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September

Eins

Seufzend betrachtete ich die beachtliche Menge halbvoller Tassen und dreckiger Teller, die sich auf der Küchentheke angesammelt hatte. Gerade spielten sie im Radio eins von Neelas Lieblingsliedern, zu dem sie des Öfteren vor den Gästen herumtanzte. Glücklicherweise befand sie sich an diesem Morgen nicht in der Küche und konnte mich so durch ihren Gesang auch nicht vom Abwasch abhalten. An ihrer Stelle jedoch saß meine andere jüngere Schwester Beven Beine baumelnd auf der Theke gegenüber und beobachtete mich bei meiner Arbeit. Vor dem Fenster über der Spüle braute sich das zweite Gewitter des Tages zusammen, der Himmel war bereits dunkel verfärbt, graue Wolken befleckten in der Ferne den Horizont und beinahe konnte ich die ersten Böen durch das dicke Fensterglas anrauschen hören.

„Wollte die Familie aus Killarney nicht heute zum Segeln raus?“, fragte Beven und drehte ihre langen, dunkelbraunen Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammen, dessen Schiefheit ihr augenscheinlich gleichgültig war. Im Grunde komplementierte ihre Frisur sogar vielmehr ihren heutigen Look, der sich aus ihrer verwaschenen Jogginghose, einem zu großen Pullover und ihren alten, mit Katzenköpfen bedruckten Pantoffeln zusammensetzte. Hier in der Küche bekamen wir ohnehin keinen Besuch, somit hätte ich auch im Schlafanzug oder gar nackt den Abwasch machen können und niemand hätte sich daran gestört oder es auch nur bemerkt. „Hm, kann sein“, erwiderte ich und versuchte mich an das flüchtige Gespräch mit der Familie zu erinnern. Sie waren gestern Nachmittag angekommen und ich hatte ihnen eine Kanne Kaffee auf ihr Dachzimmer gebracht. „Soll ich ihnen wegen dem Wetter Bescheid sagen?“, fragte Beven erneut und bediente sich am Kühlschrank. Nachdenklich warf sie einen Blick hinaus. „Segeln kann bei dem Wetter ziemlich gefährlich sein“, meinte sie und stieß sich von der Theke ab. „Ja, mach das. Oder sag es Mom. Sie ist oben und arbeitet am Computer, vielleicht trifft sie die Familie auch noch irgendwo“, sagte ich und nickte. Mit einer Banane in der Hand und dem wackelnden Dutt auf dem Kopf schlurfte Beven aus der Küche. Ich hörte ihre Schritte an der Decke, als sie die Treppe hinauf stapfte. Dann waren da wieder nur ich und die einsame Stimme eines müden Radiomoderators, der, wenig vorausschauend, vor dem schlechten Wetter in der Umgebung warnte. Ich machte mich weiter an die Arbeit und zog Teller für Teller durch die Spüle, bis jeder ordentlich glänzte und wieder sortiert im Regal stand. Die sauberen Tassen stapelte ich im Schrank, legte schließlich meine Schürze ab und hängte sie an den kupferfarbenen Haken an der Wand.

Der Abwasch der vielen Teller war schon seit ein paar Jahren meine Aufgabe: Je nach Bedarf spülte ich deshalb in der Küche vor mich hin und genoss insgeheim das bisschen Ruhe, das ich für mich allein hatte. Als ich noch jünger war, waren meine Aufgaben im B&B anderer Natur, damals spielte ich bereitwillig die Rolle des niedlichen, kleinen Mädchens, das abends von Tisch zu Tisch ging und Brot verteilte oder draußen auf der Einfahrt stand und die neuen Gäste mit einem breiten Grinsen und aufgeregtem Händewinken begrüßte. Als ich schließlich älter wurde, begann ich abends die Tische zu decken, später machte ich die Zimmer und ein paar Jahre lang hatte ich so etwas wie einen Nebenjob als Kellnerin in meinem eigenen Haus. Dann aber führten wir das Selbstbedienungsprinzip ein und ich stieg zur professionellen Tellerwäscherin auf, die an unterschiedlichen Tagen morgens vor der Schule und abends nach dem Abendessen in der Küche verschwand.

