Читать книгу Tausend Arten von Regen - Johanna Zimmermann - Страница 9
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Am nächsten Morgen kreischten mich die Möwen aus dem Schlaf und ich spürte, wie mir die Wimperntusche vom letzten Tag unter die Augen gerutscht war. Müde schleppte ich mich ins Bad und machte mich fertig, immer noch etwas benommen fühlte ich mich seltsam verloren in der morgendlichen Ruhe. Das Haus war noch still und man hörte nur das leise Rauschen des Meeres auf der anderen Seite der Felder hinter dem Haus. Im Spiegel sah ich ein müdes Mädchen mit geröteten Wangen und zotteligem Haar, aber ihr Lächeln war rosig und breit und erhellte ihr ganzes Gesicht. Und auf meinem Handy lief der neue Song von Taylor Swift, zu dem man sehr gut durchs Badezimmer tanzen konnte. Als Beven hereinkam, bemerkte ich sie kaum, sie wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, aber ich hatte die Musik in den Ohren und warf ihr nur ein selbstsicheres Lächeln zu.
Während ich mich schminkte und meine Haare flocht, lackierte sich Beven mit einer Präzision die Nägel, die nur eine Vierzehnjährige haben kann. „Wo warst du gestern Abend?“, fragte sie dann plötzlich und legte den Lack beiseite. Ihre großen, olivenfarbenen Augen warfen mir einen schelmischen Blick zu, bevor sie ihre Nägel unter den Trockner hielt. „Wieso?“, fragte ich zurück und bürstete mein Haar. „Ich habe nach dir gesucht, aber du warst nicht auf deinem Zimmer, das war schon um halb elf“, sagte sie und hob die Augenbrauen. „Warum hast du mich gesucht? So spät solltest du selbst nicht mehr auf sein“, erwiderte ich. „Ich hatte Kopfschmerzen und wollte dein Heilpflanzenöl ausleihen“, murmelte sie, „aber jetzt sag schon. Wo warst du?“. „Ich war noch unten in der Küche“, sagte ich, was nicht einmal gelogen war. „Warst du etwa doch noch aus? Irgendwo im Dorf mit Paula oder so?“, fragte sie weiter, ohne im Ansatz auf meine Antwort einzugehen. „Nein, war ich nicht“, wiederholte ich und legte die Bürste auf den Waschbeckenrand. „Und ich muss mich jetzt fertig machen. Das solltest du übrigens auch tun“, beendete ich schließlich das Gespräch und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Dann zog ich mir in meinem Zimmer eine Jeans und eine Bluse an und packte meine Schulsachen zusammen. Als ich Beven und Neela wieder auf dem Flur traf und wir hinunter zu den Fahrrädern gehen wollten, warf mir Beven nur ein sehnsüchtiges Lächeln zu. „Ich möchte auch die ganze Nacht aufbleiben und in der Stadt Abenteuer erleben“, sagte sie und seufzte. Ich verdrehte die Augen und schob sie widerwillig durch die Haustür hinaus in die Kälte.
Der Tau schwebte noch gestaltlos über den verfrorenen Grashalmen und die Wiese war rutschig und nass. „Du übertreibst wirklich“, erwiderte ich und schob ihr das Rad hin. „Wie du meinst“, sie schwang sich auf den Sattel und eierte über den matschigen Rasen hinüber zur Straße. „Sie hat schlecht geschlafen“, meinte Neela und zuckte mit den Schultern. Dann knöpfte sie ihren Mantel zu und kletterte ebenfalls auf ihren Sattel, während der Wind von allen Seiten kam und ihren Zopf entflocht. „Die ganze Nacht hat sie gehustet. Ich habe kaum ein Auge zu bekommen“. „Ich wusste nicht, dass sie krank ist“, sagte ich und fuhr neben meiner kleinen Schwester die Straße entlang. „Ich weiß auch nicht“, erwiderte sie tonlos und trat schneller in die Pedale, bis wir Beven wieder erreicht hatten. Ohne zurückzublicken radelte sie vor uns her und als ich die große Kreuzung links nahm, um Neela zur Schule zu bringen, blieb sie auf dem gewohnten Weg und verschwand hinter einer Straßenecke aus meinem Blickfeld.
Als ich an der Schule ankam, sah ich zuerst Franklin, der vor dem Schultor an einer zerschlissenen, bröckelnden Mauer lehnte, an der sich normalerweise die Raucher aufhielten. Er hatte ein Heft auf dem Mauerrand ausgebreitet und kritzelte in Rekordschnelle Stichpunkte auf die Seiten, während er immer wieder auf sein Handy blickte. „Hausaufgaben?“, fragte ich und kam neben ihm zu stehen, meinen Kopf tief über das zerknitterte Papier gebeugt, um seine winzige Handschrift zu identifizieren. Brummend nickte er und hielt mir sein Display hin, auf dem das Foto einer anderen Hausaufgabe leuchtete. „Englisch“, murmelte er. „Redenanalyse. Für heute Gott sei Dank nur in Stichpunkten. Sonst hätte ich es echt nicht mehr geschafft“. Mitfühlend nickte ich und überflog die undeutlichen Notizen. „Hast du Beven gesehen?“, er sah kurz auf und tippte mit dem Ende seines Bleistifts gegen sein Kinn. „Ja, sie ist eben in meinem Augenwinkel vorbei gerauscht“. „Gut, dann ist sie zumindest unverletzt angekommen“, sagte ich und nickte lachend. „Wieso?“, er kritzelte einen letzten Stichpunkt und schlug schließlich sein Heft zu. „Keine Ahnung, sie war irgendwie richtig mies drauf heute Morgen“. Franklin warf mir aus seinen hellblauen Augen einen mitleidigen Blick zu und lächelte sein schiefes Lächeln. „Dich als Schwester zu haben, muss ja bestimmt auch eine schwere psychische Belastung sein“, sagte er und nickte verständnisvoll. „Ich bin eine sehr gute Schwester“, erwiderte ich und schüttelte empört den Kopf. „Jaja, O‘Callahan. Deine ganze Person ist nichts als ein Segen für die Menschheit, ich weiß“, sagte er und fuhr mir durchs Haar, wobei er die Hälfte der Haare auf die gegenüberliegende Seite beförderte. „Och man, lass das und nenn mich nicht immer O‘Callahan“, sagte ich, schob ihn beiseite und richtete meine Frisur. „Ist gut“, sagte er nur und stopfte das Englischheft zurück in seinen Rucksack. „Komm, wir haben Geschichte“, seufzte er halb dahin. Und das hatten wir. Eine kaugummiartige Stunde Geschichte, die in Filmausschnitten alter, farbloser Streifen versank, die ich nur mit einem Auge verfolgte. Ich sah hinaus, den schweren Kopf in meine Hände gestützt, und blickte auf die kleinen bunten Häuser hinaus, die sich auf der anderen Straßenseite aneinanderschmiegten und seltsam unbewohnt und leer aussahen. Ich dachte darüber nach wie seltsam es war, dass Häuser genauso von außen aussahen, verlassen und teilnahmslos, obwohl sich doch der Großteil unseres Lebens in ihnen abspielte. Ich stellte mir vor, was in den Häusern vor sich gehen musste. Vor meinen Augen stritt sich eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn, in dem anderen backten zwei alte Eheleute miteinander Brot fürs Mittagessen und hinter wieder anderen Fenstern bemühte sich gerade eine junge Schriftstellerin mit ihrem Roman. Ich hatte die Menschen so klar vor Augen, dass ich beinahe überzeugt war, sie würden hinter ebendiesen Mauern hausen und als der Gong ertönte und die anderen so schnell wie möglich ihren Kram zusammenrafften, sah ich noch einen Moment weiter hinaus.
