift tatsächlich zu dem seinen mit dem Wasser darin, das vor ihm auf dem Tresen steht. „Du musst das doch wissen. Du liest den ganzen Tag. Kinder muss man doch fördern, oder? Und ihnen nicht immer nur erzählen, womit man Geld verdienen kann!“ Er kann sehr ausgiebig mit dem Kopf schütteln, hin und her. Was soll ich groß sagen? Sicher wäre das schön, wünschenswert. „Und dann wundern sie sich, wenn der Sohn voll auf Punk steht. Kommt doch davon!“ Na ja! Das ist auch eine mögliche Erklärung für diesen Musikgeschmack. Komisch nur, dass er so gar nicht so aussieht, als würde er auf diese Art von Musik abfahren. „Und du?“, weiß ich mal wieder nicht, was er von mir will. „Ich? Punk, meinst du?“ und sehe seine Nicken. „Ja, auch ok.!“ - „Aber lieber magst du Rock oder Pop, nicht wahr?“ Genau das meine ich! Es kann ganz sanft sein, dieses Lächeln von ihm, ohne jegliche Spur von Argwohn, Sarkasmus oder ähnlichem.
„Wir sehen uns gleich!“, wirft er mir schon im Weggehen begriffen zu, als wir aus der Bar in die dunkle Nacht hineintreten. Was hat er jetzt vor, frage ich mich und schaue ihm nach. Wie auch immer, ich muss jetzt nicht auch noch diesen Zug verpassen, finde ich, und versuche auf die andere Straßenseite zu gelangen. Die beiden Gläser Wein habe ich am Ende tatsächlich ausgetrunken. Genug für mich nach einem Tag wie heute um gut beduselt zu sein.
Attenzione, attenzione!
Mein Zug ist nicht in Sicht, sofern ich mich denn hier überhaupt auf dem richtigen Gleis befinde. Vielleicht sollte ich noch mal in der Halle nachschauen, jemanden fragen? Ach nein, brauche ich nicht. Er kommt schon die Stufen hinauf, eine Flasche Wein in der Hand. „Wie viele Liter sind das?“, wundere ich mich über ihre Größe. „Zwei, glaube ich“, schaut er auf das Etikett hinten drauf. Sie ist geöffnet, sehe ich jetzt, der Korken schaut aus dem Hals heraus. „Nein, es sind nur eineinhalb!“ Wir lachen wieder. Seine kleinen, flinken grünbraunen Augen leuchten durch die Nacht, als ich seinen freien Arm spüre, der sich langsam über meine Schulter um meinen Nacken legt und mich vorsichtig an ihn zieht. Er ist tatsächlich einen halben Kopf größer als ich, ist nun sicher. Und kalt ist er. Ja, wie ausgekühlt. Wo doch die Luft so warm ist um uns herum, noch immer. Ich schiebe meine Arme um seinen mageren Körper. Seine Hand streichelt meinen Hinterkopf. Er riecht gut. Nicht nach Parfüm. Nach irgendetwas anderem, aber dieses andere gefällt mir. Gut auch, wie es sich anfühlt! Eine ganze Weile lang. Und ganz still hält er jetzt. Bis auf die Finger seiner rechten Hand, die sanft durch meine Haare streichen, zappelt gerade mal nichts mehr an ihm. Auch, als diese Hand etwas weiter vor zu meinem Ohr, zu meiner Wange wandert und er meinen Kopf zaghaft ein kleines Stück nach oben richtet, während er den seinen ein Stück nach unten neigt, so dass er mit seinen Lippen die meinen berühren kann, zappelt er nicht. Und mehr passiert zunächst auch nicht. Erst einmal! Nicht mehr, als dass sich unserer Lippen berühren. Erst einmal abwarten, spüren. Dann erhöhen wir den Druck, die Intensität, beide zur gleichen Zeit, bis schließlich ein Spiel daraus wird. Ein Spiel der Lippen, bei welchem mal die seinen die meinen fast vollständig umschließen, mal die meinen die seinen. Als sie merken, dass sie schmecken, unsere Lippen, öffnen sie sich, so dass sich die Zunge ganz vorsichtig vortasten kann, vorschieben, hin zu der anderen, der hinter diesen Lippen, prüfen, ob sie bereit ist, sie zu berühren. Sie ist, wie ich selbst feststelle, sie ist. Und ich fühle mich gut, bei dem, was unsere Lippen da tun, und unsere Zungen.
