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1429 Dilsberg, August
ОглавлениеSchwester Katharina verließ einmal in der Woche gemeinsam mit zwei weiteren Ordensschwestern das Kloster, um im nahe gelegenen Dilsberg die kranken Kinder des Waisenhauses zu versorgen. Zu gerne wäre Helena mitgekommen, doch nach wie vor hielt die Äbtissin ihr Verbot aufrecht, und Helena sah ihren Mitschwestern sehnsüchtig hinterher.
Seit Helenas Ankunft im Kloster Lobenfeld war inzwischen mehr als ein Jahr ins Land gegangen. Der Sommer neigte sich dem Ende, und die Tage wurden allmählich kürzer. Einvernehmlich arbeitete die junge Laienschwester Seite an Seite mit Schwester Katharina. Aus Efeublättern stellten sie einen Extrakt her. Das Elixier wirkte besonders gut gegen Husten, und nun, da die kältere Jahreszeit vor der Tür stand, legten sie einen Vorrat an. Zu dem Efeutrank gaben sie ein wenig Honig, um den bitteren Geschmack abzuschwächen. Im Frühjahr hatten sie Lindenblüten gesammelt und getrocknet. Auch davon würden sie in der kalten Jahreszeit einiges brauchen, denn aufgebrüht wirkten die getrockneten Pflanzenteile fiebersenkend.
Jetzt im August gab es noch jede Menge anderer Kräuter zu suchen: Beinwell gegen Blutergüsse und Verstauchungen, Frauenmantel gegen, wie der Name schon vermuten ließ, Frauenbeschwerden, und Eisenkraut, ein wahres Wunderkraut gegen vielerlei Beschwerden, das man äußerlich und innerlich anwenden konnte. Und natürlich Weidenrinde. Davon konnte man nie genug haben, denn sie half bei Fieber, Schmerzen und Entzündungen. Vergangenen Winter hatte Helena die meiste Zeit im Skriptorium verbracht und geholfen, die bisher kopierten Seiten des Buches von Hildegard von Bingen zu illustrieren.
»Helena«, plötzlich stand die Äbtissin neben ihr, Helena zuckte erschrocken zusammen, war sie doch in ihre Arbeit vertieft gewesen, »morgen wirst du Schwester Katharina und Schwester Innocentia zum Waisenhaus begleiten.«
Helena sah auf, starrte sie ungläubig an. Hatte sie das richtig verstanden? Sie durfte morgen die Klostermauern verlassen?
»Ehrwürdige Mutter, ich …«, stotterte sie.
Ein feines Lächeln glitt über das Gesicht der Äbtissin. »Ja, mein Kind, du wirst den Schwestern morgen zur Hand gehen. Ich denke, es ist an der Zeit, dich mitgehen zu lassen.«
Helena sank auf die Knie, griff nach Maria Ignatias Hand, küsste den Ring. »Ich danke Euch, ehrwürdige Mutter.«
Die Äbtissin half ihr hoch. »Du hast eine außergewöhnliche Auffassungsgabe. Du lernst schnell, bist gehorsam und fleißig. Dies ist nun der Lohn dafür, dass du dich so schnell in unsere Gemeinschaft eingefügt hast. Also, enttäusche mich nicht, wenn du morgen mit zum Waisenhaus gehst.«
»Das werde ich nicht, ehrwürdige Mutter. Ganz bestimmt nicht.«
In der Nacht fand Helena vor Aufregung keine Ruhe, wälzte sich auf ihrem Lager hin und her, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Das Aufstehen zur Hore kurz nach Mitternacht war noch schwerer als sonst, und zur Laudes bei Tagesanbruch kam sie kaum aus dem Bett. Doch als sie endlich mit den Schwestern aufbrach, fühlte sie sich munter.
Ein alter Bauer, den Rücken krumm von jahrelanger harter Arbeit, kam mit einem Ochsengespann, um sie abzuholen. Die regelmäßigen Fahrten nach Dilsberg waren seine Gegenleistung für das Entgegenkommen der Äbtissin. Vor wenigen Monaten hatte sie Kuniberts einzige Tochter als Magd in den Dienst des Klosters aufgenommen. Das Mädchen, das mit einem verkrüppelten Fuß zur Welt gekommen war, half beim Waschen und Putzen. Arbeiten, die keine der Schwestern gerne versah. Kunibert war dankbar gewesen, denn er bezweifelte, dass jemals irgendein junger Bursche den Wunsch verspürte, ein hinkendes Mädchen zu heiraten, und so hatte der Bauer ein Maul weniger zu stopfen.