In der Pause traf ich mich mit Lilly und Paula in der Pausenhalle, um dort die Erdkundehausaufgaben abzuschreiben und einen Salat zu essen, aber sie waren beide schlecht gelaunt und ich hatte keine Gelegenheit, ihnen von Christopher zu erzählen. Dass ich ihn am Nachmittag wieder sehen würde, spukte jedoch den ganzen Schultag in meinen Gedanken umher und längst hatte sich ein wohliges Kribbeln in meiner Magengrube ausgebreitet.
Als ich nach der Schule zu meinem Fahrrad trottete, war Beven schon fort. Das Fahrradschloss, das wir uns teilten, hing lose um meinen Sattel. Schnaubend verstaute ich das Schloss im Fahrradkorb und stieg auf. Im Schweigen und unter dem dunkelgrauen Himmel hinweg flog ich die Straßen entlang, Wind in den brausenden Gräsern und Wind in meinem Haar. Von weitem erahnte man die Cliffs of Moher, weiße Kreideköniginnen, die sich wagemutig über das brausende Wasser warfen, größer und höher als jedes andere Klippenpaar im ganzen Land. Ich lächelte und trat schneller in die Pedale. Als Neela an der Grundschule zu mir stieß, begann es zu regnen und die Vögel stiegen von allen Seiten über uns auf. „Warum fliegen die Vögel weg?“, fragte Neela mich und verstaute eilig ein gemaltes Bild in ihrer Tasche, damit es nicht verschwamm. „Warum bleiben sie nicht hier auf unseren Wiesen und in den Bäumen sitzen?“, sie radelte neben mir her. „Ich weiß es nicht, Neela“, sagte ich. „Ehrlich, ich habe keine Ahnung. Frag doch Mom oder deinen Biologielehrer“. „Wir haben kein Biologie, es heißt Sachkunde“. „Oder so“, erwiderte ich. Als wir zu Hause waren, hatten die Gäste gerade Nachmittagstisch und wir huschten am Speisesaal vorbei hinauf auf unsere Zimmer. Wieder begann es vor den Fensterschreiben zu regnen und Nebel stieg von den Feldern auf. Von meinem Zimmer aus sah ich eine Weile hinaus und hoffte, dass es Christopher nichts ausmachen würde, auch bei den heutigen Wetterverhältnissen zu den Klippen hinauszuspazieren. Bei dem Gedanken an ihn und daran, wie wir gemeinsam durch den Regen über die Wiesen gehen würden, wehte ein schwaches Lächeln über mein Gesicht. Ich setzte mich an den Schreibtisch und kramte meine Erdkundehausaufgaben heraus, die ich nach kurzem Betrachten auf den mittlerweile hochgewachsenen Stapel von Sachen legte, die ich an irgendeinem anderen Tag in der baldigen Zukunft erledigen würde. Der Schreibtischstuhl knarzte und im Sonnenlicht, das durch die Wolken brach und sich gegen die Zimmerwände warf, konnte man jeden einzelnen Fleck auf der Tapete sehen. Ich lauschte auf alle Geräusche im Haus, auf das leise Rauschen hinter den Fenstern und die ächzenden Holzdielen auf den anderen Etagen. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich eine Weile die Frage vergaß, was ich anziehen wollen würde. Um halb vier fuhr ich schließlich von meinem alten Drehstuhl hoch, warf mich in mehrere Klamottenkombinationen. Als letztendliche Entscheidung stülpte ich mir meinen Norwegerpullover über, der fusselte und dessen Nähte an den Ärmeln ausfransten. Aber welcher Junge achtete schon auf Nähte?
Als ich mit Gummistiefeln und Handschuhen bewaffnet wieder nach unten ins Foyer ging, stieß ich auf der Treppe mit Mom zusammen, die ein paar frische Handtücher zu den Gästen hochbringen wollte. „Wo willst du hin mit den Gummistiefeln?“, fragte sie stirnrunzelnd, während sie mich auf dem Treppenabsatz musterte. Von Kopf bis Fuß. „Ich gehe ans Meer, ein paar Gäste wollten sich die Klippen ansehen“, erwiderte ich und wollte vorbei, als sie meine Schulter mit ihren Händen hielt. „Ist es dieser Junge?“, ihr Blick war nahezu unlesbar, ihre Augen wanderten fragend über mein Gesicht. „Er heißt Christopher“, ich schulterte die Gummistiefel und nahm ihr mit der freien Hand die Handtücher aus dem Arm. „Ich bring die für dich hoch. Welche Nummern?“, fragte ich dann. „Fünf und drei“, sagte sie und nickte mir bedächtig zu. „Bitte vergiss nicht, dass sie Gäste hier sind, Lorna. Ich möchte nicht, dass du dir den Kopf verdrehen lässt“. Ich nickte und schenkte ihr ein gelogenes Lächeln. „Mach dir keine Sorgen“, erwiderte ich in ruhigem Ton und machte schließlich auf der Wende kehrt. So war meine Mom. Sie ließ all diese Menschen hier leben, ließ sie Teil dieses Hauses sein, aber nicht Teil etwas Größeren. Immer war sie vor allem darauf bedacht, Distanz zu wahren. Sie hatte diese gutmütige, aber beschäftigte Ausstrahlung, die dir sagte Ich kümmere mich um alles, mach dir keine Sorgen, aber auch nicht mehr. Ich liebte sie sehr und sie liebte uns auch. Mich und Neela und Beven.