Die anderen Mädchen in meiner Schule arbeiteten in Spielzeugläden und Cafés, manche trugen Zeitungen aus oder verdienten sich im Supermarkt etwas dazu, aber ich war von klein auf praktisch Assistentin und zweite Hand meiner Mom, die schon vor meiner Geburt das kleine B&B in Doolin, an der wilden Westküste Irlands, führte. Und auch, wenn Doolin an sich ein verschlafenes, nicht weiter spannendes Dörfchen war, hingen die weißen Felsen doch so anmutig über dem türkisblauen Meer, dass es die Menschen an diesen Ort zu ziehen schien. So war das Gästehaus meist gut besucht und die Arbeit stets endlos. Meine Freundinnen bemitleideten mich nicht selten für die unbezahlte Arbeit am Spülbecken, dabei gehörte das Mithelfen im B&B für mich wie selbstverständlich dazu. Ich arbeitete gerne in der Küche und plauderte mit meinen Schwestern über die Gäste und darüber, wie viel sie wieder nicht aufgegessen hatten, ob sie freundlich oder unhöflich waren und manchmal auch darüber, ob sie hübsche Söhne hatten. Dieser Fall trat jedoch verhältnismäßig selten auf und meistens waren wir ohnehin zu schüchtern, um diese Ausnahmegäste in irgendeiner Weise auf uns aufmerksam zu machen. Mit zwölf Jahren hatte Beven einmal aus kindlicher Neugierde einem Jungen aus Belfast einen Zettel mit ihrer Handynummer ins Zimmer gelegt, als sie dieses aufräumte. Die Enttäuschung war groß, als sie am nächsten Tag denselben Zettel zerknüllt im zimmereigenen Mülleimer fand. Das war zwei Jahre her, seitdem hatte niemand mehr von uns Versuche gestartet, sich mit den Gästen ernsthaft bekannt zu machen.

Auch in dieser Woche im regnerischen September lag das Durchschnittsalter der Gäste in einem eher uninteressanten Bereich und nachdem ich mir einen Müsliriegel aus dem Vorratsschrank genommen hatte, verließ ich die Küche und ging hinauf in mein Zimmer, das sich im oberen Bereich des Hauses befand. In der ersten Etage waren vier Gästezimmer untergebracht, darüber folgte eine separate Etage mit unseren privaten Zimmern und im Dachgeschoss gab es zwei weitere, kleinere Räume mit einem geteilten Bad. Mein Zimmer, das sich praktischerweise gegenüber des Badezimmers befand, war etwas größer als die Kinderzimmer von Neela und Beven, was daran liegen mochte, dass ich die Älteste von uns Dreien war. Groß war es deshalb aber noch lange nicht, das Bett, das sich ziemlich genau in die Zimmerecke hatte schieben lassen, war so schmal, dass ich manchmal herunterfiel, wenn ich mich im Schlaf zu sehr hin und her bewegte. Auf der anderen Seite des Raumes reihten sich ein weißer Kleiderschrank und ein kleiner eckiger Schreibtisch an die Wand, für mehr als einen alten, karmesinroten Sessel in der gegenüberliegenden Ecke war kein Platz. Somit besaß mein Zimmer einen ähnlichen Durchmesser wie die Gästezimmer auf den anderen Etagen.

An den Wänden sammelte sich eine Mischung aus älteren, an den Ecken verblichenen Postern und neueren, glänzenden Postkarten, die ich über dem Bett aufgehängt hatte. Ich bekam die Postkarten von Freundinnen geschenkt, wenn sie irgendwo eine entdeckten, von der sie dachten, sie könnte mir gefallen. Deshalb verband ich jede einzelne mit einer dieser Gesten.