Bei strahlender Sonne rumpelte der Ochsenkarren los. Helena saß auf einer Decke zwischen Säckchen, Krügen und irdenen Töpfen, die getrocknete Arzneipflanzen, Elixiere und Salben enthielten und in zwei großen Weidenkörben gut verstaut waren. Trotz der holprigen Fahrt genoss sie die kurze Reise nach Dilsberg. Auf den Feldern wurden Dinkel, Roggen und Emmer geerntet. Zahlreiche Männer schnitten das Korn, welches die Frauen und älteren Kinder zu Garben bündelten, die sie aufstellten, damit sie in den nächsten Tagen in die Scheunen gebracht werden konnten. Helena dachte an ihre Familie. Auch ihr Vater und Siegfried würden vermutlich nun auf den Feldern arbeiten und hoffen, dass es nicht regnete, bevor das Getreide trocken in den Scheunen lagerte. Feuchte Halme faulten, und das bedeutete einen Winter voller Hunger. Wenigstens ging es ihrer kleinen Schwester Greta gut, die immer noch bei Anna lebte. Das hoffte sie zumindest.
»Heute ist Markt in Dilsberg«, erzählte Kunibert, der auf dem Kutschbock saß, und blickte über die Schulter zu den Frauen. »Wenn Ihr etwas braucht, Schwester Katharina, dann kann ich es besorgen, solange Ihr im Waisenhaus Euren Dienst verseht. Das verkürzt mir die Wartezeit.«
»Das trifft sich gut, Kunibert. Bring uns gerauchten Fisch, gepökeltes Fleisch und Käse«, antwortete die Nonne. Sie griff unter ihre schwarze Kukulle, knotete einen ledernen Beutel von ihrem Gürtel, der die Tunika hielt, und ließ einige Münzen in ihre Hand gleiten.
»Schwester Innocentia, du wirst Kunibert begleiten«, sie reichte ihrer Mitschwester die Münzen, »Helena kommt mit mir.«
»Sieh nur, Helena, dort oben liegt Dilsberg«.
Helenas Blick folgte staunend Schwester Katharinas ausgestrecktem Zeigefinger. Die beeindruckende Burgfeste lag auf einer Kuppe an einer Neckarschleife. Der sechseckige Bergfried, der die Burg überragte, war schon von Weitem für jedermann sichtbar. Helena sah die mächtige Schildmauer der Vorburg, hinter welcher sich die Häuser der Bewohner von Dilsberg befanden. Die Einwohner der Stadt waren allesamt freie Bürger und mussten keine Steuer entrichten, wie Schwester Katharina erklärte. Dafür mussten sie jedoch ihre Unterkünfte für Aufenthalte der Heidelberger Hofgesellschaft oder in Kriegszeiten für die Soldaten zur Verfügung stellen. Vom Turm flatterte ein Banner im lauen Sommerwind, das das Wappen des Kurfürsten Ludwig aufwies. Zwei sich gegenüberliegende Felder, die je einen auf den Hinterbeinen stehenden Löwen mit roter Krone zeigten, die anderen beiden Felder leuchteten in sich abwechselnden weißen und blauen Rauten.
Kunibert passierte das Stadttor, hielt wenig später die schnaufenden Ochsen vor dem Waisenhaus an und half den Nonnen beim Aussteigen. Helena blieb auf der Ladefläche stehen und reichte die Weidenkörbe hinunter. Dann kletterte auch sie vom Wagen, trug gemeinsam mit Schwester Katharina die Körbe hinein, während Schwester Innocentia mit Kunibert in Richtung Markt verschwand.
»Schwester Katharina«, wurde die Nonne von einer kleinen Kinderschar freudig begrüßt, als die beiden Frauen erschienen und für einen Augenblick die schweren Körbe absetzten. Sie tätschelte die Köpfe der Kinder, die alle etwa vier bis acht Jahre alt waren.
»Wer bist du denn?«, traute sich ein kleiner Junge zu fragen und zupfte zaghaft an Helenas Habit.