Aber an manchen Tagen erschien sie mehr ein arbeitender Roboter als ein fleischlicher Mensch zu sein. Sie war stark und zäh und schön und manchmal ein wenig unnahbar. Das dachte ich, als ich die Treppenstufen hinaufstieg und in Richtung Zimmerflur ging.
Ich hielt die Handtücher fest in meinen Händen und hatte die Zimmer schnell gefunden. Zu meiner Verwunderung gehörte das Zimmer Nummer drei Christopher und seiner Familie, was mir zuerst nicht aufgefallen war. Es war das größte Zimmer im Haus und beherbergte nicht nur eine, sondern zwei Schlafecken. Zaghaft wartete ich vor der Holztür und lauschte auf Geräusche von innen. Das dumpfe Summen einer Fernsehstimme brummte durch die Tür und nach ein paar tiefen Atemzügen klopfte ich an, leise und dreimal. Ein Mann öffnete die Tür, der Christopher zwar wenig ähnlichsah, aber ein Buch über Meeresbiologie in den Händen hielt. Christophers meeresbegeisterter Vater: verrutschte Brille, stilles Lächeln und angegrautes, jedoch noch fülliges Haar. „Guten Tag, ich soll Ihnen neue Handtücher rauf bringen“, sagte ich und streckte sie ihm entgegen. „Meine Mom hat gesagt, sie bräuchten noch eins oder zwei“. Etwas durcheinander blickte er von den Handtüchern in meiner Hand zu mir und für einen Augenblick hinter seine Schulter. „Ähm, ja natürlich. Sehr freundlich“, sagte er und holte sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche. „Nein, nein“, lehnte ich schnell ab und drückte ihm nur die Handtücher in die Hand.
„Lorna?“, aus dem Hintergrund des geräumigen Zimmers schlich sich die hohe Mädchenstimme von Hannah an. Wenige Sekunden später stand sie im Türrahmen und lächelte mir aus großen, blauen Augen zu. „Hi, Hannah“, sagte ich und nickte ihrem Vater kurz zu, der etwas überrascht unsere Begrüßung beobachtete. „Warum hast du Gummistiefel dabei?“, fragte sie und stupste die baumelden gelben Ententreter vorsichtig an. „Oh, ich dachte wir machen heute einen kleinen Ausflug?“, fragte ich und versuchte einen Blick in den Rest des Zimmers zu erhaschen. „Stimmt. Jetzt gleich?“, sie zupfte an den zerschlissenen Ärmeln ihres Vaters. „Wieso nicht“, murmelte dieser und nickte mir erneut zu. „Ihre Frau weiß davon“, sagte ich schnell. „Ich pass auch gut auf sie auf. Und sonst kann ja auch noch Christopher mitkommen“. „Er ist auf dem Balkon“, sagte sein Vater und trat einen Schritt beiseite. „Komm ruhig für einen Moment rein und hol ihn“.
Etwas unsicher lächelte ich und trat an ihm vorbei ins Zimmer hinein. Das Doppelbett stand unaufgeräumt gegenüber der beiden Einzelbetten an der Wand und durch das Fenster konnte ich Christophers Hinterkopf sehen. Er saß in eine Decke gehüllt in einem der Korbsessel und kritzelte auf einen Block, während ihm durch ein paar orangefarbene Kopfhörer Musik in die Ohren floss. Leise konnte ich den Takt des Liedes zu mir herüber strömen hören. Für einen Moment stand ich nur neben ihm und beobachtete die schnellen Handbewegungen, mit denen er über das Blatt flog. Die Energie und Präzision, die er in das legte, was er tat, seinen leicht wippenden Kopf, das milde Lächeln auf den Lippen. Als er mich bemerkte, zuckte er zusammen und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren. Grinsend fuhr er herum und blickte mich von der Seite an. „Oh, das Zimmermädchen“, scherzte er und hob eine Augenbraue. Gespielt empört drückte ich mir die Hände in die Hüfte und lächelte schüchtern. „Nein, Quatsch. Hi, Lorna“, sagte er dann und erhob sich. Eine Weile standen wir nur so da und wussten nicht recht, was zu sagen. Ich sah an ihm hinauf und er betrachtete mich ebenso. Dann nahm er irgendwann eine dunkelblaue gehäkelte Mütze vom Balkontisch und schob sie sich in sein Haar. Und ich wusste, dass es die Mütze war, von der Neela gesprochen hatte, aber fand sie alles andere als schrecklich. „Wollen wir los?“, fragte er und verstaute den kleinen Block in seiner Hosentasche. Aber ich dachte nur Er hat es nicht vergessen, er hat es nicht vergessen und nickte unbeholfen, während der Regen, der schräg über das Dach fegte, mir in die Augen stob.
Hannah trug einen herrlich knalligen, orangefarbenen Regenmantel mit aufgedruckten rosa Schmetterlingen und hüpfte in jede Regenpfütze, die wir fanden. Dieses kleine Mädchen erinnerte mich an mich selbst. An die Wettbewerbe mit Beven, darum, welche von uns in einer Minute mehr Pfützen schaffte und wer mehr spritze.