Ich schlüpfte aus meiner Jogginghose und warf sie über den Sessel, bevor ich aus dem Stapel mit Kleidung, der sich eben dort türmte, eine einigermaßen frische und dunkelblaue Jeans hervorzog. Der halbe Stapel ging mit der Jeans zu Boden, aber ich hatte keine Zeit mehr, um meine Sachen jetzt neu zu sortieren. Eilig zog ich ein weißes T-Shirt und eine dunkelrote Strickjacke über und bürstete mein Haar. Jemand klopfte an meine Tür und drückte sie nur eine Sekunde später mit einem leichten Knarren auf. „Beven und ich warten schon unten auf dich, kannst du dich nicht etwas beeilen?“, sagte Neela, die mit einem Pferdepullover und ihrem Rucksack im Türrahmen stand. Ich lächelte und schwang mir meine Tasche über die Schulter. Mit einem letzten Blick kontrollierte ich den Inhalt, dann schloss ich die Tür hinter mir und trat zu ihr auf den kleinen Flur. „Ich bin doch schon fertig“, sagte ich und sah an mir herab, nachdem ich mir in Rekordschnelle meine Stiefel übergestülpt hatte. „Können los“. Hinter Neela her polterte ich die Treppe hinunter und warf noch einen kurzen Blick in den Speiseraum. Mom war gerade dabei die Tische zu decken und bereitete die weißen Decken mit schnellen Handgriffen über den Holzoberflächen aus.

Ein wenig Licht verfing sich in dem dunkelroten Haar, das auf ihrem Rücken fröhlich wippend jeder Bewegung folgte.

„Mom?“, fragte ich. „Was ist denn?“, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen, während sie nach den Servietten griff. „Ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir jetzt weg sind“, sagte ich und nickte. „Habt ihr die Apfelschnitze eingepackt, die ich euch in die Küche gelegt habe?“, fragte sie und wandte sich schließlich zu uns um. „Alles eingepackt“, antwortete Neela und reckte grinsend ihren Daumen in die Höhe. „Sehr gut. Dann Abmarsch und passt auf euch auf“, erwiderte sie wie jeden Morgen und faltete weiter Tischdecken, „Viel Spaß in der Schule“.

Vor dem Haus schoben wir die Fahrräder aus dem Verdeck und sahen hinauf in den Himmel. Der Regen war beinahe unaufhörlich an Orten wie diesem, auch heute begrüßten uns die gewundenen Straßen in einem trüben Grau. Die alten Laternen leuchteten uns den Weg zur Schule, als wir durch den Nebel auf dem holprigen Asphalt entlangfuhren. Oft fühlte es sich an als wäre es abends, und genauso müde war ich an den meisten Morgen. Zuerst brachten Beven und ich Neela zur Grundschule, die in einer kleinen Seitenstraße lag und durch die unscheinbare Fassade eher weniger an eine Grundschule denken ließ. Neela war elf und ging in die sechste Klasse. Im nächsten Jahr würden wir diese Route nicht mehr fahren, dann könnten wir alle drei gemeinsam zur weiterführenden Schule im Ortskern fahren, die Beven und ich besuchten. Im stärker werdenden Regen fuhren wir weiter, es schien, als stürze uns bald der Himmel auf den Kopf, wenn wir nicht rechtzeitig an der Schule ankommen würden. Dabei war das Peitschen der niederprasselnden Tropfen nur der nasse Vorbote des Gewitters, das in der Ferne schon leise zu murmeln begann. Wir traten wie verrückt in die Pedale und sprachen kein Wort, bis die erleuchteten Fenster des großen Gebäudes wie eine Insel im Grau vor uns aufleuchteten. „Wie viel Uhr ist es?“, fragte Beven, während wir hektisch die Räder auf dem Hof abschlossen, uns vorsichtig die Kapuzen vom Kopf zogen und den Zustand unserer Haare begutachteten. Unsere dunklen Wellen lockten sich gleichermaßen schnell, wenn sie nass wurden, und ließen uns nicht selten wie zwei Pudel aussehen. „Zehn vor“, murmelte ich und steckte den Fahrradschlüssel in meine Hosentasche. „Wo musst du hin?“, fragte sie wieder, während wir uns nebeneinander in Bewegung setzten. „Musikraum“, erwiderte ich lustlos und deutete auf die erste Etage des Gebäudes. „Klingt doch gar nicht schlecht“, antwortete sie lächelnd, wandte sich aber in eine andere Richtung ab. „Ich muss in meinen Klassenraum, aber wir sehen uns später“, fügte sie hinzu, dann joggte sie durch den Regen davon und verschwand hinter einer der gläsernen Pforten auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs. „Bis später“, rief ich ihr nach, bevor ich das Treppenhaus betrat, das zu meinem Unterrichtsraum hinaufführte.