»Ich bin Helena. Und wie heißt du?«
»Siegfried.«
»Mein Bruder heißt auch Siegfried«, lächelte sie und strich ihm über die schmutzige Wange.
Schwester Katharina bedeutete Helena, ihr zu folgen, und nahm einen der Körbe auf. Helena griff sich den zweiten, und der kleine Siegfried trabte neben ihr her und plapperte vor sich hin.
»Die Anna ist ganz krank, und Jacob hat sich heute Morgen das Bein gebrochen.«
»Na, dann ist es ja ein Glück, dass wir nun hier sind«, erwiderte Helena.
Sie betraten den Schlafsaal, in welchem an die zwanzig Strohmatratzen auf dem Boden lagen, und stellten die Körbe ab. Siegfried legte seine schmale Hand in Helenas Linke und zog sie zu einer der Schlafstätten.
»Das ist Anna.«
Helena kniete sich neben die kleine Gestalt, die sie mit fieberglänzenden und geröteten Augen ansah. Als Helena eine Hand auf die Stirn des Kindes legte, hatte sie das Gefühl, sich zu verbrennen. Das dünne Kind glühte förmlich, und auf der Haut zeigte sich ein roter, fleckiger, knotiger Ausschlag.
Schwester Katharina, die hinzugekommen war, zog die Decke zurück, öffnete das Hemdchen der Kleinen. Auch hier waren die Flecken zu sehen, der ganze Körper des Mädchens war übersät. Helena erschrak.
»Zwei meiner Brüder sind vor vier Jahren gestorben. Sie zeigten einen ähnlichen Ausschlag«, raunte sie Schwester Katharina zu.
Statt einer Antwort nickte die Nonne nur, berührte für einen Moment Helenas Hand. Eine mitfühlende und tröstende Geste. Eine untersetzte Frau eilte herbei, eine der Vorsteherinnen des Waisenhauses, das menschenfreundliche Bürger gestiftet hatten.
»Gepriesen sei der Herr für Euer Kommen, Schwester Katharina! Zuerst hatte Anna nur Fieber und diesen bellenden Husten, gestern kamen diese Flecken hinzu. Es geht ihr immer schlechter.«
Die Nonne schob einen Finger zwischen die Lippen des Mädchens, ließ sie den Mund öffnen. Auf der Mundschleimhaut zeigten sich weißliche, teils violette Flecke. Sie hatte diese Zeichen schon mehrfach bei anderen Kindern gesehen und wusste, diese Krankheit, deren Namen sie nicht kannte, konnte gefährlich werden. Vor allem bei solch schwächlichen Kindern wie die kleine Anna eines war. Nicht wenige Kinder verstarben daran. Und oft erkrankten binnen kürzester Zeit weitere Kinder und zeigten die gleichen Anzeichen.
Ein Hustenanfall schüttelte das Mädchen. Als es sein Köpfchen hob und ein Sonnenstrahl sein Gesicht traf, riss es jäh ein Ärmchen hoch, um sich gegen das Licht zu schützen. Auch Lichtscheu gehörte oft zu den Zeichen dieser namenlosen Erkrankung, wusste Schwester Katharina.
»Wir müssen sie in eine dunklere Ecke legen, das Licht tut ihr weh, und sie von den anderen Kindern trennen. Und dann bringt mir Tücher und kaltes Wasser«, forderte sie die Vorsteherin auf. »Helena, du gibst ihr Thymiantinktur zu trinken, dann sieh nach, ob wir Augentrost, Knoblauch und Spitzwegerich mitgenommen haben.«
Helena stand hastig auf und sah die Behältnisse in den Körben durch, während die Nonne das Kind aufhob und in einen anderen Raum brachte, wo es dunkler war.
Die Vorsteherin erschien mit dem Gewünschten und half, das Mädchen in feuchte Tücher zu wickeln, um das Fieber zu senken. Helena hielt Annas Kopf und flößte ihr von der Thymiantinktur ein.
»Augentrost und Knoblauch haben wir dabei«, sagte sie und setzte das Gefäß ab, damit das Kind schlucken konnte, »aber keinen Spitzwegerich.«
»Keinen Spitzwegerich? Wir haben genügend Elixier hergestellt, das kann nicht sein!«, rief Schwester Katharina ungläubig aus.