Das war unser Leben. In Pfützen zu springen und es großartig zu finden. Irgendwie das Beste aus dem Regen zu machen, der fiel. Und fiel und fiel. Ich watschelte neben Christopher her durch den Matsch, während Hannah vor uns im Zick Zack rannte. Die Stiefel quietschten bei jedem Schritt, aber es war ein freundliches Geräusch inmitten der Stille. „Es ist zwar schlecht vorstellbar, aber im Sommer kann man auf solchen Wiesen echt gut Fußball spielen“, sagte ich und schmunzelte. „Du spielst Fußball?“, er machte einen großen Satz nach vorne und übersprang eine Pfütze. „Nur ab und zu. Wenn die wenigen Jugendlichen, die hier leben, im Sommer aus ihren Schneckenhäusern kommen, dann spielen wir meistens auf den Wiesen. Oder was anderes in der Art. Als wir kleiner waren, haben wir Krieg gespielt. Dann gab es ein Schlachtfeld und irgendwer hatte von irgendwo her Wasserpistolen herbeigezaubert. Meistens waren wir nass von Kopf bis Fuß, wenn wir dann abends nach Hause gegangen sind“. „Bist du mit diesen Kindern immer noch befreundet?“, fragte er und fuhr sich durchs Haar. Der Wind war kälter als gewöhnlich für diese Jahreszeit. „Oh nein, nicht wirklich. Ich weiß nicht, als wir älter wurden, haben wir das nicht mehr so oft gemacht und jeder lebte irgendwie mehr sein Leben. Jetzt habe ich meine Freunde in der Schule. Da sehe ich sie jeden Tag und nicht nur beim Fußball im Sommer.“ „Verstehe“, murmelte er. „Wenn du an zwei Orten gleichzeitig lebst, dann ist das manchmal auch schwierig. Du hast auf beiden Seiten Menschen, die dir viel wert sind. Aber manchmal ist es so, als würdest du immer nur halb da sein. Als wärst du ein kleinerer Teil in ihrem Leben als die anderen um denjenigen herum. Und die Geschichten haben irgendwie alle Löcher. Du bist mal eine Woche nicht da, kommst wieder und Mädchen X hat sich von Junge Y getrennt. Deine besten Freunde sind plötzlich zerstritten, irgendwelche Menschen verbreiten irgendwelche Gerüchte. Du verpasst, wie der Chemielehrer was im Chemieunterricht hochgehen lässt, du verpasst den Skandal, als irgendjemand beim Rummachen mit der Sportlehrerin erwischt wird. Du verpasst den Schulball. Du verpasst irgendwie immer überall alles.“ Er schluckte. „Das klingt jetzt echt ein bisschen schrecklich“, sagte ich und legte meine Stirn in Falten. „Oh, so schlimm wollte ich es nicht aussehen lassen. Es ist auch schön, so viele Menschen zu kennen. So viele Erfahrungen sammeln zu können, aber es ist wesentlich schwieriger eine wichtige Person im Leben eines anderen zu sein, wenn du nur die Hälfte der Zeit da bist“. „Klingt logisch“, erwiderte ich und versuchte es mir vorzustellen, aber es war ziemlich schwer. „Lorna, wann sind wir da?“, rief Hannah und zog sich ihre rosa Kapuze über den Kopf. „Nicht mehr weit, hinter den Hügeln kommt ein kleiner Wanderweg. Von da aus kommt man direkt auf eine der höchsten Klippen“. „Ich sehe den Wanderweg aber noch nicht“, antwortete sie und sah sich um. „Keine Sorge, den finden wir schon“. Christopher warf mir ein ermutigendes Lächeln zu.
Sobald Hannah wieder voraus und außer Hörweite war, sagte er: „Richtig nett von dir, dass du dich so um sie kümmerst“. „Sie saß vor zwei Tagen einfach vor meiner Zimmertür“, lachte ich und erinnerte mich daran, wie sie schüchtern auf meinem Sitzsack gesessen hatte. Ein Glückstag, ein Glückskind war das. „Da blieb mir nichts anderes übrig“. Als wir den Weg schließlich fanden, schlugen wir einen Trampelpfad hinauf zu den Klippen ein. Es waren hochragende Steilklippen, berühmt für ihre Höhe und die Touristenzahl, die ihre Schönheit jedes Jahr anlockte. An diesem Nachmittag waren keine Touristen hier und unsere einzigen Begleiter waren die Möwen am Himmel, die uns umkreisten und scheinbar schützend auf uns heruntersahen. Es war verregneter denn je und der Nebel, der aus den Gräsern aufstieg, hinderte die meisten Besucher an einem Ausflug an diesen Ort. Man könne dann gar nichts sehen, es wäre rutschig und zu gefährlich hieß es, aber als Einheimischer war man den Wind und das grobe Wetter gewöhnt. „Da wären wir!“, sagte ich feierlich, als wir hinauf auf den Hügel stiegen. Nicht zu nah heran wollte ich gehen, zu große Angst hatte ich um Hannah. Doch ein paar zögerliche Schritte voran wagten wir uns doch, so, dass man hinüber auf das Meer sehen konnte und auch die anderen Klippen im Blick hatte, die sich an der Küste entlang erstreckten. „Ganz schön beeindruckender Anblick“, sagte Christopher und reckte seinen Hals, um noch mehr zu sehen.
„Kann man da runterfallen?“, fragte Hannah und wollte weiter nach vorne laufen, doch ich hielt sie an ihrer Kapuze fest. „Genau das kann man, deshalb sollten wir lieber hierbleiben. Bei dem Nebel sieht man schlecht und schwups, ist man auch schon runtergefallen“, sie sah mich etwas erschrocken an, aber dann lächelte sie wieder. „Das Meer kann ich aber sehen“, sagte sie dann lachend und schaukelte mit den Armen. „Es ist aber gar nicht blau“. Und das stimmte. Eher matschfarben lag es dutzende von Metern unter uns, von weißen Schaumkronen durchpflügt. Für ein paar Minuten standen wir nur da und genossen den Ausblick, genossen vielleicht auch den Regen, den Wind, die Haare, die einem ins Gesicht flogen. Alles gehörte irgendwie dazu. „Als wir jünger waren, durften wir nicht hierherkommen. Unsere Mom hatte Angst, dass etwas passierte, weil die meisten Stellen ungesichert sind. Aber wir taten es trotzdem immer wieder. Das war für uns das Herausblicken über den Tellerrand, irgendwie“. Als er mich ansah, dachte ich erst für einen Moment, er wäre gelangweilt, vielleicht genervt von meinem sentimentalen Gerede, aber dann nickte er auf eine Weise, die ich als verständnisvoll ansah und wir schwiegen weiter in den Wind. Als Hannah viermal von einem zum anderen Ende der Klippe gelaufen und angefangen hatte den Regen zu besingen, nahm Christopher sanft ihre Hand und drehte sie wieder in Richtung Dorf. „Du wirst krank, zieh deine Kapuze richtig an“, sagte er und kniete sich in den Matsch, um die Knöpfe am Hals richtig zu zumachen. Dann schlenderten wir gemeinsam zurück über die Wiesen.
