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SECHSTE HOMILIE. * Kap. 1, V. 28—31 und Kap. II, V. 1—16. *

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1.

* Kap. 1, V. 28—31 und Kap. II, V. 1—16. *

V. 28: „Und wie sie ihrerseits gar keinen Wert darauf legten, eine rechte Erkenntnis von Gott zu besitzen, so überließ sie Gott seinerseits ihrem verkehrten Sinn, das Ungehörige zu tun.“

Damit es nicht den Anschein bekomme, als sei die lange Strafrede gegen die Knabenschändung auf die (christlichen) Römer gemünzt gewesen, darum geht der Apostel im folgenden auf andere Arten von Sünden über; er bringt damit zugleich auch die Rede auf andere Leute. Auch sonst führt der Apostel, wenn er zu den Gläubigen von Sünden spricht und sie als zu meidende hinstellen will, immer die Heiden als Beispiel an, so z. B. wenn er sagt: „Nicht in leidenschaftlicher Gier wie die Heiden, die von Gott nichts wissen“ 71, und wieder: „Damit ihr nicht betrübt seid wie die andern, die keine Hoffnung haben“ 72. In derselben Weise bringt er auch hier zum Ausdruck, daß es sich um Sünden der Heiden handle und spricht ihnen jede Entschuldigung ab; denn nicht aus Unwissenheit, sagt er, gehen jene Lastertaten hervor, sondern aus gewollter Absicht. Darum sagt er nicht: „und wie sie Gott nicht erkannten“, sondern: „Und wie sie keinen Wert darauf legten, von Gott eine rechte Erkenntnis zu besitzen.“ Das Wesen der Sünde, will er sagen, liege mehr in einem verkehrten Urteil und in Eigensinn als in einem Hingerissenwerden. Er bringt damit zum Ausdruck, daß die Sünden nicht, wie manche Irrlehrer behaupten, im Fleische ihren Sitz haben, sondern im Geiste, im Verlangen nach dem Bösen; da liege die Quelle aller Übel. Denn ist einmal der Geist irre geleitet, dann kommt auch alles andere aus der Bahn und geht drunter und drüber, wie wenn der Wagenlenker nichts wert ist. * V 29: „Sie waren voll jeglicher Ungerechtigkeit, Bosheit, Habsucht, Schlechtigkeit“ *

Beachte die Reihenfolge! Sie waren voll, sagt er, „jeglicher“ Ungerechtigkeit. Er nennt zuerst die Schlechtigkeit im allgemeinen und führt dann einzelne Arten derselben an; dabei häuft er die Namen.

„Voll Neid und Mord“

Der letztere kommt vom ersteren, wie es sich in der Geschichte von Abel und Joseph zeigt. Dann fährt er fort:

„Voll Streit, Heimtücke, Gemeinheit“ V. 30: „Ohrenbläser, Verleumder, Gottesverächter, Frevler“

Der Apostel zählt da unter den Vorwürfen Dinge auf, die manchen belanglos scheinen könnten; dann steigert er wieder die Anklage und steigt zur höchsten Spitze der Sünden empor, wenn er sagt: „Prahlhänse“. Denn schlimmer als das Sündigen selbst ist es, sich noch etwas darauf einzubilden. Darum macht er den Korinthern denselben Vorwurf, indem er sagt: „Und da seid ihr noch eingebildet“ 73. Denn wenn jemand schon alles Verdienst verliert, der auf ein gutes Werk eingebildet ist, welche Strafe wird erst der verdienen, welcher sich gar auf seine Sünden etwas einbildet? Ein solcher kann ja gar nicht in sich gehen. Dann heißt es weiter:

„Erfinderisch im Bösen“

— Damit drückt der Apostel aus, daß sie sich nicht genügen ließen an dem, was (an Bösem) bereits da war, sondern daß sie noch Neues dazu erfanden. Das zeigt wieder, daß sie mit Absicht und Vorbedacht sündigten, nicht hingerissen und überwältigt (von der Leidenschaft). Nachdem nun der Apostel das Böse im einzelnen angeführt und auch gezeigt hat, daß sie auch gegen das natürliche Gesetz verstoßen haben — „sie waren ungehorsam gegen die Eltern“ — kommt er im folgenden auf die Wurzel so großen Verderbens, indem er sie „lieblos und treulos“ nennt. Auf dieselbe Ursache des Bösen weist auch Christus hin, wenn er spricht: „Wenn die Sünde überhand nimmt, wird die Liebe gar vieler erkalten“ 74. Dasselbe sagt auch Paulus hier. Er nennt sie:

V. 31: „Treulos, lieblos, rücksichtslos, erbarmungslos“. und zeigt damit an, daß sie auch das Geschenk der Natur preisgegeben hatten. Wir haben nämlich von Natur aus eine gewisse Zuneigung zueinander, wie eine solche auch die Tiere besitzen. Denn „jedes Wesen“, heißt es, „liebt seinesgleichen und der Mensch seinen Nächsten“ 75. Aber die Menschen waren wilder als die Tiere.

So hat nun der Apostel die Krankheit aufgezeigt, die als Folge schlechter Glaubenslehren die Welt befallen hat, und klargelegt, daß die ganze Krankheit herkomme von der Sorglosigkeit der Kranken selbst. Im folgenden legt er dar, wie er es bei den Glaubenslehren gemacht hat, daß sie auch darin unentschuldbar sind. Er sagt:

V. 32: „Sie kennen recht wohl die Forderung der Gerechtigkeit Gottes, daß die, welche so etwas tun, den Tod verdienen, und doch tun sie solches nicht bloß, sondern sie zollen noch denen Beifall, die es tun“

Zwei Einwände hat hier der Apostel im Sinne und beantwortet sie beide ganz schlagend. Du sagst, meint er, du habest nicht gewußt, was zu tun sei? Nun, hast du das wirklich nicht gewußt, so liegt die Schuld bei dir; du hast Gott, der es dir zu wissen tun wollte, den Rücken gekehrt. Übrigens habe ich dir soeben durch vielerlei Gründe dargetan, daß du (das Gesetz Gottes) ganz wohl kennst und darum mit Wissen und Willen sündigst. Aber du wirst von den Leidenschaften dazu hingerissen? Warum wirkst du aber dann zur Sünde mit und lobst sie? „Sie tun solches nicht bloß“, heißt es, „sondern sie zollen noch denen Beifall, die es tun.“ Diesen zweiten Einwand, der schlimmer ist und unentschuldbar, hebt der Apostel besonders hervor, um ihn abzutun. Wer die Sünde lobt, ist viel schlechter als der, welcher sie begeht. Das stellt also der Apostel zunächst fest und verstärkt im folgenden noch die Begründung, indem er so sagt:

Kap. II, V. 1: „Darum bist du unentschuldbar, o Mensch, jeder, der da richtet; denn worin du einen andern richtest, darin verurteilst du dich selbst.“

Das sagt er wohl mit Bezug auf die (herrschende) Stellung, die damals Rom einnahm; diese Stadt hatte nämlich zu jener Zeit die Herrschaft über die Welt inne. Er will damit also gesagt haben: „Du nimmst dir selbst die Entschuldigung, wer immer du sein magst:“ Denn wenn du z. B. einen Ehebrecher verurteilst und du bist selbst ein solcher, dann hast du dir mit deinem Urteilsspruch dein eigenes Urteil gesprochen, wenn dich auch sonst gar niemand vor Gericht zieht.