»Ich befürchte doch. Es ist meine Schuld, ich war so aufgeregt, dass ich mitgehen durfte. Ich muss es vergessen haben«, gestand Helena zerknirscht.
Die Nonne verzog verärgert das Gesicht. »Dann geh den Berg hinab, dort findest du bestimmt jede Menge davon. Beeil dich.«
Die Laienschwester nickte, verließ das Waisenhaus, eilte durch das Stadttor und lief so schnell sie konnte bergab. Die Vorsteherin hatte ihr noch einen Lederbeutel mitgegeben, in welchem Helena das Kraut sammeln konnte. Aufmerksam hielt sie ihren Blick auf den Wegrand geheftet, hob nur ab und an den Kopf, um sich an der herrlichen Landschaft zu erfreuen. Der Fluss glitzerte in der Sonne, und Helena hätte viel darum gegeben, sich ihres Habits entledigen zu können und in das kühle Nass zu springen. Das Wasser war sicher noch warm, denn die Spätsommersonne besaß noch erstaunlich viel Kraft.
Bisher hatte Helena noch keinen Spitzwegerich entdeckt, und ihre Verzweiflung wuchs. Hier am Wegrand würde sie wohl nichts finden, und sie beschloss, den Weg zu verlassen und in der angrenzenden Wiese zu suchen, die von einem Wald gesäumt wurde. Niemand war zu sehen, und sie gestattete sich, den lästigen weißen Schleier abzunehmen und ihn hinter ihren Gürtel zu schieben. Mit gespreizten Fingern fuhr sie sich durch die Haare und genoss den lauen Wind auf ihrem Haupt, während sie stumm Abbitte bei Äbtissin Maria Ignatia leistete.
Es war die richtige Entscheidung gewesen, denn bald sah sie die aufrechten, kräftigen Stängel des Spitzwegerichs mit seiner lang gezogenen Blütenähre zwischen den Gräsern und Blumen herausragen. Helena bückte sich und sammelte so lange, bis der Beutel fast gefüllt war. Während ihrer Arbeit hatte sie sich bis zum Waldrand bewegt. Gerade wollte sie sich auf den Rückweg machen, als ihr ein Schlehenstrauch auffiel, dessen Früchte schon aufgrund des warmen Wetters früher als sonst gereift waren. Die blauen Beeren konnte man zu einem Elixier verarbeiten, das den Körper stärkte. Ein Aufguss aus der Rinde galt als fiebersenkend und appetitanregend. Helena begann die Beeren zu pflücken und schabte mit ihrem Speisemesser die Rinde ab.
Ein Geräusch ließ sie aufschrecken. Aus dem Dickicht des Waldes brach eine Rotte Wildschweine hervor. Die wenige Monate alten Frischlinge rannten quiekend auf sie zu, gefolgt von der aufgebrachten Bache. Irgendetwas musste die Tiere aufgescheucht haben. Helena raffte ihren Habit mit einer Hand und spurtete los. Wildschweine waren gefährlich, vor allem wenn sie Nachwuchs hatten.
Der Habit hinderte sie daran, größere Schritte zu machen, und sie glaubte schon, den heißen Atem der Bache in ihrem Nacken zu spüren. Das wütende Grunzen gellte in ihren Ohren, und sie hetzte weiter, bis sie den Weg erreichte und warf einen schnellen Blick über die Schulter. Das erzürnte Muttertier hatte die Verfolgung aufgegeben und war mit ihrem Nachwuchs in den Schutz des Waldes zurückgekehrt. Als Helena erleichtert aufatmete und wieder nach vorn sah, stieß sie beinahe mit einem Reiter zusammen.
»Hooooh, Galen, brrr!«, beruhigte der junge Reiter seinen dunkelbraunen Wallach und tätschelte den schweißnassen Hals des Pferdes. »Wohin so eilig?«
Helena blickte in freundliche, haselnussbraune Augen. Der Reiter mochte nur wenig älter sein als sie. Seine gelockten Haare, die fast dieselbe Farbe wie das Fell seines Pferdes besaßen, trug er halblang, seine Wangen waren gerötet vom schnellen Ritt. Ein grünes Barrett saß keck auf seinem Kopf, unter dem schwarzen Wams trug er ein helles Hemd, dazu eine braune, enge Hose, und seine Füße steckten in Stulpenstiefeln.
