Читать книгу Die Sieben Weltwunder - Johannes Thiele - Страница 10
ОглавлениеEINLEITUNG
Aus Zeit und Bewegung entsteht Vergänglichkeit. Aus der Vergänglichkeit der Wunsch nach Beständigkeit. Aus dem Wunsch nach Beständigkeit der Wille zur Erinnerung, zur Mahnung, zum Monument. Erinnerung aber ist das fragilste, das kostbarste Gut des menschlichen Geistes. Angefochten, verhasst, geliebt. Sie soll unauslöschlich sein, und doch gehen über sie die Stürme der Zeit und der Geschichte hinweg und verwehen alle ihre Spuren. Überlieferung ist daher die einzig wirksame Waffe gegen das Verlöschen der Erinnerung, das Versinken dessen, was Menschen gedacht, geliebt und hervorgebracht haben, in den Nebeln des Vergessens.
In diesem Buch geht es um eine spezifische Form der Tradition: um die Rekonstruktion dessen, was seit der Antike »Weltwunder« genannt wird. Ein Weltwunder ist mehr als eine Sehenswürdigkeit der Vergangenheit, die uns heute nichts mehr angeht. Es ist selbst dort noch, wo wir es mühsam der Vergessenheit entreißen, indem wir alte Schriften studieren, fremde Zeichen entziffern, Schicht um Schicht Erde, Staub und Sand durchsieben, eine einzigartige Einladung zu einer der schönsten menschlichen Fähigkeiten: zum Staunen.
EIN KANON DER SEHENSWÜRDIGKEITEN
Die als Weltwunder »bestaunenswerten Sehenswürdigkeiten« wurden schon in der Antike in einem Kanon festgelegt, dem auch dieses Buch folgt. Um das Jahr 250 v. Chr. entstand die erste Liste der Ta hepta theamata, die nicht im Original erhalten geblieben ist. Insgesamt fünfundzwanzig Listen sind uns allein aus der Antike überliefert, sie gehen jedoch immer wieder auf die erste zurück.
In alten Nachschlagewerken findet man Listen mit einer anderen Zahl oder Zusammensetzung. In der ältesten Weltwunderliste zu Beginn des 3. vorchristlichen Jahrtausends fehlt zum Beispiel der Leuchtturm auf der Insel Pharos vor Alexandria, weil es ihn damals noch gar nicht gegeben hat. Sie enthielt noch ein anderes Weltwunder, nämlich die Mauern von Babylon. Doch schon in der zweitältesten Liste taucht der Leuchtturm vor Alexandria auf. Dafür sind die mit dem Niedergang Babylons verfallenden Festungsmauern aus der Liste gestrichen.
Auch wurden immer wieder neue, noch vorhandene als Ersatz für die versunkenen Weltwunder vorgeschlagen: der Porzellanturm von Nanking, die Große Chinesische Mauer, die Hagia Sophia in Konstantinopel, der Schiefe Turm von Pisa, die Steine in Stonehenge in England – sie alle finden sich auf diversen Listen der Neuzeit.
Die umfangreichste Aufzählung enthält die um 1300 entstandene Liste der »schönsten Werke und Schaustücke der Welt«, die ein Codex in der Bibliothek des Vatikan bewahrt. Hier wurden gleich dreißig Weltwunder hervorgehoben, neben den bekannten Werken, diversen Götterstatuen und Tempeln verschiedener Gottheiten unter anderem das Kolosseum und der Obelisk des Circus Maximus in Rom, das Labyrinth des Minos von Kreta, die Theater in Sidon und Herakleia am Schwarzen Meer, der Säulengang in Sardes.
Doch alle diese kursierenden Listen überstrahlt noch immer die Eine, die Große Liste der Sieben Weltwunder. Die Sieben ist einfach unschlagbar.
DIE FASZINATION DER SIEBEN
Dass es ursprünglich sieben Weltwunder sein mussten, nicht mehr und nicht weniger, hängt mit der zauberischen und symbolischen Bedeutung dieser Zahl zusammen. Ein Zauber, der sich erhalten hat. Er wirkt bis in unsere Zeit fort.
Der griechische Philosoph Aristoteles (um 350 v. Chr.) stellte sich das Gewölbe der Welt aus sieben durchsichtigen Schalen erbaut vor: Sie drehen sich um unsere Erde, eine jede für sich und verschieden schnell. Die Sonne, der Mond, die Planeten wandern mit den gläsernen Sphären. Noch heute lebt dieses Weltbild in der Redensart vom »siebten Himmel« weiter.
Sieben Planeten, von sieben Fürsten regiert, umkreisen in festen Bahnen die Sonne.
