Читать книгу Einführung in die katholische Dogmatik - Johanna Rahner - Страница 21
3. Dogmatik als Denkformanalyse
ОглавлениеSitz im Leben
Kirchliches Zeugnis geschieht immer für eine bestimmte Zeit, an einem bestimmten Ort für eine bestimmte Gruppe von Menschen, hat einen konkreten ‚Sitz im Leben‘, weil die Botschaft es wert ist, gerade hier und jetzt diesen Menschen gesagt zu werden ([14] 167). Neue Situationen der Überlieferungsgeschichte ergeben neue Fragen und neue Antworten, neue Einsichten setzen sich durch; und erst in diesem ganzen Spektrum der Entwicklung kommt die Vielfalt und Breite der Wahrheit durch. Nicht die Wahrheit wächst, aber die Erkenntnis. Das bedeutet aber, dass die geschichtlichen Etappen unserer Glaubensüberlieferung für uns heute noch relevant sind und für unsere heutige Vergegenwärtigung und Bezeugung nicht einfach ausgeklammert werden dürfen ([14] 167). Weil Glaubensüberlieferung in Bekenntnis und praktischem Lebenszeugnis vergegenwärtigt wird, muss sie je neu angeeignet werden. Aneignung ist die je eigene, neue Interpretation der schon interpretierten Glaubenswahrheit, zugleich wandert in diese Aneignung immer das je aktuelle Denken des Menschen ein. Aneignung ist daher die Vermittlung von gegenwärtigem Bewusstsein und überlieferter Glaubenswahrheit.
Denkform
Die Überlieferung unseres Glaubens bedeutet immer schon ‚Kontinuität im Wandel‘. Überlieferung ist lebendige Auslegung in stets neue, andere Lebenswelten hinein. Jede Zeit und Kultur hat dabei ihre besonderen Denkarten und Denkformen. Denkformen sind bestimmte Verstehenshorizonte einer Zeit. Sie spiegeln ein bestimmtes Selbstverständnis, ein Vorverständnis, das bestimmte Weisen des Denkens, Erkennens und Sprechens im Voraus festlegt. Bestimmte begegnende Inhalte werden aus diesem Vorverständnis heraus erkannt, verstanden und angeeignet. Zugleich kann Neues, das kennen gelernt wird, das eigene Verständnis, die Denkform verändern. Die ‚Wahrheit‘ des Glaubens wird in verschiedensten Denkformen überliefert, darin verstanden und zur Aneignung ausgelegt. Aneignung bedeutet Übersetzung in die je eigene Denkform und Lebenswelt. Fragen treten ins Blickfeld, die vorher noch nicht an der Tagesordnung waren. Gefundene Antworten müssen stets gerade im Horizont der jeweiligen Denkform verstanden werden. Nur so wird klar, was sie aussagen wollten und was sie aussagen konnten. D.h. man versteht heute nur richtig, wenn die frühere Denkform verstanden ist. So gelingt es, über die je verschiedenen Denkformen und ihre gegenseitige Verbindung so etwas wie die Identität der Glaubenswahrheit zu entdecken.
christologischer Maßstab
Maßstab hierfür kann nur die in Jesus von Nazaret selbst Ereignis gewordene Offenbarung Gottes sein. D.h. jede in der Glaubensgeschichte wirksam gewordene Überlieferung muss sich am Grundgeschehen selber messen lassen. Dies kann freilich nur durch die bereits angedeutete Methode der Analyse der je eigenen Denkform geschehen, die ja gerade die je eigene Vergegenwärtigung und Aneignung und die vorgegebene Glaubenswahrheit selbst miteinander ins Spiel bringt. Man muss die Denkform danach befragen, „ob und in welchem Maße sie überhaupt den wesentlichen Inhalt der Geschichte Jesu zum Ausdruck zu bringen vermochte“ ([14] 173). Weil aber christliche Wahrheit zugleich immer auch unser menschliches Verstehen, unsere Vernunft beansprucht, ist gerade die Instanz der Vernunft herausgefordert, ihre eigenen Kriterien wie z.B. theoretische Möglichkeit und anthropologische‘ Relevanz mit einzubringen.