Attenzione! Attenzione!
Schade fast, dass der einfahrende Zug uns aus dieser Zweisamkeit reißt. Und doch auch gut, weil dies ein so intensiver Moment war zwischen uns, die wir uns doch gerade erst kennen gelernt haben. Nun, da wir uns aus der Umarmung lösen, sind wir uns fremd. Auf jeden Fall aber ein wenig verunsichert beide. „Komm mit nach Rom!“, höre ich seine Stimme noch dicht an meinem Ohr sagen und ich schaue in seine kleinen, funkelnden Augen, als der Zug neben uns langsam und quietschend zum Stehen kommt. Rom, denke ich, während wir den Zug besteigen, ist sicher viel zu teuer und auch etwas weit.
Wir finden ein leeres Abteil, ohne dass ich mich lange mit dem Rucksack durch die engen Gänge zwängen muss. Im Nu ist die Schiebetür hinter uns geschlossen und die Vorhänge an der Glasfront zur Tür sind es auch. Gemeinsam hieven wir meinen Rucksack auf die Gepäckablage. Jo fasst links und rechts von sich unter die Sitze am Fenster und zieht sie mit einem Ruck in der Mitte zusammen. Gleich darauf wiederholt er den Vorgang mit den beiden Sitzen daneben. Das geht also auch in den Wagons der italienischen Bahn, lerne ich so. Wir strecken unsere Beine nebeneinander auf der Liegewiese aus, lehnen uns an der Wand unter der Gepäckablage an. Jo hebt seinen Arm an meiner Seite und schaut mich mit einem fast schüchternen Lächeln fragend an. Schließlich legt er ihn um mich, weil er in meinem Gesicht lesen kann, dass ich einverstanden bin und ich kuschele mich an. Er führt die Flasche Wein mit der freien Hand an seinen Mund, zieht den Korken mit den Zähnen heraus und grinst mich mit dem Korken zwischen den Zähnen an. Ich warte einen Moment, blicke in seine grünbraunen Augen, jetzt da er mir vertraut vorkommt. Dann ziehe ich ihm den Korken aus dem Mund, damit er trinken kann.
„Also! Kommst du mit?“ Lachend schüttele ich den Kopf. „Rom ist sicher teuer. Und wo soll ich dort bleiben?“ - „Du kannst mit mir zu meinem Onkel kommen“, ist er überzeugt. „Er ist wirklich nett. Er wird nichts dagegen haben. Und dann zeige ich dir die ganze Stadt.“
„Ich weiß nicht“, und weiß grad wirklich nicht mehr. „Und ich habe doch nur ein Ticket bis Foligno.“ - „Beh“, winkt er ab „das merkt doch keiner!“ Der Fahrkartenkontrolleur, der uns kurz darauf noch einmal in unserer Zweisamkeit stört, aber registriert das sehr wohl. Er weist mich darauf hin, dass ich noch umsteigen muss und auch darauf, dass ich mein Ziel erst spät in der Nacht erreichen werde. „Hast du denn eine Unterkunft gebucht in Perugia?“, bohrt der junge Mann neben mir. „Nein, ich gehe auf einen Zeltplatz oder schlafe am Bahnhof oder so.“ -„Siehste! Das habe ich mir gedacht!“, grinst er mich triumphierend an. „Was bitte soll das heißen?“ Er grinst ganz schön frech. „Ich hab`s doch gesagt! Du siehst nicht so aus, als würdest du so eine Reise planen. Ich habe doch gesagt, du bist offen! Nicht spießig und ängstlich wie viele andere Frauen!“ Ein bisschen hat er ja Recht, begreife ich, was er meint. „Was also willst du in Perugia?“, lässt er nicht locker. Aber was also will man überhaupt in irgendeiner italienischen Stadt? „Sie soll sehr schön sein, diese Stadt, habe ich gehört. Und es ist nicht so weit.“ -„So weit von was? Von Deutschland?“ - „Das auch. Und auch nicht so weit vom Meer, von der Adria.“ -„Du meinst, wenn es dir nicht gefällt dort, fährst du zurück und legst dich an den Strand, damit du doch noch viele Bücher lesen kannst?“ Er bringt mich zum lächeln, dieser Mann. „Ja, du hast das immer“, fällt mir aber ein. „Du wohnst hier! Du kannst jeden Tag ans Meer fahren, wenn du willst.