V.2: „Wir wissen nämlich recht gut, daß Gottes Urteil über die, welche solches tun, der Wahrheit gemäß ist.“

Damit nämlich nicht jemand sage: Ich bin bis jetzt ohne Strafe davongekommen, will der Apostel Furcht einflößen. Er sagt, daß es bei Gott nicht so zugehe wie bei den Menschen hier auf Erden. Hier wird der eine bestraft und der andere, der dasselbe getan hat, kommt davon. Bei Gott ist es aber nicht so. Daß da der Richter das Rechte kennt, spricht der Apostel aus; woher er es kennt, fügt er nicht bei; es wäre überflüssig gewesen. Bezüglich der Gottlosigkeit legt er aber beides dar: sowohl daß der, welcher gottlos handelt, Gott kennt, als auch, woher er ihn kennt, nämlich aus der Schöpfung. Weil diese Quelle nicht allen bekannt war, darum nennt er sie eigens. Hier aber übergeht er die Quelle (der Erkenntnis, die Gott selbst hat) mit Stillschweigen, weil sie allgemein bekannt ist. — Wenn der Apostel sagt: „jeder, der da richtet“, spricht er nicht allein von den Berufsrichtern, sondern auch von Privatleuten und Untertanen.

2.

Alle Menschen richten nämlich die Fehlenden, wenn sie auch nicht gerade einen Richterstuhl innehaben und keine Scharfrichter und keinen Halsblock; sie richten sie in ihren Gesprächen, bei ihren Zusammenkünften nach dem Richterspruch, den ihnen ihr Gewissen eingibt. Niemand wird sich unterfangen, zu sagen, daß ein Ehebrecher keine Strafe verdient. Aber nur andere, sagt der Apostel, verurteilen sie, nicht sich selbst. Darum setzt er ihnen scharf zu, indem er sagt:

V. 3: „Meinst du etwa, o Mensch, der du die richtest, welche solches tun, während du dasselbe tust, du werdest dem Gerichte Gottes entgehen?“

Bisher hat der Apostel die Verschuldung der gesamten (heidnischen) Menschheit in Glauben und Tun aufgezeigt, daß die Heiden, obwohl sie begabt waren mit Verstand und die Schöpfung als Führerin hatten, doch nicht bloß Gott den Rücken gekehrt, sondern sich sogar den Abbildern von Kriechtieren zugekehrt haben, daß sie die Tugend verachtet und dem natürlichen Triebe folgend sich dem Laster in die Arme geworfen haben, obzwar dies sogar gegen die Natur war. Nun geht er einen Schritt weiter und zeigt, daß die, welche solches tun, auch Strafe zu gewärtigen haben. Auf eine Strafe hat er schon hingewiesen, als er von ihrem Tun sagte: „Sie empfingen die Vergeltung für ihre Verirrung, wie sie sich gebührte, an sich selbst.“ Da sie aber diese Strafe nicht achten, nennt er eine andere, vor der sie sich sehr fürchteten. Er hat dieselbe übrigens schon früher angedeutet; denn wenn er sagt, daß das Urteil Gottes der Wahrheit gemäß ist, so will er damit auch nichts anderes gesagt haben. Er führt diesen Gedanken aber noch weiter aus, indem er spricht: „Meinst du etwa, o Mensch, der du die richtest, welche solches tun, während du dasselbe tust, du werdest dem Gerichte Gottes entgehen?“ Du bist dem Urteilsspruche, durch dich selbst gefällt, nicht entgangen und solltest dem Gottes entgehen? Wer möchte so etwas behaupten? Du hast dir selbst dein Urteil sprechen müssen; so groß war die Strenge dieses Gerichtshofes, daß du deiner selbst nicht schonen konntest. Wieviel mehr wird dasselbe nicht erst Gott tun müssen, der sündenlose, überaus gerechte Gott? Du hast dich selbst schuldig erkennen müssen; Gott aber sollte dich freisprechen und loben? Wie hätte das einen Sinn? Also verdienst du eine größere Strafe als der, den du schuldig gesprochen hast; denn es ist nicht dasselbe, einfach eine Sünde begehen oder dieselbe selbst wiederholen, nachdem man sie an einem andern gestraft hat. Siehst du, wie der Apostel die Anklage steigert? Denn wenn du, sagt er, einen, der einen geringen Fehler begangen hat, strafst, obwohl du selbst daran bist, die Schande (der Sünde) auf dich zu laden, wie sollte nicht Gott, bei dem die Sündenschande ausgeschlossen ist, dich strafen, der du in größeren Stücken fehlst, und dich nicht verurteilen, nachdem du schon verurteilt bist durch deine eigene Vernunft? Wendest du aber ein, daß du dir zwar deiner Strafwürdigkeit bewußt bist, daß du dir aber mit Rücksicht auf Gottes Langmut nichts daraus machst und straflos auszugehen hoffst, weil du nicht gleich gestraft wirst: so solltest du gerade deswegen bangen und beben. Denn nicht dazu erfolgt der Aufschub der Strafe, daß du keine Strafe erleidest, sondern dazu, daß dich eine viel schwerere trifft, wenn du, was Gott verhüte, ungebessert bleibst. Darum fährt der Apostel fort:

V. 4: „Oder mißachtest du den Reichtum seiner Güte, seiner Nachsicht und Langmut, und weißt doch, daß Gottes Güte dich zur Buße leitet?“