Der Ausflug war zu schnell vorbei und ich traute mich nicht, ihn zu fragen, wie lange sie noch bleiben würden. Letztendlich standen wir wieder im Hausflur und Hannah stob um unsere Beine. „Danke, dass du mir das gezeigt hast“, sagte sie und schüttelte ihre Haare wie ein Hund, bis der Teppich voller Sprenkel war. „Gerne“, sagte ich. „Ich bin in der Küche“, ergänzte ich dann und deutete auf meine Haare. „Unten lagern wir die Handtücher und ich glaube, ich brauche eins für meine Frisur“. „Du Arme“, murmelte sie und umarmte meine Taille. „Ich schaff das schon. Du solltest dir auch was Warmes anziehen, damit du nicht frierst“. Entschlossen nickte sie und fischte nach Christopher Hand. „Kommst du?“, fragte sie, aber er löste sich aus ihrem Griff. „Ja, ich komme gleich nach“. „Wieso?“, fragte sie wieder, aber er antwortete nicht mehr. Er sah nur zu Boden und lächelte den Teppich an und mir war, als sähe ich einen Schimmer auf seinen Wangen, einen zarten Rosaton. „Einfach so“, sagte er dann und beharrte darauf, bis sie sich schließlich der Treppe zuwandte, die zu den Gästezimmern führte. „Lust auf Kakao?“, er zog sich die Mütze vom Kopf und seine Haare standen in alle Richtungen. Ich wollte nicht, aber ich starrte ihn an. Nicht mal wirklich ihn. Nur diese dunkelbraunen Wellen, die sich allmählig auf seinem Kopf sortierten. „Hey? Alles okay?“, er sah mich durchdringend an. „Nur deine Haare. Sehen niedlich aus“, sagte ich und wandte meinen Blick ab. „Ach so, ja ich weiß. Ich finde es weniger niedlich als furchtbar“, erwiderte er und fuhr sich durch die dunkle Mähne. „Ich meine, jetzt ehrlich, ich mach uns was zu trinken“, sagte er dann und lächelte ein wenig schief, was süß aussah. „Und dann setzen wir uns in die Küche. So wie immer“. „So wie immer?“, ich lachte. „Du bist vielleicht lustig. Das wäre dann das zweite Mal, mein Freund“. „So ist es, aber vielleicht könnten wir so tun, als wäre es das nicht“, erklärte er und auch, wenn es zunächst lächerlich klang, verstand ich allmählig, was er zu sagen versuchte. „Und warum?“, fragte ich und stemmte die Hände in die Hüften. „Weil das das Einzige ist, was wir tun können, oder? Das Einzige, um die Zeit zu nutzen, die wir haben, ohne uns anzustarren und nicht zu wissen, was wir sagen sollen und all das. Denn was erzählt man schon einem Fremden?“. „Nicht viel“, sagte ich nickend. „Ich meine, vielleicht ist es ein bisschen wahnsinnig oder so, und wenn du möchtest, dann vergiss was ich gesagt habe. Aber ich habe das Gefühl, dass es schade wäre, sich wie Fremde zu behandeln, auch, wenn wir vielleicht genau genommen welche sind“. Christopher richtete ein weiteres Mal sein Haar und blickte zu Boden. „Aber wieso? Ich meine, ja, du hast Recht. Aber bis jetzt hat es den Leuten, die mir über die Jahre begegnet sind, gereicht, mit mir über das Wetter zu reden und vielleicht einen Gruß auszutauschen, wenn man sich sah. Niemand wollte mit mir Kakao trinken“. Wir schwiegen. Eine der Glühbirnen flackerte über unseren Köpfen und wir hatten Lichtkreise auf den Wangen, als er sagte, „Weil ich dich mag“.
An diesem Nachmittag saß ich in unserer kleinen Küche und trank mit Christopher Kakao, so wie immer. „Warum eigentlich immer diese blöde Küche?“, fragte ich. „Also erstens ist sie nicht blöd und zweitens sind Küchen meistens die gemütlichsten Plätze eines jeden Hauses“, antwortete er. Dieses Mal saßen wir beide auf der Spültheke und versuchten krampfhaft uns nicht aus Versehen auf herumliegende Löffel und Eierbecher zu setzen, während wir mit den Füßen in der Luft herum baumelten. „Ach ja, vielleicht wenn man nicht jeden Tag in ihr herumstehen und spülen müsste“, erwiderte ich. „Bei einem Landhaus wie unserem erwartet man doch eher eine süße Küchenstube mit karierten Fensterläden und sowas“. „Ist es komisch, das Haus mit anderen zu teilen?“, fragte er und lehnte sich zu mir hinüber. „Naja, wenn du’s gewöhnt bist nicht. Am meisten nervt mich, dass ich mir jedes Mal, wenn ich mir auch nur einen Keks aus der Küche hole, zumindest eine Hose und einen Pullover anziehen muss“, sagte ich. „Weil du normalerweise splitternackt herumläufst?“, fragte er. „Wer weiß…“, murmelte ich und biss mir auf die Lippen. „Wo genau wohnt ihr denn? Noch hatte ich ja nicht die Ehre, dein Zimmer zu sehen“, fragte er dann. Ich räusperte mich und überlegte, die Gelegenheit zu nutzen, doch wir hatten gerade eine zufriedenstellende Sitzposition auf der Theke gefunden und sein Lächeln war warm wie die Tassen in unseren Händen. „Im zweiten Stock, auf der linken Seite der Treppe ist unser Flur, da haben meine Schwestern und ich unsere Zimmer und ein Bad, das wir uns teilen“, sagte ich stattdessen und deutete in die vage Richtung unserer Räumlichkeiten. „Hannah hat mich in meiner zugeklebten Schuhschachtel sogar schon besucht“. „Zugeklebt?“, fragte er nach und grinste. „Poster, Postkarten und all so ein Kram“, es war mir peinlich, sobald ich es aussprach. Bei dem Wort Poster musste ich unweigerlich an meine jüngste Schwester denken, die von ihrem Bett aus jeden Morgen in das strahlende Gesicht von Shawn Mendes hinaufblickte. Und dann musste ich daran denken, dass Neela eben diese Poster von mir bekommen hatte, nachdem ich mich schweren Herzens von ihnen getrennt hatte. Daraufhin war ich eine Weile zwischen Alternative Rock und Taylor Swift Songs hin und her geschlittert, bevor ich mich vor kurzem den Lieblingsliedern der vorherigen Generationen zugewandt hatte. „Was für welche denn? Also ich meine, wer sind die Leute an deiner Wand?“, fragte Christopher. Er lachte, aber ich wusste, dass er es nicht böse meinte und nahm einen Schluck Kakao, während ich überlegte, wie ich meine Musikleidenschaften am besten darstellen konnte. „Ich mag die Beatles. Und manchmal Marvin Gaye oder The 1975s. Und an manchen Tagen könnte ich Taylor Swift rauf und runter hören, vor allem ihre alten Sachen“, ich lächelte schüchtern und holte Luft. Eigentlich mochte ich Taylor Swift sogar richtig gerne. „Die Beatles sind schon eine Klasse für sich. Echte Revolutionäre…, kennst du die Filme?“. Zerknirscht schüttelte ich den Kopf und sah zu Boden. „Sie haben ein paar Filme gedreht. Ziemlich Chaotische ehrlich gesagt. Es heißt, sie wären die Hälfte der Zeit auf Drogen gewesen. Ich zeig dir einen, wenn du möchtest. Ich habe alle auf meinem Laptop. Ich meine, wenn’s dich interessiert. Ist aber echt ganz lustig anzusehen, also wenn du nichts gegen schwarz-weiß hast. Es sind auch ein paar Lieder mit drinnen, die passen zwar wenig zum Inhalt, aber was soll’s.“ Fragend sah er mich an und hob dabei kaum merklich die Schultern.