Ich war im August siebzehn geworden und nach den Sommerferien in die elfte Klasse gekommen, was meinen Abschluss greifbar nah rücken ließ. Weniger als zwei Jahre blieben mir noch, bis ich mein Zeugnis in den Händen halten würde, ein Gedanke, den ich mitunter lieber verdrängte. Bei meiner Schule handelte es sich um eine kleine Dorfschule. Die Anzahl der Schüler in meinem Jahrgang belief sich auf nur sechszehn Personen, die aus Doolin und den umliegenden, noch kleineren Orten kamen und sich untereinander beinahe in- und auswendig kannten. Viele von ihnen hatte ich schon in der Grundschule kennengelernt und auch die weiteren Klassen hatten wir stets gemeinsam besucht. Trotz der kleinen Schülerzahl versuchte man uns ein möglichst breites Angebot an Kursen zur Verfügung zu stellen, so konnte man der Theatergruppe beitreten, einem Forschungsteam der Naturwissenschaften und sogar einem kleinen Kunstclub. Außerdem gab es Fächer wie Literatur und eben jenen Musikkurs, den ich zweimal in der Woche besuchte. Als ich den kleinen Raum betrat, der erst seit letztem Jahr als Musikraum diente und vorher als Abstellraum für alles und jeden fungiert hatte, waren sechs von acht im Kurs angemeldeten Schülern bereits da. Ich setzte mich auf einen Platz am Fenster und beobachtete, wie der Himmel draußen eine Farbe annahm, die ich kaum für existent im Farbspektrum gehalten hatte. Ich tippte insgeheim stark auf Apokalypse, aber das passierte hier ungefähr alle zwei Wochen und versetzte niemanden mehr in Sorge. Eine halbe Minute bevor es klingelte, schlüpfte Paula durch die Klassentür in den Raum und rutschte lautlos auf den Platz neben mir. Ihre blonden Haare hingen in eingeweichten Strähnen an ihrem Gesicht hinab und ihre Jacke war so nass, dass es beinahe nicht auffiel, dass sie sich um einen ganzen Farbton verdunkelt hatte. „Mein Gott, ich habe jetzt schon keine Lust mehr auf diesen Tag“, murmelte sie zur Begrüßung und legte ihren Kopf auf den Tisch, auf dem das Wasser aus ihren Haaren kleine Rinnsale bildete. „Dich hat’s ja echt erwischt“, gab ich anerkennend zurück und wischte mit meinen Strickjackenärmeln das Wasser vom Tisch, das zu mir herübergelaufen war.

Paula war meine beste Freundin und ein Jahr jünger als ich. Sie konnte fünfstellige Zahlen im Kopf multiplizieren und fügte ihren Aufsätzen des Öfteren Wörter bei, die selbst unser Englischlehrer nachschlagen musste. Dabei kam Paula aus Deutschland und nicht von hier. Als sie elf Jahre alt war, starb ihre Mutter bei einem Skiunfall und sie zog zu ihrem Vater, der in Irland eine Bäckerei hatte. Ihr Englisch war beinahe genauso gut wie meins, aber mit ihrem Akzent und dem aschblonden, glatten Haar fiel sie doch immer ein wenig auf, wenn man sie inmitten der anderen Schüler betrachtete. Ich hatte sie damals, als wir uns kennenlernten, einmal nach der Schule mit ans Meer genommen, um ihr die Klippen zu zeigen. Ich als Einheimische meinte zu wissen, dass sie, als Neuankömmling in Doolin, begeistert sein würde, aber entgegen meiner Erwartung setzte sie sich einfach ins nasse Gras, lies den Regen über sich ergehen und weinte so sehr, dass ich befürchtete, sie würde sich gleich ins Meer hinunterstürzen. An diesem Nachmittag erzählte sie mir, wie sehr sie ihre Heimat und ihre Mutter vermisste und ich konnte nicht anders, als mich zu ihr in den Matsch zu knien und sie fest in den Arm zu nehmen. Seitdem hatten wir uns in gewisser Weise nicht wieder losgelassen.