Indem der Apostel die Langmut Gottes preist und zeigt, daß die, welche auf sie bauen, den größten Gewinn aus ihr ziehen können — der Gewinn ist nämlich der, daß sie die Sünder zur Buße zieht —, vermehrt er die Furcht. Denn so wie Gottes Langmut denen, die sie sich, wie es sein soll, zunutze machen, die Ursache zu ihrem Heile wird, so bringt sie denen, die sie mißachten, größere Strafe. Es ist eine oft gehörte Rede; Gott ist gütig und langmütig; er will keine Strafe. Wenn du das nachsprichst, sagt der Apostel, so sprichst du nur eine Erhöhung deiner Strafe aus. Seine Güte zeigt Gott deswegen, damit du von den Sünden ablassen, nicht damit du ihrer noch mehr begehen sollst. Läßt du nicht ab von ihnen, so wird die Strafe um so furchtbarer sein. Man darf daher nicht sündigen, weil Gott langmütig ist, und darf nicht dessen gute Absicht zum Anlaß der Undankbarkeit machen. Ist er auch langmütig, so straft er doch gewiß. Woraus geht das hervor? Aus den folgenden Worten. Ist des Bösen viel geworden und haben die Bösen noch keine Strafe erhalten, so werden sie sie sicher erst erhalten. Denn wenn Menschen so etwas nicht übersehen, wie wird es Gott übersehen? Darum bringt der Apostel die Rede auf das Gericht. Indem er nämlich zeigt, daß der Straffälligen, wenn sie nicht Buße tun, recht viele sind, ferner, daß sie hienieden nicht gestraft werden, kommt er wie von selbst auf das Gericht, das ein sehr schweres sein wird. Er sagt:

V. 5: „Mit deiner Verstocktheit und deinem unbußfertigen Herzen häufst du dir nur (Gottes) Zorn.“

Wenn sich etwas nicht durch Güte erweichen und nicht durch Furcht umbiegen läßt, was gibt es da Verhärteteres? Nachdem der Apostel die Liebe Gottes aufgezeigt hat, weist er dann hin auf seine Strafe und sagt, daß sie unerträglich sei für den, der sich sonst nicht bekehren läßt. Beachte da, welch treffender Worte er sich bedient! „Du häufst dir“, sagt er, „den Zorn.“ Damit drückt er aus, daß Gott selbst der Zorn ferne liegt und daß nicht der Richter, sondern der Gerichtete daran schuld ist. „Du häufst dir“, heißt es ja, nicht Gott dir. Er hat ja alles getan, was er konnte; er hat dir die Fähigkeit gegeben, das Gute zu unterscheiden von dem Bösen, er hat Langmut an den Tag gelegt, er hat zur Buße gerufen, er hat den schrecklichen Gerichtstag angedroht, alles um dich zur Umkehr zu bewegen; wenn du nun trotz alledem auf deinem Wege bleibst, so „häufst du dir den Zorn

am Tage des Zornes und der Offenbarung und des Strafgerichtes Gottes“.

— Damit du nicht, wenn du von Zorn hörst, an die Leidenschaft des Zornes denkst, setzt der Apostel bei: „des Strafgerichtes Gottes“. Treffend sagt er auch: „Am Tage der Offenbarung.“ Dann wird nämlich offenbar werden, was ein jeder nach Recht und Gerechtigkeit zu empfangen hat. Hier auf Erden tun nämlich viele andern ungerechterweise Kränkungen an und sind gegen sie feindlich gesinnt; dort wird dies nicht der Fall sein.

V. 6: „Er wird einem jeden vergelten nach seinen Werken: den einen, die in unerschütterlichem Dienst einer guten Sache …“

3.

Nachdem der Apostel in einem erschreckenden und ernsten Ton vom zukünftigen Gericht und der Bestrafung gesprochen hat, führt er nun nicht, wie man erwarten sollte, die Schilderung dieses Strafgerichtes weiter aus, sondern er bringt die Rede auf etwas Erfreulicheres: die Belohnung des Guten. Er sagt so: „den einen, die in unerschütterlichem Dienst einer guten Sache

Herrlichkeit und Ehre und Unsterblichkeit suchen, ewiges Leben“

— Hier muntert er die auf, welche in ihren Trübsalen mutlos geworden sind, und zeigt, daß man nicht auf den Glauben allein sein Zutrauen setzen dürfe; denn jenes Gericht prüfe auch die Werke. — Beachte, wie der Apostel, wenn er vom Jenseits spricht, außerstande, die himmlischen Güter im einzelnen zu nennen, nur die Worte „Herrlichkeit“ und „Ehre“ gebraucht. Denn da jene Güter alle menschlichen Verhältnisse übersteigen, hat er kein Bild zur Verfügung, um von ihnen eine richtige Vorstellung zu geben. Er stellt sie uns dar, so gut es geht, durch Worte, unter denen wir uns etwas Großes denken, wie „Herrlichkeit“, „Ehre“, „Leben“. Das sind ja die Güter, nach denen das Streben der Menschen geht; aber jene himmlischen sind diesen nicht gleich, sondern viel besser, schon deswegen, weil sie unvergänglich und ewig sind. Siehst du, wie uns der Apostel gewissermaßen wie durch die Türspalte einen Blick tun läßt auf die Auferstehung des Leibes, indem er das Wort „Unsterblichkeit“ ausspricht? Gemeint ist die Unsterblichkeit des vergänglichen Leibes. Weil das aber noch nicht genug war, setzt er dann noch hinzu: „Herrlichkeit und Ehre“. Denn wir werden zwar alle unsterblich auferstehen, aber nicht alle zur Herrlichkeit, sondern die einen zur Bestrafung, die andern zur Herrlichkeit. * V. 8: „Für die andern dagegen, die nach ihrem Kopf weiter machen …“ *

Wieder spricht der Apostel denen, die im Laster dahinleben, Verzeihung ab; er zeigt nämlich, daß sie aus Hartnäckigkeit und Fahrlässigkeit in die Sünde gefallen sind —

„und der Wahrheit nicht nachgeben, sondern der Ungerechtigkeit sich überlassen.“

— Sieh da eine weitere Anklage! Denn welche Entschuldigung sollte jemand haben, der das Licht flieht und die Finsternis aufsucht? Der Apostel sagt auch nicht: „überwältigt und beherrscht“, sondern: „die sich der Ungerechtigkeit überlassen“. Daraus sollst du ersehen, daß der Fall in die Sünde eine Tat der freien Wahl, daß die Sünde nicht ein Zwang ist.