Praxis
Gläubigem Handeln fällt dabei die Rolle zu, zu zeigen, ob auf diese Wahrheit des Glaubens in der Wirklichkeit auch ‚gesetzt‘ worden ist, ob greifbar und erkennbar wurde, dass hier Wahres von Gott und Wahres über den Menschen gesagt worden ist. D.h. in der Glaubenspraxis lässt sich eine Kontinuitäterfahren, die die Echtheit, dessen, was da gesagt wird, verbürgt ([14] 176). Eine die Wahrheit und die Praxis wirklich vermittelnde Aneignung geschieht dort, wo Menschen sich in diesen Überlieferungsprozess hineingestellt haben und hineinstellen, damit sie als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft diese Wahrheit der Freiheitsgeschichte Gottes mit den Menschen im eigenen Leben vergegenwärtigen. Das geschieht, indem sie sich in ihrer Lebenspraxis von diesem Heilswillen Gottes wirklich beanspruchen lassen, die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe darzustellen und so die Bestimmung der Menschen zeichenhaft zu realisieren ([14] 178). Dem Primat der Praxis muss dadurch Rechnung getragen werden, dass Überlieferung nicht nur auf ihre ausgesagten ‚Sätze‘ hin überprüft wird, sondern auch auf die Praxis hin. Daraus sind nun abschließend einige methodische Leitlinien zu formulieren:
Leitlinien
(1) Die vorgeprägten Formeln, überlieferten Redewendungen, überkommenen Leitsätze etc. mit ihrer häufig komplizierten und spannungsreichen Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte, die uns in unserer Beschäftigung mit unserer Glaubenstradition begegnen, müssen verstanden werden als geschichtliche Abwandlung eines Grundverständnisses.
(2) Dogmatische Aussagen werden dann richtig verstanden, wenn man sie in ihre Auslegungs- und Traditionsgeschichte hineinstellt und dort verortet. Häufig ergibt sich dabei trotz gleicher oder ähnlicher Wortwahl ein sehr unterschiedliches Verständnis.
(3) Solchermaßen auf ihre Grundbegriffe durchleuchtete Aussagen sind leichter in ihre Problemgeschichte einzuordnen. Die dogmatische Aussage ist daher nie fix und unmittelbar einsichtig, sondern verweist sofort auf ihren Entstehungsort und erlangt von daher ihre Bedeutung.
(4) Eine solche Analyse hat insbesondere auf die Entstehungszusammenhänge Rücksicht zu nehmen. Die ‚Sprechsituation‘ vor Ort ist von zentraler Bedeutung. So macht es eben einen Unterschied, ob eine Aussage als Kampfwort, zur Abgrenzung, als Kompromiss oder als Versöhnungswort gemeint ist.
(5) Dogmatische Aussagen verweisen zugleich auf die hinter ihnen stehende Gemeinschaft (Kirche, Gruppe etc.). Durch eine Analyse des allgemeinen Verständnisses einer Aussage wird auch dieser soziologische ‚Ort‘ näher bestimmt.
(6) Ein Blick auf solche ‚Ortsbestimmungen‘ macht deutlich, wie unterschiedlich Sprache der Theologie und Alltagssprache sein können. Dieses Gefalle ist zu berücksichtigen. Das verhindert auch die Dominanz nur eines ‚Sprachspiels‘ oder nur einer bestimmten Schultradition.
(7) Die Analyse von Ort und ‚Sprachspiel‘ öffnet zugleich den Blick auf die Geschichtlichkeit der Aussage. So ist eine dogmatische Aussage konstant und flexibel zugleich. So kann sich der Blick durch die Offenlegung der ursprünglichen Bedeutungsvielfalt von einer verengten Sicht hin auf einen weiteren Sinngehalt bzw. auf eine Erneuerung scheinbar verbrauchter‘Aussagen öffnen.
Welche Leitlinien folgen daraus für die Aufgabenbeschreibung der Dogmatik?