Für einen Moment genoss ich seine Ratlosigkeit, dann nickte ich. „Klar, das wäre großartig“, sagte ich und nickte weiter. „Und was magst du für Musik?“, fragte ich dann und entspannte mich. Ich baumelte mit den Beinen und lehnte mich ein wenig zurück, wobei ich beinahe rücklings in die Spüle runterrutsche. In der letzten Sekunde griff Christopher nach meiner Schulter und einen Millimeter vor dem übrig geblieben Spülwasser, das gräulich schimmernd dort unten herum dümpelte, riss er mich wieder nach oben. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. „Wenn ich dich so ansehe, wird mir mit einem Mal klar, wieso es immer heißt, dass die meisten Unfälle in der Küche passieren“, sagte er und lachte. Dann zählte er eine Reihe von Bands auf, von denen ich zumindest eine Hand voll kannte. Sein Musikgeschmack schien sich weniger auf ein bestimmtes Genre zu fokussieren.
„Ich war auch schon auf ein paar Konzerten“, sagte er und ich spürte, wie die Erinnerungen in ihm aufbrandeten. Er lächelte fortwährend, als er weitersprach. „In Glasgow habe ich mal Coldplay gesehen, das war großartig. Aber ewig her“. Er schmunzelte in sich hinein. „Meine Mom hat mich mal auf ein Konzert von Alicia Keys mitgenommen. Eigentlich wollte sie mit Dad hingehen, aber er hatte keine Zeit. Irgendwelche besonderen Tümmler waren an der Küste aufgetaucht“, sagte er dann. „Und wie war es?“, fragte ich. „Es war schrecklich. Ich meine, ich hatte gar keine Zeit auf die Musik zu achten, weil meine Mom die meiste Zeit über Dad reden wollte. Sie war ziemlich enttäuscht“. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte keine Eltern, die sich stritten oder enttäuscht voneinander waren. Meine Mom war irgendwie ein wenig enttäuscht von ihrem ganzen kleinen Leben und von der Liebe sowieso, aber sie sprach niemals darüber. „Warst du schon mal auf einem Konzert?“, fragte er dann. Schon wieder eine dieser Fragen. „Klar“, antwortete ich. „Ah, cool, von wem denn?“, er beugte sich zu mir herüber und sah mich neugierig an. „Also…, im McGann Pub an der Hauptstraße war letzten Sommer ein ziemlich guter Gitarrist aus Dublin. Ich war mit meinen Freunden da“, sagte ich schnell und leerte mit einem letzten Schluck die Tasse. „Ach so, so ein Konzert“, die Art wie er das so ein aussprach ließ mich für einen Moment verstummen. Ich wusste, was er dachte und ich wusste, dass es eine dieser Sachen war, die er nicht verstand. „Es klingt unbedeutend, wenn ich das so sage…“, murmelte ich, aber er schüttelte beschwichtigend den Kopf. „Nein, nein gar nicht“, sagte er. „Es war nur ein sehr schöner Abend und auch, wenn ich dir den Namen des Gitarristen sagen könnte, und du würdest ihn nicht kennen, dann wäre es immer noch ein schöner Abend gewesen“, fügte ich hinzu.
Er nickte und stellte seine Tasse in die Spüle. „Aber wen ich wirklich gerne einmal in einem Konzert sehen würde, ist Paul McCartney“, sagte ich dann. „Wieso genau ihn?“. Ich überlegte und kicherte dann. „Vielleicht klingt es banal, aber er ist so legendär. Ich habe Angst, dass er irgendwann nicht mehr auf Tournee geht, bevor ich ihn einmal live hören kann“. „Das schaffst du schon noch“, erwiderte Christopher aufmunternd und legte mir für einen Moment die Hand auf den Rücken. Und dann wurde es still. Und ich hörte Vögel im Garten zwitschern und ein paar Kinder auf den Feldern spielen. Der Himmel war ein wenig aufgebrochen und die Sonne in der Ferne zu erahnen. Ein Lichtstrahl fiel in den kahlen Raum und malte ein paar schimmernde Ovale an die weißen Wände. „Spielst du Fußball?“, fragte ich und konnte den Blick nicht von den tanzenden Lichttupfen nehmen. Er grinste und beugte sich vor, um in mein Gesicht zu sehen. „Ja, Lorna, ab und an gebe ich mir dieses kleine Vergnügen“, sagte er. „Und wieso fragst du?“, er grinste breit. „Hat dich diese kleine sommerliche Brise etwa auf eine Idee gebracht?“. Er stupste mich in die Seite, so wie Paula es immer tat, oder Franklin oder Beven, wie als würden wir uns kennen, nicht seit gestern, sondern eher seit immer. „Wer weiß“, murmelte ich. „Es kann jedenfalls nicht schaden, wenn du’s kannst“.