„Ungnade und Zorn, Bedrängnis und Angst über jede Seele eines Menschen, der Böses tut.“

— D. h. ob jemand auch reich ist, eine Standesperson, gar ein Herrscher, auf niemanden nimmt jener Richterspruch Rücksicht. Da gilt nicht Rang und Würde.

Nachdem nun der Apostel die übergroße Schwere der Krankheit dargelegt und die Entstehungsursache derselben festgestellt — daß sie von der Fahrlässigkeit der Kranken selbst kommt —, auf den Ausgang hingewiesen — daß diese Kranken zugrunde gehen müssen — und die Leichtigkeit der Heilung betont hat, spricht er den Juden wieder eine größere Strafe zu. Denn wer mehr Unterweisung genossen hat, der verdient eine größere Strafe, wenn er das Gesetz übertritt. Darum werden wir, wenn wir sündigen, um so mehr gestraft, je gescheiter oder je mächtiger wir sind. Bist du reich, so verlangt man von dir mehr Geld als von einem Armen, bist du gescheiter, so mehr Achtung auf das Gesetz, bekleidest du ein Amt, hervorstechendere gute Taten; so wird überall deine Leistung nach deiner Kraft bemessen.

V. 10: „Herrlichkeit und Ehre und Friede jedem, der das Gute betreibt, dem Juden in erster Linie und dem Heiden.“

Welchen Juden meint er da, und von welchem Heiden ist da die Rede? Von denen, die vor der Ankunft Christi lebten. Noch ist nämlich die Erörterung nicht bis in die Zeiten der Gnade gediehen, sondern es ist noch die Rede von den Zeiten vorher. Trotzdem räumt der Apostel schon jetzt mit dem Unterschied zwischen Juden und Heiden auf. Er tut es schon hier, damit man nicht meine, wenn er später, von der Gnadenzeit sprechend, es tut, daß er etwas Neues und etwas Lästiges vorbringe. Denn wenn in den Zeiten vorher, wo die Sonne der Gnade noch nicht so erstrahlte, wo das Judentum bei allen angesehen und hochberühmt war und als eine Auszeichnung galt, wenn damals kein Unterschied bestand, was ließe sich für ein Grund dafür geltend machen für die spätere Zeit, da die Gnade in solcher Fülle erschienen war? Darum legt der Apostel hier mit solchem Nachdruck den Finger darauf. Denn ist der Leser einmal darüber belehrt, daß dies schon in früherer Zeit so gewesen ist, wird er es um so mehr für die Zeit des Glaubens zugeben. Unter „Heiden“ meint hier der Apostel nicht die Götzenanbeter, sondern jene Gottesverehrer, welche dem natürlichen Gesetze nach alles, was zur Frömmigkeit gehört, beobachteten mit Ausnahme der Satzungen des Judentums. Solche waren Melchisedech und seine Leute, ein solcher war Job, solche waren die Niniviten, ein solcher war Kornelius. So arbeitet also der Apostel schon jetzt der Niederlegung der Scheidewand zwischen Beschnittenen und Unbeschnittenen vor. Er hebt diese Unterscheidung schon jetzt auf, und zwar so, daß man seine Absicht kaum merkt und meint, er sei durch den notwendigen Zusammenhang der Rede darauf geführt worden. Es ist dies eine stete Eigenheit des klugen Verfahrens des Apostels. Hätte er nämlich dies [die gleiche Behandlung von Juden und Heiden seitens Gottes] von der Zeit der Gnade behauptet, so wäre diese Behauptung verdächtig erschienen. Weil er aber da im Zusammenhange darauf zu sprechen kommt, wo er von der Sündhaftigkeit spricht, die von der ganzen Menschheit Besitz genommen hatte, und von der Lasterhaftigkeit, die von den damaligen Menschen auf die Spitze getrieben worden war, macht er seine Lehre unverdächtig.

4.

Daß er aber in dieser Absicht seine Gedankenfolge so formt, ist aus der ganzen Stelle ersichtlich. Wenn ihm nicht daran gelegen gewesen wäre, dies zu erweisen, hätte er nach den Worten: „Mit deiner Verstocktheit und deinem unbußfertigen Herzen häufst du dir nur Gottes Zorn am Tage des Zornes“, mit diesem Punkte Schluß machen können. Der Gegenstand war zum Abschluß gebracht. Weil es aber nicht des Apostels Absicht war, bloß von dem zukünftigen Gericht zu sprechen, sondern auch zu zeigen, daß der Jude nichts vor dem Heiden voraus habe, damit jener sich nichts einbilde, darum geht er noch weiter, und zwar in dieser Gedankenfolge: — merk auf! Er hat den Leser in Furcht gesetzt; er hat ihm den Tag des Schreckens angekündigt; er hat ausgesprochen, wie schlimm es sei, in der Sünde zu leben; er hat gezeigt, daß niemand aus Unkenntnis (des Gesetzes) sündige und darum nicht straflos ausgehen werde, sondern daß er, wenn nicht gleich, so doch ganz gewiß einmal seine Strafe erfahren werde. Daraus will er nun die Folgerung ableiten, daß die Kenntnis des jüdischen Gesetzes nicht unbedingt notwendig sei; denn nach den Werken richtet sich Strafe und Lohn, nicht nach Beschnitten- oder Nichtbeschnittensein. Nachdem der Apostel gesagt hat, daß der Heide ganz gewiß seine Strafe erfahren werde, und, dies angenommen, gefolgert hat, daß er auch seine Belohnung bekommen werde, hat er damit dargetan, daß Gesetz und Beschneidung eigentlich nebensächlich seien. Damit will er hauptsächlich die Juden, treffen; denn diese waren ungemein eingebildet. Erstens einmal hielten sie es unter ihrer Würde, mit den andern Völkern auf eine Stufe gestellt zu werden, und zweitens fanden sie es lächerlich, daß der Glaube alle Sünden tilgen solle. Darum hat der Apostel zuerst an die Heiden, von denen die Rede ist, eine Strafpredigt gehalten, damit er dann unauffällig und mit Freimut den Juden die Wahrheit sagen könne. Im weiteren Verlauf der Rede, wo er auf die Bemessung der Strafe zu sprechen kommt, zeigt er, daß der Jude von seinem Gesetze nicht nur keinen Nutzen habe, sondern daß es sogar seine Lage noch erschwere. Diese Folge zieht er aus dem oben Gesagten. Denn wenn der Heide deswegen unentschuldbar ist, weil er trotz Schöpfung und Vernunft, die ihm Wegweiser zu Gott waren, nicht besser geworden ist, um wieviel unentschuldbarer wird der Jude sein, der nebst allem dem noch durch das Gesetz Belehrung empfangen hat. Nachdem nun der Apostel den Juden dazu gebracht hat, diese Schlußfolgerung in bezug auf die Sünden der Heiden gelten zu lassen, nötigt er ihn wider seinen Willen dazu, dies auch in bezug auf sich selbst zu tun. — Um übrigens dieser seiner Erörterung gute Aufnahme zu verschaffen, lenkt der Apostel jetzt die Rede auf erfreulichere Dinge, indem er sagt: „Herrlichkeit und Ehre und Friede jedem, der das Gute betreibt, dem Juden in erster Linie und dem Heiden.“ Hienieden mag jemand besitzen, soviel er will, er besitzt es immer nur unter vielerlei Kämpfen, ob er auch reich ist oder eine Standesperson oder gar ein König. Wenn schon nicht mit einem Nebenmenschen, so gerät er doch öfter mit sich selbst in Zwiespalt und hat vielfach zu kämpfen in seinem Innern. Nicht so ist es dort im Jenseits, sondern dort ist alles Ruhe ohne Störung und wahrer Friede.