1) Dogmatik ist hermeneutische Theologie
Bergungsunternehmenfür Glaubenssätze
Dogmatik hat auf jeder Ebene der Glaubensüberlieferung die Grundreflexion auf die sie tragende Sprache, Sprachfähigkeit und Sprachmöglichkeit und die sich daraus ergebende Aussagefähigkeit zu leisten. Sie ist ein „Bergungsunternehmen für die Glaubenssätze“; sie bewahrt sie, indem sie sie „interpretierend ergänzt und in Treue zum Inhalt neu formuliert“ ([1] 36). Sie artikuliert die formale Perspektive des Glaubens inhaltlich rational und im Dialog mit den anderen humanwissenschaftlichen und theologischen Disziplinen; im Dialog von Kirche und Kirchen, Kirche und Religionen, Kultur, Öffentlichkeit, Wissenschaft. Sie leistet diese Aufgabe im Bereich der Grundlagenreflexion und im Bereich der einzelnen Inhalte/Traktate, sei das nun die Gotteslehre, die Schöpfungslehre, die Anthropologie, die Gnadenlehre, die Christologie, die Eschatologie oder die Ekklesiologie (s. B).
2) Dogmatik ist gekennzeichnet durch ihre Kirchlichkeit
Zeugengemeinschaft
Die geschichtlich ergangene Botschaft der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus von Nazaret kann heutigen Menschen nur über die Kette der Zeugen, über ihr persönliches Lebenszeugnis zukommen. Also ist jeder und jede im persönlichen Glauben durch und durch auf die Gemeinschaft der Glaubenden angewiesen. Die Kirche selbst ist daher ‚Zeichen‘ (,Ort‘) und ‚Werkzeug‘ (,Instrument‘) des Heilswillens Gottes (vgl. Lumen gentium Art. 1). Theologie ist nur innerhalb dieser Lebens- und Zeugengemeinschaft möglich und nur im Gefolge der lebendigen ‚Überlieferung‘ (traditio) dieser Gemeinschaft sinnvoll (vgl. dazu auch IV.7). ‚Kirchlichkeit‘ der Theologie bezeichnet diese Eingebundenheit in diesen lebendigen Überlieferungsprozess, in dem sich allein das Ursprungsgeschehen angemessen auszulegen und zu vergegenwärtigen vermag.
3) Dogmatik ist gekennzeichnet durch ihre Wissenschaftlichkeit
vernünftige Verantwortung
Dogmatik ist an die Gemeinschaft der Glaubenden gebunden, weil und insofern diese die ‚Wahrheit‘ der Selbstoffenbarung Gottes greifbar macht. Die ‚Wahrheit‘ des Glaubens fordert den Verstand heraus. Dogmatik hat der redlichen Verantwortung des Glaubens vor der Vernunft zu dienen (s. III.5). Das genau macht ihre Wissenschaftlichkeit aus. Christlicher Glaube spricht an zentraler Stelle davon, dass die Freiheit des Menschen als sein eigentliches Kennzeichen und die Bedingung der Möglichkeit einer Offenbarung Gottes ist. Diese Freiheit sichtbar zu machen und als Leitmotiv jeglicher Rede von Gott zur Sprache zu bringen, ist darum die zentrale Grundaufgabe der Dogmatik als Grunddisziplin der Theologie. Darin zeigt sich ihre Verpflichtung auf den Menschen. So heißt das vierte Grundprinzip auch:
4) Dogmatik ist an der Lebenspraxis der Menschen orientiert
Zeichen der Zeit
Theologie als Ganze hat die ‚Zeichen der Zeit‘ zu erkennen und zu deuten und sie ist offen gegenüber den Problemen der Zeit. Das ist das pastorale Grundkonzept des Zweiten Vatikanums. Theologie geschieht nicht im luftleeren Raum, ist kein theoretisches Spiel, sondern hat konkrete Folgen in Welt und Gesellschaft. Der Praxisbezug ist demnach das entscheidende Kriterium von Theologie. Der Dogmatik ist daher auch die konkrete Verhältnisbestimmung von überlieferter Glaubensüberzeugung und Reflexion der Praxis als Aufgabe gestellt.