Als Mr. Bird den Raum betrat, verstummte jedes Gemurmel auf einen Schlag. „Jetzt habe ich auch keine Lust mehr“, flüsterte ich und grinste ihr zu, dann holte ich meine Mappe heraus und versuchte dem Unterricht zu folgen. Wir sprachen über die alten irischen Gesänge und deren Herkunft und als Mr. Bird uns ein paar sehr altertümliche Lieder auf seinem nicht weniger steinzeitlichem CD-Player vorspielte, musste ich unwillkürlich an Neela denken, die immer zu jedem Lied singen und tanzen musste, ganz gleich, ob sie den Text kannte oder nicht. Während wir zuhörten, zuckten nun endlich die ersehnten Blitze über den Himmel und die Wolken erzitterten in einem Wechselspiel aus Dunkelheit und Licht. Die Unterrichtsstunde rann ähnlich trübe dahin wie der Regen am matten Fensterglas. Nur wenig später hatten sich die umstehenden Häuser und die grünen Weiden in eine verschwommene Landschaft verwandelt. Als es zur Pause klingelte, packten wir unsere Taschen und ließen uns mit den anderen Schülern nach draußen treiben. Dicht gedrängt standen wir in der Eingangshalle, nach draußen in den Sturm wagten sich nur vereinzelte Mittelstufenschüler, denen das beeindruckte Lächeln der Mädchen wichtiger zu sein schien, als ihre nassen Klamotten. Ich seufzte, dann lehnte ich mich gegen eine der blau verputzten Wände und begann an meinem Pausenbrot zu knabbern.

„Und was machst du heute noch?“, fragte ich Paula lustlos und lächelte schwach. „Ich muss noch für den Musiktest nächste Woche lernen. Danach gehe ich vielleicht eine Runde laufen“, sagte sie und warf stirnrunzelnd einen Blick nach draußen. „Also, falls sich das Wetter wieder ein wenig beruhigt“, fügte sie wenig optimistisch hinzu. „Du?“, fragte sie dann zurück und stupste mich leicht in die Seite. „Ich gebe Beven Nachhilfe und versuche ein paar Skizzen fertig zu machen, mit denen ich gestern angefangen habe“, erwiderte ich und seufzte. Mit einem Mal schlängelte sich jemand durch die Menge aus Menschen und tauchte neben uns auf. Es war Franklin, ein großgewachsener, blonder Junge mit Sommersprossen und einem Grinsen, das seit jeher ein bisschen zu groß für seine schmalen Wangen war. Er hielt ein Buch in der Hand und lehnte sich bewusst gelassen an die Wand neben mich. „Na ihr“, sagte er und hielt Paula und mir die zerfledderte Lektüre vor die Nase. „Ich sage euch, seid einfach froh und dankt Gott, dass ihr Bernard Shaw lesen dürft. Dieses sozialkritische Drama hier ist das längste Buch, das ich je gelesen habe und es hat nur…“, er schlug das Buch am Ende auf, „nur 121 Seiten. Das ist eigentlich fast nichts und doch dauert das Lesen eine halbe Ewigkeit“, sagte er wie aus der Luft gerissen und ließ demonstrativ die Schultern hängen. Ich lächelte und verzog mitleidig den Mund. „Dann lies es doch einfach nicht, es gibt genug gute Zusammenfassungen im Internet“, sagte ich und lachte noch mehr. Es war eine allseits bekannte Tatsache, dass Franklin zu Hause keine Internetverbindung hatte. Seit über einem Jahr lebten praktisch Bauarbeiter in seinem Haus und vertrösteten seine Familie monatlich auf den jeweils nächsten Monat. Deshalb war der fehlende Internetzugang sein wunder Punkt, und auch wenn er stets behauptete, seine Distanz zum Internet würde ihm ein Leben voll Achtsamkeit bereiten, glaubte ich, dass er sich durchaus danach sehnte, Wikipedia, Youtube und Netflix zu verwenden, so wie wir.