Nachdem der Apostel aus dem oben Gesagten gefolgert hat, daß auch die, welche das jüdische Gesetz nicht haben, zu demselben Genuß der ewigen Seligkeit gelangen können, führt er als weiteren Grund dafür an:

V. 11: „Denn bei Gott gilt kein Ansehen der Person.“

Wenn er sagte, daß der Jude wie der Heide gestraft wird, wenn sie sündigen, bedarf dies keiner weiteren Begründung. Wenn er aber die Behauptung aufstellt, daß auch der Heide belohnt werde, so erfordert dies eine nähere Begründung; denn es müßte verwunderlich und widerspruchsvoll erscheinen, daß einer, der weder von Gesetz noch Propheten gehört hat, für gute Werke belohnt werden soll. Darum bereitete der Apostel, wie ich schon sagte, seine Leser darauf vor, wo er von den Zeiten sprach, die der Gnade vorausgehen, damit sie ihm später, wenn er von der Zeit der Gnade sprechen wird, um so leichter Beifall zollen. Denn da ist er ganz unverdächtig, da er ja nicht etwas behauptet, was in seinem Interesse liegt. Nach den Worten: „Herrlichkeit und Ehre und Friede jedem, der das Gute betreibt, dem Juden in erster Linie und dem Heiden“, fährt er fort: „Denn bei Gott gilt kein Ansehen der Person.“ Wahrhaftig, diese Begründung ist schlagend! Paulus führt nämlich aus, daß es widersinnig wäre und Gott gar nicht entspräche, wenn es nicht so wäre; denn dann gäbe es ja ein Ansehen der Person. Das gibt es aber bei Gott nicht. Er sagt indes nicht: „Wenn dem nicht so wäre, so gäbe es bei Gott ein Ansehen der Person“, sondern etwas zarter: „Denn bei Gott gilt kein Ansehen der Person.“ D. h. Gott schaut nicht auf die Beschaffenheit der Person, sondern das Unterscheidende für ihn liegt im Werke. Damit bringt er zum Ausdruck, daß den Juden vom Heiden nur die Person, nicht die Werke unterscheiden. Dem entsprechend war zu sagen: Nicht weil der eine ein Jude, der andere ein Heide ist, wird der eine belohnt, der andere bestraft, sondern das eine wie das andere geschieht mit Rücksicht auf die Werke. Doch der Apostel sagt nicht so — er hätte nämlich dadurch den Zorn der Juden erregt —, sondern er bringt noch etwas anderes, wodurch er ihren Hochmut niederdrückt und sie für die Annahme (seiner oben vorgetragenen Lehre von der Gleichheit der Juden und Heiden) empfänglicher macht. Was ist das? Das, was folgt:

V. 12: „Die ohne das Gesetz gesündigt haben, werden auch verloren gehen ohne das Gesetz, und die in dem Gesetze gesündigt haben, werden durch das Gesetz gerichtet werden.“

Hier zeigt der Apostel, daß Jude und Heide nicht bloß gleichartig seien, wie ich schon sagte, sondern daß der Jude durch das Geschenk des Gesetzes sogar noch eine Belastung erfahre; denn der Heide wird ohne Gesetz gerichtet. Das „ohne Gesetz“ will aber hier nicht einen Nachteil besagen, sondern einen Vorteil, nämlich den, daß er das Gesetz nicht zum Ankläger hat. Denn dieses „ohne das Gesetz“ ist dasselbe, wie wenn er sagte: Er wird, abgesehen von dem Maßstab des Gesetzes, einzig und allein aus Gründen der natürlichen Vernunft verurteilt werden. Der Jude aber „in dem Gesetze“ d h. nach der Anklage, die Natur und Gesetz gegen ihn vorbringen; denn je größerer Fürsorge er sich erfreut hat, desto größer wird auch die Strafe für ihn sein.

5.

Siehst du daraus, wieviel mehr der Apostel den Juden die Notwendigkeit nahelegt, sich um die Gnade zu bemühen? Da sie nämlich behaupteten, sie bedürften der Gnade nicht, da sie durch das Gesetz allein gerechtfertigt seien, zeigt er ihnen, daß sie der Gnade noch mehr bedürftig seien als die Heiden, da ihnen die Strafe noch mehr bevorstehe. — Dann führt er noch einen anderen Grund zur Verteidigung seiner Behauptung an:

V. 13: „Denn nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht bei Gott.“

Treffend setzt der Apostel hinzu: „bei Gott“; denn bei den Menschen können sie wohl untadelig erscheinen und sich etwas darauf zugute tun, bei Gott aber steht die Sache ganz anders.

„Nur die Befolger des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“ — Siehst du, mit welchem Nachdruck der Apostel die Rede ins Gegenteil wendet? Wenn du meinst, sagt er, durch das Gesetz gerettet zu werden, so steht dir der Heide dadurch voran, daß er als Befolger dessen erscheint, was ihm ins Herz geschrieben ist. — Aber wie ist es möglich, fragst du, daß jemand, der nicht Hörer (des Gesetzes) ist, ein Befolger (desselben) sein kann? Nicht allein das ist möglich, antwortet der Apostel, sondern noch viel mehr als das. Man kann nämlich nicht bloß, ohne ein Hörer des Gesetzes zu sein, doch ein Befolger desselben sein, sondern man kann ein Befolger auch nicht sein, trotzdem man ein Hörer gewesen ist. Dasselbe spricht der Apostel später noch klarer und mit noch mehr Nachdruck aus, wenn er sagt: „Einen andern belehrst du, dich selber aber belehrst du nicht?“ Nun führt er vorläufig das erstere näher aus.

