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Auch Viren sind Natur
ОглавлениеWeil, während ich das im Sommer 2020 schreibe, die COVID-19-Pandemie eine tiefe Angst vor Viren geweckt hat, sollten wir uns an dieser Stelle kurz daran erinnern, dass auch sie ein Teil der Natur sind, und zwar ein wesentlicher. Ohne Viren gäbe es uns nicht. Sie sind schon viel länger auf der Erde als wir, rund zwei Milliarden Jahre lang. Nicht sie waren die Eindringlinge auf diesem Planeten, sondern wir waren es, denn die Viren hatten es sich hier bereits gemütlich gemacht, lange bevor wir kamen. Wahrscheinlich werden sie auch noch da sein, wenn wir Menschen längst wieder ausgestorben sind. Das heißt, dass sie uns nicht brauchen, wie wir vielleicht denken. Im Gegenteil. Wir brauchen sie. Wir verdanken ihnen sogar unsere Existenz.
Lassen Sie uns, um das besser zu verstehen, ein paar Jahre in die Vergangenheit und dort durchs Mikroskop schauen. Es war wirklich eine große Enttäuschung, als der amerikanische Biochemiker und Unternehmer Craig Venter das menschliche Genom dechiffrierte hatte und, in Anwesenheit des amerikanischen Präsidenten, erkennen musste, dass der Mensch gerade einmal 20.000 Gene hat. Der einfache Reis hat doppelt so viele, der Weizen fünf Mal so viel. Die Krone der Schöpfung, das vermeintlich großartigste Lebewesen, hatte einen läppischen Genpool.
Woraus bestehen wir dann letzten Endes? Aus Knochen, Knorpeln und Körpersäften? Aus guten Ideen? Wie konnten wir zu einer so dominanten Spezies werden?
Ein überraschendes Ergebnis des Humangenomprojekts, das 1990 mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, das menschliche Genom vollständig zu entschlüsseln, war, dass große Teile unseres Erbguts von Viren stammen.32 Diese viralen Sequenzen machen mehr als die Hälfte unseres gesamten Genoms aus. Es ist ein Patchwork zwischen Viren und Mensch.
Die viralen Anteile stammen überwiegend von sogenannten Retroviren, die die Vorfahren des Menschen infizierten und es dabei schafften, ihr Erbgut dauerhaft in das Genom ihres Wirtes einzubauen. Viren waren also unsere ersten Kooperationspartner, denen wir verdanken, wie wir aussehen, wie wir sind und was wir können.
Es sieht fast so aus, als hätten wir über die Viren die Qualitäten früherer Lebewesen eingesammelt und für uns nutzbar gemacht, als hätten wir damit in einer Art Evolutionsarchiv die Weisheit der Erdgeschichte in uns aufgenommen.
Durch Viren haben in erster Linie die Bakterien, aber auch andere, einfache Lebewesen immer neue DNA und RNA geschenkt bekommen. Das bedeutet, Viren sorgten für evolutionäre Fortschritte, und interessanterweise sind es auch Viren, die uns, kurz gesagt, vor Viren schützen. Die guten schützen uns vor jenen, die uns schaden. Denn Viren wehren sich gegen Viren, indem sie eigene Strategien entwickeln. Sie betreiben taktische, biochemische Kriegsführung, als kleine Generäle mit großem Wirkungsbereich.
Viren sind also keineswegs nur unsere ausgewiesenen Feinde und jene Krankmacher, als die sie heute gelten. Respektsabstand zu ihnen zu halten, ist trotzdem erforderlich. Es geht hier nicht um den Babyelefanten, der mit dem oft kindischen Getöse um die COVID-19-Pandemie bekannt wurde. Es geht um einen gedanklichen Respektsabstand. Viren sind keine Kuscheltiere. Wer zu leutselig mit ihnen umgeht, wird funktionell überrannt.
Die Natur, Lehrmeisterin und Förderin auf unserem Weg, gute Menschen zu sein, besteht also aus mehr als Wiesen, Blumen und Wäldern. Das müssen wir auf dem Charakter-Fitness-Parcours verstehen: Eins mit der Natur zu werden, heißt, eins mit uns selbst zu werden. Wenn wir das schaffen, tragen wir nicht nur zu unserem Glück, sondern zum Glück der Welt bei. Das ist das Biophilia-Gesetz.