„Haha…, O‘Callahan“, erwiderte er und ließ den Kopf hängen, „dieser Witz ist doch schon so alt“. Das stimmte, aber es machte nach wie vor Spaß Franklin aufzuziehen. „Und? Was steht als nächstes an?“, fragte er schließlich und sah auf seine Uhr. „Mathe“, antwortete ich frustriert und deutete in die grobe Richtung der Matheräume. „Na dann, viel Spaß“, bemerkte er schadenfroh und warf einen Blick auf sein Handy. „Ich habe Chemie, muss dann los“, sagte er und umarmte mich und Paula kurz. „Erzähl später auf jeden Fall, ob Binky wieder etwas in die Luft hat gehen lassen“, rief ich ihm nach, bevor er am Ende des Flurs verschwand. Erst letzte Woche war dem Referendar ein Kolben zersplittert, dessen Scherben durch den ganzen Raum geflogen waren. Zum Glück war, von Binkys Selbstbewusstsein einmal abgesehen, niemand zu Schaden gekommen.

Am Ende des Tages hafteten die Spuren von Mathe, Physik und einer schweißtreibenden Stunde Sport in einer stickigen, winzigen Sporthalle an mir. Als ich Beven nach der letzten Stunde auf dem Hof wieder traf, war sie ebenso müde und schwang sich nur mühsam auf ihr Rad. Sie war vierzehn und für ihr Alter genau wie ich eher klein und zierlich. Die meisten Mädchen in ihrer Stufe hatten schon richtige Kurven und trugen BHs, aber Beven war, abgesehen von ihrer stark ausgeprägten Vorliebe für britische Boy Bands, in meinen Augen kein typischer Teenager. Sie zankte sich nicht, half genau wie Neela und ich im B&B mit und schämte sich nicht, mit unserer Mutter neue Unterwäsche kaufen zu gehen. Die ersten Meter rollten wir nur schweigend und schwankend aus dem Schultor hinaus, dann erst traten wir in die Pedale und sausten die Straße entlang. „Wie war’s?“, fragte ich beiläufig und sah zu ihr hinüber. „Ganz in Ordnung“, murmelte sie.

„Alicia hat einen Liebesbrief bekommen“, erzählte sie dann leise und starrte auf den Asphalt. Alicia war eine alte Freundin von Beven, die nicht weit vom B&B entfernt wohnte und bereits mit ihr in den Kindergarten gegangen war. „Echt? Wie süß“, meinte ich grinsend, „von wem denn?“. Beven drehte sich erst ein paar Augenblicke später zu mir um und lächelte traurig. „Von Eric“, sagte sie dann und schluckte. Ich sah ein paar winzige Tränen in ihren Augen glitzern und begriff erst jetzt das Ausmaß der Katastrophe. Aufgebracht hielt ich am Straßenrand. „Warte mal einen Moment…“, sagte ich und stöhnte. „Der Eric, der dir letzten Monat diese Nachricht geschickt hat, die du mir gezeigt hast? Die mit den vielen Herzen?“, fragte ich und blickte sie stirnrunzelnd an. Beven nickte wortlos. „Was für ein Idiot“, sagte ich und schüttelte den Kopf, „Jungs sind manchmal einfach noch kleine Kinder im Kopf. Da sieht man‘s mal wieder. Versuch ihn zu vergessen, Beven“. Aber Beven schüttelte nur den Kopf und begann hemmungslos zu weinen. Bis wir zuhause angekommen waren, hörte ich mir all ihre wüsten Beschimpfungen und Flüche an, über Jungs, Liebe und das ganze Universum. Als unsere Auffahrt in Sicht kam wischte sie sich entschieden die Tränen aus dem Gesicht. „Lenk dich etwas ab“, versuchte ich und schenkte ihr ein Lächeln. „Ich probier’s“, erwiderte sie und verschwand schließlich mit hängenden Schultern in der Waschküche, wo sie sich um die Bettwäsche der Gäste kümmerte, eine Aufgabe, die vor ein paar Jahren noch meine gewesen war.