„Denn wenn die Heidenvölker, die das Gesetz nicht haben, von Natur die Forderungen des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die kein Gesetz haben, sich selbst Gesetz.“

Ich verwerfe nicht das Gesetz, will der Apostel sagen, sondern ich rechtfertige die Heiden eben daraus. Siehst du, wie er, während er die überragende Stellung des Gesetzes untergräbt, doch keine Handhabe zu der Beschuldigung bietet, als mißachte er das Gesetz, sondern wie er im Gegenteil das Ganze so dreht, als halte er eine Lobrede auf das Gesetz, als stelle er es als etwas Großes dar? Wenn er von der „Natur" spricht, so meint er damit die natürliche Vernunft. Er zeigt, daß die Heiden besser seien als die Juden, ja noch mehr, eben gerade deswegen besser, weil sie das Gesetz nicht empfangen haben und das nicht besitzen, worauf sich die Juden soviel zugute tun. Eben darum, sagt er, sind die Heiden der Bewunderung wert, daß sie des Gesetzes nicht bedurften und doch die Forderungen des Gesetzes alle erfüllten. Die Werke des Gesetzes, nicht dessen Buchstaben gruben sie in ihre Seelen ein. Der Apostel sagt nämlich:

*V. 15: „Sie zeigen ja, daß das Gesetzeswerk ihnen ins Herz geschrieben ist, indem ihr Gewissen ihnen zugleich Zeuge ist, wobei ihre eigenen Gedanken sich gegenseitig anklagen und lossprechen“

V. 16: „am Tage, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird meinem Evangelium nach durch Jesus Christus.“ *

Siehst du, wie der Apostel wieder jenen Tag (des Gerichtes) vor Augen stellt und heranzieht, um die Juden in ihrem Innern zu erschüttern und ihnen zu zeigen, daß die mehr Belohnung verdienen, welche ohne Gesetz sich Mühe gegeben haben, die Forderungen des Gesetzes zu erfüllen? Hier sei verdienterweise aufmerksam gemacht auf die bewundernswerte Klugheit des Apostels. Seine ganze Beweisführung läuft darauf hinaus, zu zeigen, daß der Heide über dem Juden stehe; in der ganzen Gedankenkette und auch am Schluß derselben spricht er aber diesen Satz nicht ausdrücklich aus, um den Juden nicht zu reizen. Um klarer zu machen, was ich gesagt habe, will ich die Worte des Apostels noch einmal anführen. Nachdem er gesagt hatte: „Nicht die Hörer des Gesetzes, sondern die Befolger desselben werden gerechtfertigt werden“, wäre es folgerichtig gewesen, fortzufahren: Wenn nun die heidnischen Völker, welche das Gesetz nicht haben, auf Antrieb der Natur das tun, was des Gesetzes ist, so sind sie viel besser als die, welche durch das Gesetz belehrt sind. Das sagt er aber nicht, sondern er hält inne mit der Lobrede auf die Heiden und spinnt den Vergleich zwischen Heiden und Juden nicht weiter aus, damit seine Ausführungen auch dem Juden annehmbar werden. Er fährt darum nicht so fort, wie ich es sagte, sondern wie? „Denn wenn die Heidenvölker, die das Gesetz nicht haben, von Natur die Forderungen des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die kein Gesetz haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen ja, daß das Gesetzeswerk ihnen ins Herz geschrieben ist, indem ihr Gewissen ihnen zugleich Zeuge ist.“ Statt des Gesetzes genügt das Gewissen und die Vernunft. Damit zeigt er wieder, daß Gott den Menschen mit der Fähigkeit geschaffen habe, die Tugend zu wählen und das Laster zu fliehen. Wundere dich nicht, daß der Apostel dasselbe einmal und zweimal und noch öfter beweist. Er mußte nämlich diesen Hauptpunkt ganz besonders stark betonen, um dem Einwand zu begegnen: Warum ist Christus erst jetzt gekommen? Wo blieb die ganze Zeit vorher die (göttliche) Leitung? Gegen diesen Einwand wendet er sich nebenbei, indem er zeigt, daß auch in den Zeiten vor Christus, auch vor der Gesetzgebung (des Alten Bundes) die Menschennatur sich der (göttlichen) Leitung erfreute. Denn das, was erkennbar ist an Gott, war ihnen offenbar, und auch Gut und Bös wußten sie zu unterscheiden und richteten danach ihre andern Mitmenschen. Das macht er ihnen gerade zum Vorwurf, wenn er sagt: „Worin du einen andern richtest, darin verurteilst du dich selbst.“ Gegen die Juden tritt aber außerdem noch das Gesetz als Ankläger auf, nicht bloß die Vernunft und das Gewissen. — Weshalb fügt der Apostel hinzu: „wobei ihre eigenen Gedanken sich anklagen und lossprechen“? Denn wenn sie das Gesetz geschrieben in sich tragen und das Gesetzeswerk aufweisen, was hat da noch die Vernunft anzuklagen? Nun, der Apostel meint dies nicht bloß von guten Werken (im Sinne des Gesetzes), sondern von dem ganzen Gebiete des sittlichen Tuns. An jenem Tage werden unsere eigenen Gedanken auftreten, teils zur Anklage, teils zur Verteidigung; einen andern Ankläger wird der Mensch bei jenem Gerichtshofe gar nicht nötig haben. — Hierauf sagt er, um die Furcht zu vermehren, nicht: „die Sünden der Menschen“, sondern: „das Verborgene der Menschen“. Nachdem er nämlich gesagt hat: „Du, der du andere richtest, die solches tun, und es doch selbst tust, glaubst du denn, daß du dem Gerichte Gottes entgehen wirst?“ fährt er fort — damit du nicht bloß dasselbe Urteil erwartest, wie du es selbst fällst, sondern damit du weißt, daß das Urteil Gottes noch strenger ist —: „das Verborgene der Menschen“, und fügt hinzu: „meinem Evangelium nach“. Menschen richten nämlich nur über äußere Handlungen. Oben hat er nur vom Vater gesprochen; aber weil er seine Zuhörer noch mehr in Furcht setzen will, bringt er nun auch Christus in die Rede herein. Aber er tut es nicht ohne weiteres, sondern erst nachdem er des Vaters Erwähnung getan. Dadurch erhöht er die Würde des Predigtamtes. Unser Predigtamt, will er damit sagen, bringt dasselbe zu Verkündigung, was vorher schon die Natur verkündigt hat.

