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Warum passte sich Liu Shao-Chi nicht an?

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In seiner jahrzehntelangen Machtherrschaft über ein Viertel der Weltbevölkerung war Mao Tse-Tung für den Tod von 70 Millionen Chinesen verantwortlich. 1958 schloss sich ihm Liu Shao-Chi, die Nummer zwei im Staat, an, der ein Jahr später, 1959, zum Staatspräsidenten neben Mao ernannt wurde.

Anders als bei Mao setzte die durch die Misswirtschaft herbeigeführte Hungersnot Liu Shao-Chi persönlich sehr zu. Als er eines Tages sein Heimatdorf in Hunan besuchte, wurde er hautnah mit dem Elend durch die Begegnung mit seiner eigenen Familie konfrontiert. Auf einem Spaziergang durch das Dorf entdeckte er auf einer Mauer die Aufschrift: »Nieder mit Liu Shao-Chi«. Er spürte, wie die Menschen den Kommunismus hassten – und ihn auch! Den Jungen, der die Mauer beschrieb, nahm Liu persönlich in Schutz. Liu zeigte Verständnis für den kleinen Jungen, der durch die Hungersnot sechs Familienmitglieder verlor und dessen Babybruder im seinem Arm verstarb, als er ohne Erfolg nach einer stillenden Frau suchte. Liu erkannte sein eigenes Mitverschulden für dieses Elend, kniete vor den Dorfbewohnern nieder und entschuldigte sich für die Missherrschaft der Kommunisten.

Von da an war er nur noch von dem Wunsch getrieben, der Landbevölkerung zu helfen. Er stellte sich den Behörden quer und veranlasste, dass der Diebstahl von Lebensmitteln nicht mehr verfolgt wurde, und ging bewusst auf Abstand zu Mao.

Als die Erntezeit näher rückte, war Mao im Begriff die Abgabequoten für Lebensmittel festzulegen. Der couragierte Liu drängte Mao, niedrigere Quoten zu bestimmen. Liu war sich bewusst, dass sein Handeln die Spannungen zwischen ihm und Mao vergrößern würde. Mao musste akzeptieren, dass die Abgabequoten um über 34 Prozent niedriger angesetzt wurden, als er die Zahlen Anfang des Jahres festlegte. Durch Lius Maßnahmen sank die Quote der Hungertoten um 50 Prozent. Trotzdem verhungerten noch weitere zwölf Millionen Menschen. Lius Eifer war aber nicht mehr zu stoppen. 1962 legte er Mao einen Hinterhalt, der die Eindämmung der Hungersnot zum Ziel hatte.

Auf der Konferenz der »Siebentausend« in Peking wollte Mao, dass Liu Maos Rede bei der einzigen Plenarsitzung am 27. Januar 1962 vortrug. Zu Maos Überraschung hielt Liu nicht die geplante Rede. Er hielt eine Rede, die sich davon deutlich unterschied. An diesem besagten 27. Januar nahm Liu Shao-Chi seinen ganzen Mut zusammen. Er wagte es, vor den 7000 Spitzenfunktionären Maos Politik anzugreifen. Liu klärte über die Hungersnot und das herrschende Elend auf. Er regte die Leute an, über Maos Politik kritisch nachzudenken. Lius Rede löste, wie erwartet, stürmische Reaktionen beim Publikum aus. Nun aber wussten die Delegierten, dass der Präsident, Liu, hinter ihnen stand, und äußerten ungeniert ihre Meinung, verurteilten die alte Politik und bestanden darauf, dass diese auf keinen Fall wiederholt werden dürfe! Mao machte sich nun wohl oder übel an die Schadensbegrenzung, damit keiner auf die Idee kam, die Hungersnot mit seiner Person zu verbinden. Er war gedrängt, am 30. Januar 1962 vor versammeltem Saal das erste Mal seit seiner Machtergreifung 1949 Selbstkritik zu üben. Mao war gezwungen, die fatalen Quoten der Lebensmittelabgaben abzuschaffen, die für 1962 und später vorgesehen waren. Millionen von Menschen blieb durch diese Verordnung, die durch Liu ins Rollen gebracht wurde, der Hungertod erspart. Somit wurde das Jahr 1962 zu einem der freiheitlichsten Jahre seit Beginn von Maos Herrschaft.

Doch Liu wusste, dass ihn Mao nicht einfach so davonkommen lassen würde. Der sonst so zurückhaltende Liu blieb sehr leidenschaftlich und sprach oft über die Not des chinesischen Volkes. Währenddessen plante Mao seine Rache.

Während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 versuchte Mao alles, um Liu und seine Familie zu demütigen. Jedes Mal, wenn sich Liu mit Worten zu wehren versuchte, wurde er von den Maoanhängern mit ihren roten Büchern niedergeschlagen. Liu wurde in seinem eigenen Haus gefangen genommen und gequält. Er bewahrte aber dennoch seine Würde: Im Februar 1968 hatte er eine letzte Verteidigungsschrift verfasst, in der er Mao sogar wegen seines diktatorischen Stils in den zwanziger Jahren angriff. Mao war sehr aufgebracht, weil er Lius Willen nicht brechen konnte, und setzte alles daran, Lius Stimme zum Schweigen zu bringen.

Liu wurde mitten in einer Nacht halb nackt in ein Flugzeug nach Kaifeng verfrachtet. Nachdem die Bitten, Liu in ein Krankenhaus aufzunehmen, abgelehnt wurden, verstarb Liu Shao-Chi.

Resümee: Liu Shao-Chi überlegte sich, was wichtig für ihn war. Karriere oder seine Glaubwürdigkeit? Ihm war das Leben seines Volkes mehr wert als die Konsequenzen, die ihn erwarteten. Sein Leitbild blieb seine persönliche Überzeugung. Mit Liebe gegenüber seinem Volk und Mut gegenüber dem Staatspräsidenten Mao konnte Liu die Authentizität aufbringen, die für seine Auflehnung gegen Mao nötig war. Wenn Liu in dieser Schlüsselszene am 29. Januar 1962 nicht so mutig gewesen wäre, hätten noch viele weitere unschuldige Menschen ihr Leben lassen müssen. Er hat sich und seine ganze Existenz bewusst dafür geopfert, dass andere Menschen ein freieres Leben führen konnten.

Wer mutig ist, der kennt die Angst

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