Ich machte mir in der Küche eine Tiefkühl-Asia-Pfanne aus dem Supermarkt und trottete mit dem heißen Nudelteller hinauf in mein Zimmer. Ein kleines Mädchen, das ich zuvor noch nicht im Haus gesehen hatte, stand vor meiner Tür und sah sich mit großen Augen das Filmplakat über der Türklinke an. Normalerweise war die Tür zu unserer eigenen Etage fest verschlossen und niemand der Gäste durfte den Flur betreten, aber augenscheinlich hatte jemand vergessen, sie zu schließen. Sie trug einen blonden, lockeren Zopf und eine rosafarbene Latzhose und bemerkte mich erst, als ich direkt hinter ihr stand und mich das Knarzen der Bodendielen verriet. Mit roten Wangen drehte sie sich zu mir um und hielt sich erschrocken die Hände vor ihren kleinen Mund. „Wer bist du denn?“, fragte ich lächelnd und balancierte den Teller in meiner Hand. Er brannte auf meiner Haut und ich hätte die Nudeln am liebsten direkt auf dem Boden abgestellt. „Hannah“, murmelte sie vor sich hin und sah schüchtern zu Boden. „Hannah also, und magst du das Poster an meiner Tür?“, fragte ich. „Ja“, antwortete sie leise und machte den Anschein, als wolle sie sich am liebsten ganz hinter ihren Ponyfransen verstecken. „Es ist ein Liebesfilm, ich habe ihn letztes Jahr zusammen mit meinen Freundinnen angesehen“, erwiderte ich und öffnete die Tür, dann eilte ich quer durchs Zimmer zu meinem Schreibtisch und stellte den Teller darauf ab. Unsicher stand Hannah in der Tür und sah mit großen Augen in den Raum, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Eigentlich war ich eine große Verfechterin der Hausregeln und hatte einen Haufen Mathehausaufgaben auf, doch ihre Anwesenheit verschaffte mir ein gemütliches Kribbeln im Bauch. Es kam nicht allzu häufig vor, dass Kinder an diesen Ort kamen und sich dazu noch in unseren Flur verirrten. Die Art wie sie neugierig um die Ecke hinter der Tür lugte, erinnerte mich an Neela, als sich noch jünger und zurückhaltender gewesen war.

„Möchtest du reinkommen und mir Gesellschaft leisten?“, fragte ich und holte mein altes Sitzkissen aus dem Kleiderschrank. „Ich habe sowieso nichts zu tun“. Ohne zu antworten, schlich sie durch den Raum und machte es sich auf dem Kissen bequem. Sie drehte ihren Kopf in alle Richtungen und betrachtete die an den Wänden hängenden Poster und die Büchersammlung in meinen Regalen. Ebenso hing ihr Blick eine Weile an den verstaubten Teddybären neben meinem Sessel, die ich zur Geburt geschenkt bekommen hatte. „Wohnst du für immer in diesem B&B?“, fragte sie verwirrt und blickte aus dem Fenster. Ich grinste und schüttelte den Kopf.

„Ich bin kein Gast hier, meiner Mom gehört das B&B und ich wohne hier, seit ich geboren bin“, erklärte ich ihr. „Musst du dann jeden Abend die Sachen essen, die in der Küche gemacht werden oder kannst du dir aussuchen, was du essen willst?“, fragte sie nach. „Oh, ich nehme gerne das Essen vom Speiseraum, aber ich esse auch gerne eine ganz normale Pizza oder Sachen aus dem Supermarkt“, sagte ich. „Und du? Schmeckt dir denn das Essen hier?“, sie überlegte kurz und nickte dann freundlich. „Meine Mama hat gesagt, dass Papa traurig sein wird, wenn er hört, dass es gestern Omeletts zum Frühstück gab“, sagte sie und seufzte. „Das ist sein Lieblingsessen.“ Ich lachte leise und nickte verständnisvoll. „Ist dein Papa denn nicht hier?“, fragte ich. „Nein, er ist noch zu Hause, aber mein Bruder und er kommen in ein paar Tagen nach, wegen der Fische“. Fische? Ich sah sie fragend an, wartete jedoch vergeblich auf eine weitere Erläuterung. „Ach so, na dann werden wir für deinen Papa noch einmal Omeletts machen, wenn er angereist ist“, versicherte ich ihr. „Danke“, murmelte sie und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als es mit einem Mal sachte an die Tür klopfte. „Ja?“, rief ich und nur wenige Sekunden später schob sich ein blonder Frauenkopf durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Ihr Gesicht war freundlich, aber wohl schien ihr hier, in unserem Hausflur, nicht zu sein. „Oh je, entschuldige“, murmelte sie und atmete aus, als sie das kleine Mädchen auf meinem Sitzkissen sah. „Hannah, ich habe dich überall gesucht“, sagte sie in ernstem Ton und warf mir ein zerknirschtes Lächeln zu. „Ich hoffe, du bist nicht böse, sie ist einfach zu neugierig und steckt überall ihre Nase hinein, jetzt komm, Mäuschen“, sie streckte die Hand nach Hannah aus. „Das ist doch nicht schlimm, wir haben uns gut unterhalten“, sagte ich und winkte ab. „In Ordnung“, sie reichte mir die Hand. „Mein Name ist Maria Robertson, ich bin Hannahs Mutter. Ihr habt einen wirklich schönen Fleck Erde hier“, sagte sie und nickte mir zu. Ich musterte ihre Locken und ihr herzförmiges Gesicht mit den auffälligen, seegrünen Augen. „Danke, es ist in der Tat ein ganz nettes Plätzchen. Ich heiße Lorna O‘Callahan“, erwiderte ich. „Wenn sie möchte, kann Hannah vielleicht einmal gemeinsam mit mir die Ziegen füttern gehen oder ich kann ihr das Haus zeigen, wenn Sie nichts anderes zu tun haben. Geben Sie nur Bescheid“. „Oh, das ist ein nettes Angebot, wir kommen sicher darauf zurück“, meinte sie und nahm Hannah schließlich an die Hand. „Dann bis bald“, sagte sie schließlich und trat wieder hinaus auf den Flur. „Bis bald“, gab ich zurück, setzte mich endlich an meinen Schreibtisch und begann in den Nudeln umherzustochern, die mittlerweile nur noch lauwarm waren.