6.

Siehst du, wie klug der Apostel seine Zuhörer an das Evangelium und an Christus heranbringt und sie an dasselbe fesselt? Wie er ihnen zum Bewußtsein bringt, daß unser Leben sich nicht bloß auf das Diesseits beschränkt, sondern weiter reicht? Es ist derselbe Gedanke, den er oben ausgesprochen hat: „Du häufst dir Zorn auf den Tag des Gerichtes“ 76 und hier wieder: „Gott wird das Verborgene der Menschen richten.“

Es gehe daher jeder mit seinem Gewissen zu Rate, denke nach über seine Verfehlungen und gebe sich genaue Rechenschaft darüber, damit wir nicht mit der Welt verdammt werden. Denn furchtbar ist jenes Gericht, schauerlich der Richterstuhl, voller Schrecken die abzulegende Rechenschaft, ein Strom von Feuer fließt daher: „Ein Bruder erlöset ja nicht, erlöset ein anderer Mensch? 77 Denk an das, was im Evangelium gesagt ist von den hin- und hereilenden Engeln, von dem versperrten Hochzeitssaale, von den nicht verlöschenden Lampen, von den Mächten die zum Feuerofen schleppen! Stelle dir auch das vor: Eine geheime Sündentat jemandes von uns würde bloß vor dieser Versammlung ans Licht gezogen. Würde sich ein solcher nicht wünschen, lieber zu vergehen und daß sich die Erde vor ihm auftue, als so viele Zeugen seiner Sünde zu haben? Was werden wir erst dann erleiden, wenn vor der ganzen Welt alles ans Licht gezogen werden wird auf dieser so glänzenden allseits sichtbaren Schaubühne, wo alle, Bekannte und Unbekannte, ihre Blicke auf uns richten werden! Aber ach! womit suche ich zu schrecken! Mit Furcht vor den Menschen! Sollte ich es nicht vielmehr tun mit Furcht vor Gott und seinem Verdammungsspruch? Wie wird uns dann zumute sein, sag’ mir, wenn wir werden gebunden und zähneknirschend hinausgeworfen werden in die äußerste Finsternis! Was werden wir erst machen, wenn wir — was das Schrecklichste von allem ist — Gott unter die Augen treten sollen! Hat jemand Gefühl und Verstand, so heißt es für ihn schon die Hölle ausstehen, wenn er aus Gottes Augen verwiesen wird; aber weil das von vielen nicht schwer empfunden wird, darum droht Gott mit dem Feuer. Eigentlich sollten wir betrübt sein, nicht wenn wir gestraft werden, sondern wenn wir sündigen. Höre nur, wie Paulus weint und klagt über Sünden, für die ihm keine Strafe bevorstand, „ich bin nicht würdig“, spricht er, „Apostel zu heißen, weil ich die Kirche verfolgt habe“ 78. Höre auch David, wie er, obzwar freigesprochen von der Strafe, doch die Strafe Gottes über sich herabruft, weil er glaubt, Gott beleidigt zu haben. Er spricht: „Deine Hand komme über mich und über das Haus meines Vaters 79. Gott beleidigt zu haben, ist viel schlimmer als gestraft zu werden. Nun sind wir aber so erbärmlich gesinnt, daß wir uns, wenn es keine Hölle gäbe, nicht leicht zu einer guten Tat bewegen ließen. Darum hätten wir eigentlich die Hölle, wenn schon wegen nichts anderem, deswegen verdient, weil wir sie mehr fürchten als Christus. Doch nicht so (gesinnt) war der hl. Paulus, sondern ganz das Gegenteil. Weil aber wir anders (gesinnt) sind, darum werden wir zur Hölle verdammt. Wenn wir Christus so liebten, wie wir sollten, würden wir erkennen, daß es schlimmer als die Hölle ist, den Geliebten beleidigt zu haben. Weil wir ihn aber nicht (so) lieben, erkennen wir auch die Größe der Strafe nicht, die darin liegt. Und das ist es, was ich am meisten beklage und beweine. Was hat Gott nicht alles getan, um von uns geliebt zu werden? Was hat er alles ins Werk gesetzt? Was hat er unterlassen? Wir haben gefrevelt gegen ihn, und doch hatte er uns nichts zuleid getan, sondern uns unaussprechlich viele und große Wohltaten erwiesen; wir haben uns abgewandt von ihm, und doch hatte er uns zu sich gerufen und auf alle Weise an sich zu ziehen gesucht. Aber auch da hat er uns nicht gestraft, sondern er ist uns nachgegangen und hat uns, die Fliehenden, festgehalten. Wir aber haben nach ihm geschlagen und sind zum Teufel übergelaufen. Und auch jetzt ließ er nicht aus, sondern er schickte uns unzählige (Boten) nach, die uns zurückrufen sollten: Propheten, Engel, Patriarchen. Wir aber haben ihre Botschaft nicht nur nicht angenommen, sondern wir haben ihnen, als sie zu uns kamen, Schmach angetan. Und trotz alledem gab er uns noch nicht auf, sondern nach Art glühender Liebhaber, die sich verschmäht sehen, ging er herum und klagte es allen, die er traf, dem Himmel, der Erde, dem Jeremias, dem Michäas, nicht um sich über uns zu beschweren, sondern nur um sich selbst zu rechtfertigen für sein Verhalten. Ja, er trat sogar in der Person seiner Propheten vor die hin, die sich von ihm abgewendet hatten, bereit, ihnen Rechenschaft zu geben; er forderte sie auf, mit ihm zu rechten, er lud sie, die für alles taub waren, ein zu einer Unterredung mit ihm. „Mein Volk“, spricht er, „was habe ich dir getan? Oder womit habe ich dich betrübt? Antworte mir!“ 80 Auf alles das hin haben wir seine Propheten ermordet, gesteinigt und andere Übeltaten vollführt. Und was tat er daraufhin? Nicht mehr Propheten, nicht mehr Engel, nicht mehr Patriarchen sandte er, sondern — seinen Sohn. Getötet wurde auch der Sohn, als er kam; und nicht einmal das erlöschte seine Liebe, sondern fachte sie noch mehr an; er fährt fort, auch nach der Tötung seines Sohnes zu rufen, zu bitten und alles zu tun, damit wir uns zu ihm zurückwenden. Und Paulus ruft: „An Christi Statt sind wir Gesandte, als wenn Gott selbst durch uns ermahnte“ 81.