Der Fußball, den ich nach zehn Minuten Suchen im Schuppen hinter dem Stall fand, war so dunkelgrün wie Christopher Augen. Und er war ziemlich platt und zerfetzt, weil Robbie, der Nachbarshund ihn vor ein paar Monaten für eine Zeit lang in seine Hundehütte entführt hatte. „Diesen Ball hier habe ich sogar geklaut“, sagte ich stolz und warf ihn einmal in die Luft, bevor ich wieder zu Christopher hinübersah. „Ach, herrje, du bist eine Kriminelle“. „Sehr kriminell sogar. Er gehörte einem Jungen namens Dave, der meine beste Freundin geärgert hat“, ich ließ ihn ins Gras rollen. „Als er ihn in der Pause auf dem Hof hat liegen lassen, bin ich rausgeschlichen und habe ihn mir geholt. Jede Pause hat Dave die Mädchen damit aus Spaß abgeschossen. Paula hat einmal einen halben Zahn verloren, als er sie im Gesicht getroffen hat, das war schrecklich“. „Paula? Ist das deine beste Freundin?“. Ich nickte und schoss ihm den Ball zu. „Und? Irgendeinen bevorzugten Verein?“, er nahm den Ball an und dribbelte ein wenig durchs nasse Gras. „Ich weiß nicht“, sagte ich. „Hier in Doolin haben die wenigstens Bezug zu einem bestimmten Verein. Die irische Nationalmannschaft ist gut und sonst finde ich Chelsea ganz cool. Aber was weiß ich schon von Chelsea, ich war ja noch nie in England“. Christopher schoss den Ball zurück und rannte eine Runde über die Wiese. Der Himmel senkte sich schützend über die Felder, ein Tupfenmuster aus dunkelgrau und hellem Blau. „Hast du eigentlich einen Freund?“, fragte er dann und machte ein paar sehr merkwürdige Dehnübungen. Ich grinste, so als wäre das das albernste, das ich je gehört hatte. „Nein, habe ich nicht“, sagte ich dann. Wir schwiegen eine Weile, dann hielt ich in meinem Hin-und-Her-Dribbeln inne. „Und du?“, für einen Moment versuchte ich ihn nicht anzusehen und dribbelte scheinbar sorglos weiter. „Nein“, sagte er dann. Ein paar Sekunden später brach ein Sonnenstrahl sich seinen Weg durch die Wolkendecke, so, dass ein Flecken Licht auf dem Rasen entstand. Ich lächelte stumm in mich hinein und nickte wenig interessiert. „Ach, so“, murmelte ich dann und wartete einen Moment ab. Dann aber preschte ich mit dem Ball über die Wiese an ihm vorbei und schoss diesen in die windgefüllten Gräser. Wir spielten eine Weile hin und her und versuchten uns gegenseitig den Ball zu stehlen. Christopher war ein guter Verteidiger, er ließ sich von nichts ablenken und seine Augen ruhten ununterbrochen auf der durchnässten Lederkugel. Meine Augen hingegen ruhten eher auf ihm, beinahe ungeniert beobachtete ich, wie seine Haare hin und her hüpften und wie er die Lippen zusammenkniff, wenn es mit seinen Füßen brenzlig wurde.
Für mich war er wie eine Premiere: Noch nie hatte ich mit einem Gast Fußball im Garten gespielt, es kamen manchmal Kinder, mit denen ich ein wenig hin und her kickte, aber keines von diesen hatte mich je gefragt, ob ich einen Freund hätte. Irgendwann, als ich längst die Zeit vergessen hatte, begann es erneut zu regnen. Nicht der feine, fast unsichtbare irische Regen, sondern einer mit dicken, prasselnden Tropfen, in dem man innerhalb kürzester Zeit von oben bis unten nass ist. Und wir hörten noch immer nicht auf, stürzten durch den Regen und sanken im dunklen Gras zwischen all der Nässe bei jedem Schritt ein Stückchen tiefer. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass die Schuhe nicht ganz so alt und auch nicht ganz so hässlich waren, als dass man sie unbedacht hätte ruinieren können, aber mittlerweile sahen wir kaum mehr als zehn Meter weit und um einander noch anblicken zu können, standen wir dicht an dicht, oder zumindest kam es mir so vor. Wir hörten erst auf, als Christopher in der tiefsten Pfütze den Halt verlor, als er den Ball nach links schießen wollte und zu Boden sank. Er fiel rücklings in die feuchte Erde und lag für einen Augenblick da wie ein Maikäfer mit ausgestreckten Beinen. In tiefem südlichem Akzent begann er zu fluchen und rappelte sich allmählich auf, ich reichte ihm die Hand und zog ihn wieder zurück auf die Beine. „Ehrlich gesagt, ist mir das jetzt ziemlich peinlich“, murmelte er und sah an sich hinab. Seine Hose war matschverschmiert und seine Ellenbogen voller grasiger Flecken. Er sah aus wie Neela, wenn sie nach einem Nachmittag mit ihren Freundinnen nach Hause kam. Vielleicht ein bisschen schlimmer.