“ - „Nein!“, wackelt sein mir bereits vertrauter langer Zeigefinger dicht an meinem Kopf hin und her. „Meine Eltern wohnen am Meer. Ich nicht mehr!“ - „Ach ja, Marcerata jetzt!“ - „Tss!“, schnalzt seine Zunge kurz. Also auch dort wohl nicht mehr. „Warum also Perugia und nicht Rom?“, tut er, als hätte meine Erklärung für ihn keinen Sinn ergeben. „Weil ich irgendwann auch wieder zurückfahren muss“, fällt mir langsam keine Begründung mehr ein. Lustiger Blick jetzt von ihm! „Eh!“, macht er. „Die paar Kilometer mehr! Und außerdem, du kennst das doch! Alle Wege führen nach Rom. Und das hießt im Umkehrschluss?“ - “Dass alle Wege auch von dort fortführen“, hat er mich grad beeindruckt. „Aber umsonst wird es trotzdem nicht sein.“ - „Eh!“, macht er wieder, etwas spöttisch dieses Mal. „Geld ist in Italien kein großes Problem!“ Nicht weiter darauf eingehen, denke ich und frage stattdessen: „Und was genau würdest du mir in Rom zeigen?“ - „Na, alles! All die Kulturdenkmäler, das alte Rom, die ganze Stadt eben!“, gibt er an. „Das Pantheon und das Kolosseum. Ah, kennst du das Kolosseum?“ Mein Kopf reibt verneinend an seiner Schulter rauf und runter. „Ohh“, zeigt er seine Anerkennung, „das erste Stadion der Welt. Vor 1800 Jahren erbaut. Stell dir vor! So groß und schon kurz nach Christi Geburt errichtet. Und es steht immer noch da!“ Erstaunlich, dass dieser junge Mann hier neben mir sich so sehr für alte Gebäude begeistern kann. „Na, es sind wohl eher Reste davon“, gebe ich zu bedenken, denn das eine oder andere Foto von diesem Wunderwerk habe ich ja nun auch schon einmal gesehen. „Nein, nicht Reste!“, empört er sich. „Es fehlen ein paar Steine, aber er ist noch immer klar zu erkennen wie es ausgesehen hat.“ Er nimmt einen Schluck Wein aus der Flasche, hält sie mir hin. Ich habe eigentlich genug. „Du musst es sehen!“, findet er. „In die Räume darunter gehen, von wo aus die Gladiatoren – Gladiatoren? Du weißt, was Gladiatoren sind? – Natürlich! Du liest Bücher, du musst das wissen!“ Und wieder lachen wir. „Also, von wo aus die Gladiatoren in die Arena gegangen sind. Dort kann man alles hören, was an Geräuschen aus der Arena kommt. Stell dir vor, das Geschrei der Menschen auf den Rängen, und dann das Geschrei der Kämpfer, wenn sie verletzt, zerfetzt worden sind!“ Eine ganz wunderbare Vorstellung, finde ich. „Du warst schon mal dort?“, nehme ich an. „Aber sicher! Ich bin Italiener!“, identifiziert er sich also doch mit dem Land, aus dem er stammt. „Bei uns fährt man dort mit der Schulklasse hin. Bei euch nicht?“, wundert er sich doch jetzt nicht wirklich. „Ach, nein! Bei euch wahrscheinlich nicht. Oder? Für euch sind die nicht so wichtig, die Römer. Oder?“ Er sieht süß aus, wenn er so mehr mit sich selbst als mit mir spricht und seine Mimik dabei ganz schnell wechselt, hin und her. Bohrend aber wird nun sein Blick. „Da ist noch was anderes, stimmt´s? Noch ein anderer Grund, warum du nicht so weit von hier weg willst.“ Er hat mich durchschaut, weiß ich in diesem Moment. „Ahh“, grinst sein Gesicht. „Du hast jemanden kennen gelernt, richtig? Du hast dich verliebt, dort an der Adria? Hab` ich Recht?“ Ich werde ihm nichts mehr vormachen können jetzt. „Na los, erzähl schon! Warum bist du im Sommer an die Adria gefahren? Zum Urlaub machen, stimmt´s? Und wo hast du ihn kennen gelernt? Am Strand?“ Und als würde mein neuer Reisebegleiter plötzlich zur Ruhe kommen, lehnt er seinen Kopf nach hinten an die Wand und lauscht tatsächlich nur noch meinen Worten.