Helena wurde sich ihrer offen zur Schau getragenen Haare bewusst. Verlegen nestelte sie den weißen Schleier hinter ihrem Gürtel hervor und bedeckte ihre dunkelrote Haarpracht.
»Verzeiht, junger Herr, die Hitze …«, murmelte sie.
»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, erwiderte er belustigt. »Ihr seid gerannt, als wäre buchstäblich der Teufel hinter Euch her.«
»Nur ein paar Wildschweine«, lächelte sie scheu. »Ich muss zurück in die Stadt. Ein schwerkrankes Mädchen benötigt meine Hilfe.«
»Toman Ostheim«, stellte sich der Reiter vor, »Ihr seid schneller, wenn ich Euch mit auf mein treues Pferd nehme«, bot er ihr an.
Ein verlockendes Angebot, doch Helena schlug es aus. »Habt Dank, aber es schickt sich nicht für eine Laienschwester, zu einem Fremden aufs Pferd zu steigen. Ich gehe zu Fuß. Gehabt Euch wohl, Toman Ostheim.«
Festen Schrittes folgte sie dem Weg bergauf. Toman ritt neben ihr her.
»Es schickt sich auch nicht, den Schleier abzunehmen«, stichelte er gutmütig. »Kommt schon, niemand wird Euch bemerken. Denkt an das kranke Kind. Ich setze Euch in der Nähe des Stadttores ab, dann könnt Ihr den Rest des Weges zu Fuß gehen«, erneuerte er sein Angebot und starrte unverwandt auf ihren Schleier, als könne er diesen mit seinen Blicken durchdringen, um ihr Haar noch einmal zu bewundern.
Helena ging weiter, sah stur auf den Weg, der immer steiler und anstrengender wurde. Ihre Beine wurden müde, vielleicht sollte sie das Angebot doch annehmen. Er schien ein ehrlicher Kerl zu sein.
»Nun gut, Ihr habt mich überzeugt.«
Toman Ostheim grinste, hielt sein Pferd an, reichte ihr seine rechte Hand, fasste mit der linken beherzt unter Helenas Achsel und hob sie vor sich in den Sattel. Helena hielt die Luft an, als Toman seinen Arm um sie schlang. Dann ließ er sein Pferd in einen leichten Galopp fallen.
Toman genoss das Gefühl, wie sein Arm die schmale Körpermitte des Mädchens umfing und dachte mit Bedauern daran, dass sie ihr Leben Gott widmen wollte.
Auch Helena gestand sich ein, sich in Tomans Nähe wohl zu fühlen. Seltsam, es störte sie ganz und gar nicht, wie er sie umschlungen hielt und ihren Rücken an seine Brust presste. Im ersten Augenblick, als er ihr so nahe gekommen war, war die Erinnerung an Cuntz zurückgekehrt und hatte ihr Angst eingeflößt. Doch diese war schnell einem neuen Gefühl gewichen. Fast fühlte sie sich geborgen.
Zu schnell erreichte Galen, Tomans Pferd, die Hügelkuppe, und abseits des Stadttores ließ der junge Mann Helena aus dem Sattel gleiten.
»Habt Dank, Toman Ostheim«, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln, das dessen Herz schneller schlagen ließ.
»Verrätst du mir deinen Namen und welchem Kloster du angehörst?«, schlug er einen vertraulichen Ton an.
»Helena. Ich gehöre den Zisterzienserinnen des Klosters Lobenfeld an. Nun muss ich mich eilen, lebt wohl.«
»Leb wohl, Helena. Du solltest dir gut überlegen, ob du wirklich Nonne werden willst«, meinte er frech und ließ sein Pferd in einen flotten Trab fallen. »Du bist viel zu hübsch, um dich unter Habit und Schleier zu verstecken«, rief er ihr über die Schulter hinweg zu.
Helena errötete und sah ihm hinterher, bis er durch das Stadttor verschwunden war.
»Wo hast du denn so lange gesteckt?«, fragte Schwester Katharina vorwurfsvoll.
»Ich musste den Berg hinunter bis zu den Wiesen, um Spitzwegerich zu finden«, erwiderte Helena. »Und am Waldrand habe ich Schlehen entdeckt und davon etwas mitgebracht.«
Von ihrer Begegnung mit dem jungen Toman erzählte sie nichts.