„Quatsch, das ist sozusagen der traditionelle Doolin-Look, den du da trägst“, sagte ich und stupste ein Grasbüschel von seiner Schulter. „Meinst du?“, er zupfte stirnrunzelnd an den dreckigen Sachen herum. „Und steht er mir?“, er schwang den Kopf zurück und versuchte die fleckigen Stellen auf seinen Sachen in Szene zu setzen. „Äußerst“, sagte ich und applaudierte leise ein wenig. „Willst du noch weiterspielen?“, fragte ich dann und sah auf den Boden zwischen uns, vielleicht 50 cm Gras lagen da. Ich war so durchnässt, dass ich die Regentropfen, die auf uns hinunterfielen, kaum mehr spürte, da waren eigentlich nur ich und dieser Junge, das Haus und die Bäume ringsum waren im Nebel verschwunden. Es war, als wären wir in einer anderen Welt, an einem geheimen Ort, der gerade so von unseren Schuhspitzen bis zu unseren Köpfen reichte und dann der ganze unausgesprochene Dunst dazwischen, der aus den Gräsern stieg. „Ich glaube, wenn ich mich noch mehr einsaue, wird meine Mom sauer“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Deine Mom wird dann sauer? Meiner wäre das ziemlich egal“, erwiderte ich belustigt. „Sie interessiert sich eigentlich nicht für den Blödsinn, den wir treiben“. „Das klingt entspannt“, sagte er, „sie wirkte ziemlich freundlich, als wir angekommen sind“. „Sie ist freundlich, echt, sie hat ein riesengroßes Herz, aber naja, sie hat so viel zu tun, dass sie wenig Zeit hat. Wenig Zeit teilzunehmen an den Sachen, die außerhalb des B&Bs passieren. Und manchmal schließt uns das ein wenig mit ein. Man kann es ihr nicht verübeln. Ohne sie wären wir nichts“. Ich klaubte den Ball vom Boden auf und drückte ihn an meine Regenjacke.
Langsam machten wir uns auf den Weg zum Haus zurück, der Boden quietschte unter unseren Füßen. „Deine Schwestern und du?“, fragte Christopher. „Ja, Beven und Neela. Wir haben einfach gelernt, viele Sachen irgendwie selbst zu machen, damit Mom nicht noch mehr zu tun hat. Sie soll sich nicht mit Teenagerproblemen herumschlagen müssen, wenn sie schon an so viele andere Leute denken muss. Sie würde, wenn wir es wollen würden. Keine Frage, wenn wir Hilfe bräuchten, dann wäre sie sofort da. Aber wir helfen eigentlich immer einander“. Für einen Moment lag vielleicht so etwas wie Bewunderung in seinem Blick, dann seufzte er leise und blickte mich von der Seite an. „Wie sind deine Schwestern?“, fragte er dann, während wir die Treppen zum Haus hinauf schlenderten. Im Außenlicht an den Hauswänden sah er noch viel schlimmer aus, wie ein kleiner Junge, der eine Schlammschlacht veranstaltet hatte. Er hatte sogar ein wenig feuchte Erde in den Haarspitzen, die nun langsam zu stumpfen Strähnen trockneten. Ich musste mir ein Lachen knapp verkneifen. „Beven ist vierzehn. Sie ist nachdenklich, bleibt länger wach als ich und schert sich meistens wenig darum, was andere von ihr denken. Sie versucht meistens gleichgültig rüberzukommen, aber das ist sie eigentlich überhaupt nicht. Und Neela ist zehn und naja, vielleicht nicht mehr so wie Hannah aber…“, „Aber was?“, er lächelte amüsiert und hatte sich an den Türrahmen gelehnt. „Naja, sie liebt Pferde und singt immer die Liedtexte ganz falsch mit und all das, aber sie ist ein echter Sonnenschein“. Ich lehnte mich an die andere Ecke des Rahmens und lächelte in den Regen hinaus. „Ich wäre gerne nochmal so alt wie sie, ohne die ganzen Teenager Sachen und den Stress“. „Das stimmt“, sagte er und nickte nachdenklich. „Manchmal würde ich echt gerne nochmal in den Kindergarten, wo man noch Sachen ausmalen musste und so was. Dann würde ich in Kunst vielleicht auch noch gute Noten kriegen“. „Ist Kunst nicht so dein Ding?“, fragte ich nach. Er schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Schmunzeln. „Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ich meine wirklich ein ziemlich blödes Geheimnis?“, er beugte sich ein wenig zu mir vor. Von seinen Haaren tropfte der Regen über seine Stirn seine Nasenspitze hinunter. Ich nickte etwas zögerlich, dann spürte ich seine Finger an meinem Gesicht, mit den von Dreck verkrusteten Fingernägeln strich er mir eine Strähne hinters Ohr und beugte sich dann so weit zu mir herüber, bis sein Mund kurz vor meinem Gesicht war. „Ich bin dieses Jahr erst in die 11. Klasse gekommen, weil ich in der 8. zurückgestuft worden bin. Und zwar, weil ich eine sechs in Kunst bekommen habe“. Christophers Schullaufbahn interessierte mich in diesem Augenblick weniger als der warme Atem, der so nah an meinem Ohr war. Allein dieser Atem war wie ein kleines Geheimnis, diese kleine Berührung. Wenn wir früher Stille Post gespielt hatten und man neben jemandem saß, den man nicht so gut kannte, dann hielt man meistens die Hand vor den Mund und flüsterte nur ganz schnell und mit möglichst viel Abstand dem anderen irgendwas ganz flüchtig ins Haar. Aber Christopher machte nichts dergleichen, er flüsterte in mein Ohr, als wäre es nicht das Ohr einer Fremden und ich brauchte einen Moment, um zu verkraften, wie schön sich das anfühlte. Und wie vertraut. Im nächsten Augenblick flog die Tür auf, vor der wir standen, und ein Pärchen, das aus dem B&B abzureisen schien, polterte mit Koffern und Taschen direkt in uns hinein. Erschrocken huschten wir auseinander und endschuldigten uns mit gesenkten Köpfen dafür, dass wir den Ausgang blockiert hatten. Als das Pärchen in ihren Wagen gestiegen und endlich verschwunden war, deutete ich auf die Tür. „Vielleicht nicht der beste Ort zum Reden“, sagte ich. Ich hielt inne und überflog gedanklich die inneren Räumlichkeiten. Wenn ich nicht etwas sagen würde, würden sich unsere Wege jetzt trennen, dann würde Christopher in sein Zimmer gehen und ich in meins. Wir würden uns unbeholfen verabschieden und verschwinden. In verschiedene Richtungen. „Ich meine…“, fragend sah ich ihn an. „Ich meine, wenn du möchtest, können wir auf mein Zimmer gehen“. Es war zwar nur ein kleines Zimmer mit teils peinlich alten Postern an den Wänden, aber im Regen vor der Tür zu stehen war tatsächlich nicht die einladendste Option. Er lächelte und nickte schließlich, dann jedoch blickte er etwas zweifelnd auf seine Sachen hinab. „Wenn du mir eine halbe Stunde zum Duschen gibst, gerne.“ „Klar, ich bin den ganzen Tag hier. Ich wohne in diesem B&B, ich gehe schon nicht weg“.