7.

Aber durch nichts von alledem hat er uns gewinnen können. Er hat uns aber auch da noch nicht verlassen, sondern er fährt fort, mit der Hölle zu drohen, das Himmelreich zu verheißen, um uns so an sich zu ziehen. Wir aber bleiben immer noch verstockt. Was kann es wohl Schlimmeres geben als solche Gefühllosigkeit? Wenn uns ein Mensch solches getan hätte, wären wir nicht oft und oft seine Sklaven geworden? Und Gott, der es getan hat, kehren wir den Rücken! O, des Leichtsinnes ! O, der Undankbarkeit! Wir leben in Sünden und Lastern dahin, und wenn wir je einmal ein klein wenig Gutes tun, dann zählen wir es nach Art undankbarer Sklaven mit großer Genauigkeit her und rechnen haarklein aus, was wir dafür zu erhalten haben und ob der Lohn dem Geleisteten entspricht. Der Lohn wird indes größer sein, wenn du nicht in der Hoffnung auf Lohn handelst. So reden und rechnen ist eher die Sprache des Mietlings als des dankbaren Dieners. Man muß alles um Christi willen tun, nicht um des Lohnes willen. Denn auch die Hölle hat er in der Absicht angedroht und den Himmel verheißen, damit er selbst von uns geliebt werde.

Lieben wir ihn also, wie wir ihn lieben sollen! Denn darin liegt der große Lohn, darin das Himmelreich und selige Lust, darin Genuß und Ruhm und Ehre, darin Licht, darin tausendfältige Seligkeit, die kein (menschliches) Wort ausdrücken, kein (menschlicher) Geist fassen kann. — Doch ich weiß nicht, wie ich mich mit meiner Rede soweit versteige, daß ich von Menschen, welche irdische Macht und Herrlichkeit nicht verachten, verlange, sie möchten um Christi willen das himmlische Reich verachten. Gleichwohl haben jene großen und edlen Männer einen solchen Grad der Liebe erreicht. Höre nur, wie Petrus für ihn entflammt ist, und ihn höher schätzt als Seele und Leben und alles. Als er ihn verleugnet hat, da ist er betrübt nicht nur der Strafe wegen, sondern weil er ihn, den innig Geliebten verleugnet hat. Das war für ihn bitterer als jede Strafe. Und alle diese Beweise seiner Liebe gab er, bevor er die Gnade des Hl. Geistes empfangen, und diese Gesinnung kommt in seinem Reden beständig zum Ausdruck: „Wohin gehst du?“ und vorher: „Zu wem sollen wir gehen?“ 82 und wiederum: „Ich folge dir, wohin immer du gehen magst.“ 83 Jesus war seinen Aposteln eben alles, und nicht einmal der Himmel mit seiner Herrlichkeit galt ihnen so viel, wie ihr Geliebter. Denn du bist uns alles das, sagten sie. Und was Wunder, daß Petrus so gesinnt war? Höre nur was auch der Prophet spricht: „Was habe ich im Himmel, und was habe ich gewollt auf der Erde?“ 84 Mit anderen Worten: Weder droben (im Himmel) noch hier unten (auf der Erde) verlange ich nach etwas anderem als nur nach dir. Das nenne ich Liebe, das nenne ich Freundschaft. Wenn wir einmal so lieben, dann gilt uns weder das Gegenwärtige etwas noch das Zukünftige im Vergleich zu dem Gegenstand unserer Liebe, und wir gewinnen den Himmel im Genuß seiner Liebe. Wie soll das möglich sein? heißt es. Wenn wir uns zu Gemüte führen, wie oft wir ihn beleidigen, nachdem er uns tausenderlei Wohltaten erwiesen, er aber fortfährt, uns zu sich zu rufen; wie oft wir an ihm vorbeilaufen, er aber fortfährt uns zu sich zu rufen; wie oft wir an ihm vorbeilaufen, er aber uns nicht aus dem Auge läßt, uns nachläuft, uns anlockt, an sich zieht: wenn wir uns das und Ähnliches zu Gemüte führen, werden wir imstande sein, eine solche Liebesglut in uns zu entfachen. Wenn derjenige, der so liebt, ein ganz armseliger Mensch wäre, der andere aber, der so geliebt wird, wäre ein König, müßte man vor der Größe solcher Liebe nicht Achtung haben? Ganz gewiß. Nun ist aber das Verhältnis gerade umgekehrt. Unaussprechlich ist die Schönheit und die Herrlichkeit und der Reichtum dessen, der liebt, unsere Armseligkeit dagegen ist groß. Verdienen darum wir, armselig und elend, wie wir sind, nicht tausendfältige Strafe dafür, daß wir diese seine große, staunenswerte, überschwengliche Liebe zu uns damit erwidern, daß wir sie verschmähen? Er braucht nichts von dem Unsrigen, und doch hört er nicht auf, uns zu lieben. Wir brauchen aber sehr nötig (vieles) von ihm, und doch widerstreben wir seiner Liebe! Und doch ziehen wir ihm Reichtum vor und die Freundschaft der Menschen, körperliche Bequemlichkeit, hohe Stellung und Herrlichkeit, während er uns nichts vorzieht! Er hatte einen einziggeborenen erhabenen Sohn, und auch dessen schonte er nicht wegen uns; wir aber ziehen ihm vieles vor! Verdienen wir also nicht die Strafe der Hölle, wenn sie auch zweimal und dreimal und tausendmal so groß wäre? Was können wir sagen, wenn wir die Befehle des Teufels den Gesetzen Christi vorziehen? Wenn wir unser Heil preisgeben, indem wir die Werke der Bosheit höher halten als den, der alles für uns gelitten hat? Welche Verzeihung, welche Entschuldigung gibt es dafür? — Keine.

Stehen wir also fest fürderhin! Lassen wir uns nicht in den Abgrund reißen; wachen wir auf, erwägen wir alles das und erweisen wir ihm Ehre durch die Werke — denn es ist nicht genug, es durch Worte zu tun —, damit wir bei ihm die Herrlichkeit genießen! Möge diese uns allen zuteil werden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater zugleich mit dem Hl. Geiste sei Ehre, Macht und Herrlichkeit jetzt und allezeit und bis in alle Ewigkeit. Amen.

Kommentar zum Briefe des Heiligen Paulus an die Römer

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