»Eil dich und bereite einen Sud aus Spitzwegerich und Weidenrinde«, wies die Nonne sie an, die in der Zwischenzeit das Bein des kleinen Jacob geschient und Annas Augen mit einem Umschlag aus Augentrost bedeckt hatte. Schwester Katharina hoffte, dass sich nicht schon andere Kinder angesteckt hatten. Aber sehr wahrscheinlich war es bereits zu spät.
Helena tat wie ihr geheißen und kehrte nach kurzer Zeit mit dem dampfenden Sud zurück. Als er etwas abgekühlt war, hob sie vorsichtig Annas Kopf und flößte dem Kind die Arznei ein. Während sie anschließend gemeinsam mit Katharina nach weiteren Kindern sah, die der Hilfe der heilkundigen Schwestern bedurften, dachte sie an den gut aussehenden Reiter und schämte sich beinahe des Gefühls, das sich ihrer dabei bemächtigte. Sie hätte ewig so weiterreiten können.
»Helena! Was machst du denn da?«, riss Schwester Katharina sie aus ihren Gedanken.
Anstatt die Johanniskrautsalbe nur auf die einzelnen, entzündeten Hautstellen am Rumpf eines Jungen aufzutragen, hatte sie nahezu den gesamten Oberkörper eingesalbt. Sie murmelte eine Entschuldigung, zog dem Jungen das Hemdchen wieder über den Körper und widmete sich einem anderen Kind, das eine eitrige Wunde am Arm hatte.
Zwei Stunden vor Anbruch der Dämmerung machten sie sich auf den Rückweg nach Lobenfeld. Schwester Innocentia war am späteren Nachmittag mit den gewünschten Waren zurückgekehrt und hatte mitgeholfen, die Kinder zu versorgen. Kunibert, der in einer nahen Schänke auf die drei Schwestern gewartet hatte, erzählte während der Heimfahrt, was er dort aufgeschnappt hatte.
»Der Kurfürst ist unheilbar krank, heißt es. Und um sein Augenlicht ist es wohl auch nicht gut bestellt. Er soll kaum noch etwas sehen können. Seit er vor zwei Jahren von seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land zurückgekehrt ist, geht es ihm wohl immer schlechter. Wer weiß, wie lange er noch zu leben hat.«
»Er ist auch an der Seele erkrankt«, seufzte Schwester Katharina, »den Tod seines Sohnes Ruprecht vor drei Jahren hat er nie verwunden.«
Kunibert nickte bedächtig, dann erzählte er, was ihm im Wirtshaus sonst noch zu Ohren gekommen war. Er mochte schreckliche Geschichten und war Klatsch und Tratsch nicht abgeneigt.
»Die Leute erzählen, letzten Monat sei ein toter Junge aus dem Neckar gefischt worden …«
»Bestimmt hat er den Fluss unterschätzt«, unterbrach ihn Schwester Innocentia, »das passiert immer wieder.«
»Niemand weiß, wessen Kind das war. Bedenkt man die Strömung, kann es von überallher stammen. Vielleicht hat es jemand von Bord eines Schiffes geworfen, wer weiß. Und die Aale sind hungrig …«
»Schweig still, Kunibert«, herrschte Schwester Katharina den Bauern an, der die grünliche Gesichtsfarbe ihrer Mitschwester bei Erwähnung der Aale nicht entgangen war.
Der Bauer zog eine beleidigte Miene und hieb den Ochsen mit seiner Fuhrpeitsche auf die breiten Rücken, damit sie schneller gingen. Doch die Tiere waren erschöpft von der Hitze des Tages, und so kamen sie erst zur Vesper im Kloster Lobenfeld an. Müde nahm Helena mit den Nonnen das gemeinsame Abendessen ein – Brot, Käse und verdünnten Wein – und nach der Komplet streckte sie sich auf ihrem Lager aus. Doch der Schlaf wollte lange nicht kommen. Immer wieder geisterte der junge Reiter in ihrem Kopf herum. Toman Ostheim. Lautlos sprach sie seinen Namen vor sich hin. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Schließlich schlief sie ein, und ihre Träume wurden beherrscht von haselnussbraunen Augen und einem charmanten Lächeln.