Das kleine Mädchen war so unbedarft und neugierig, dass ich mir vornahm, ihr bei der nächsten Gelegenheit tatsächlich die Ställe und den Rest des B&Bs zu zeigen. Jetzt aber hatte ich genug mit meinen Hausaufgaben zu tun. Gleichungen, die ganze Zeilen füllten, warteten darauf gelöst zu werden und mein Matheheft sprang mir geradezu entgegen, als ich meine Tasche öffnete.

Am späten Nachmittag setzte ich mich gemeinsam mit meinen Schwestern an den Kamin in unserem kleinen Wohnzimmer. Im Fernseher, an der Backsteinmauer, lief eine britische Castingshow und draußen fegte weiterhin der Sturm vor den Fenstern. Sachtes dunkles Blau, das sich am Himmel wölbte und zwischen den Wolken helle Narben hinterließ. Ich brachte Beven bei, wie man Fluchtpunkte zog und dreidimensionale Figuren zeichnete. Sie war künstlerisch ungefähr so begabt wie ein Fisch und bekam in Kunst, seitdem sie auf die neue Schule gekommen war, reihenweise schlechte Noten. Wir hatten uns mit einer Schale Orangen und zwei Tassen heißer Schokolade auf den Teppich gelegt und die Zeichenblöcke auf dem Boden ausgebreitet, während Neela auf einem Sessel hing und wie hypnotisiert auf den Fernseher starrte. Es war ein gemütliches, kleines Leben in einer gemütlichen, kleinen Stadt und manchmal war es, als würde sich diese Schicht aus Regen, heißer Schokolade und dem ständigen Tellerwaschen in dieser ebenso gemütlichen, kleinen Küche um uns hüllen wie ein schützendes Tuch. Noch nie war ich weit fort von Doolin gewesen, ich war nie mit dem Flugzeug geflogen, hatte nie diese Insel verlassen, nie etwas anderes gesehen als die stürmischen Meere, das rauschende Gras auf den Feldern und die gleichen Gesichter im Supermarkt, in der Schule oder beim Spazieren in den immer gleichen Straßen. Aber es machte mir nichts, dieses wohlige Gefühl jeden Stein auf den Straßen zu kennen, jedes Pferd, das auf dem Weg zur Schule seinen Kopf aus den Ställen herausstreckte. Jeden Tag kamen so viele Menschen von weit weg in unser B&B, sie waren der andere Teil meines Lebens, der fremde Teil, der sich von Woche zu Woche veränderte. Sie spülten neue Geschichten an meinen kleinen Strand und ich wurde satt davon.

Tausend Arten von Regen

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