Die siebenfache Netzhaut des Auges ist der Ausdruck für die Spieglung der Siebenzahl in der geistigen und kreatürlichen Welt.
Auf sieben Hügeln standen unter anderem die Reichsund Tempelstädte Babylon, Jerusalem und Rom.
Vor zweieinhalbtausend Jahren schon zählten die Griechen sieben Philosophen zu den »sieben Weisen«, zu denen Solon, der große Gesetzgeber Athens, aber auch Thales von Milet gehörte, der Mond- und Sonnenfinsternisse vorausberechnete und – zum großen Staunen der Ägypter – die Höhe der Pyramiden aus der Entfernung mathematisch bestimmen konnte.
Sieben Helden Griechenlands zogen unter Theseus’ Führung gegen das siebentorige Theben.
Sieben junge Männer und sieben junge Frauen hatte Athen siebenmal sieben Jahre nach Kreta, in das Labyrinth des Minos, zu schicken.
Am siebten Tag sollst du ruhen, verlangt das hebräische Gesetz in der Bibel.
Jedes siebente Jahre ließ man die Felder brach liegen.
Als Gleichnis des ewigen Lebens, gespiegelt in den sieben Planeten, stand der siebenarmige Leuchter im jüdischen Tempel.
Und es gab Sieben Weltwunder.
EINE MAGISCHE ZAHL
Wie kam es, dass ausgerechnet die Zahl Sieben einen solch außerordentlichen Rang erhielt? Ein Zufall? Oder eine Laune des Menschen?
Pythagoras, um 570 v. Chr. auf Samos geboren, »weise wie der Sterblichen keiner«, lehrte, dass alle Dinge im Himmel und auf Erden nach Zahlenverhältnissen geordnet sind. Ausgangspunkt war die Entdeckung, dass die Tonhöhe einer gespannten Saite genau im umgekehrten Verhältnis zu ihrer jeweiligen Länge steht.
Forschungen und Messungen ergaben, dass die akustisch-harmonischen Grundverhältnisse sich eingebaut finden in den heiligen Gebäuden der Griechen, ja dass sie letztlich in allen heiligen Bauten der alten Welt wiederzufinden sind. Nach der Symmetrie des Goldenen Schnittes, der heiligen Zahl, wiederholt der Sakralbau als Ganzes, wie in allen seinen Teilen, den Makrokosmos. Sein Urheber ist also nicht der Mensch, sondern die Gottheit selbst.
Pythagoras sprach aus, was die Magier und Priester der alten Kulturen irgendwie zu wissen schienen: Zahlen sind mehr als eine Rechenhilfe. Das Gebäude der Welt ist nach einem mathematischen Plan geschaffen.
Unter den Zahlen spielt die Sieben eine besondere Rolle. Sie ist eine Primzahl, das heißt, sie lässt sich nur durch 1 oder durch sich selbst teilen. Auch 2, 3 und 5 sind Primzahlen; sie lassen sich aber durch Teilung aus der ersten Zehnerreihe im antiken Sinne gewinnen. Die Sieben allein steht für sich; innerhalb dieses Zahlenraumes »zeugt« sie nicht und ist nicht »erzeugt«. Eine magische, eine vollkommene Zahl. Inbegriff der immer sich gleichenden, unwandelbaren Gottheit, die aber zugleich die Veränderung in der Natur und im Leben der Menschen bewirkt.
DIE SPUREN DER ZEIT
Wir wissen heute annähernd, wie die Sieben Weltwunder ausgesehen haben, obwohl sie – bis auf die Pyramiden – schon seit vielen Jahrhunderten zerstört oder untergegangen sind. Doch selbst die Große Pyramide von Gizeh vermag uns nur noch eine Andeutung ihrer einstigen Schönheit zu geben. Was wir heute sehen, ist allein der Kern, sozusagen der Rohbau.
Die Sieben Weltwunder verführen geradezu zum Superlativ, zur Bewunderung ihrer Größe, ihrer Höhe, ihres Wertes. Doch die Zeus-Statue von Olympia ist nicht nur ein tonnenschwerer Klotz aus Elfenbein und anderen kostbaren Materialien, die Große Pyramide nicht nur eine Anhäufung von 2,5 Millionen Steinquadern, der Tempel der Artemis ist nicht nur die Summe ihrer imponierenden Säulen.
Jedes einzelne der Sieben Weltwunder ist vielmehr ein Spiegelbild seiner Zeit und der Menschen, die es erdachten, planten, bauten und mit ihm lebten. Von ihrer einstigen Existenz zeugen heute gewaltige Fundamente, Mauerbruchstücke, Säulenkapitelle, Torsi, Tontafeln, Abbildungen auf antiken Münzen. Wer sich ihnen nähern will, ist auf Vermutungen angewiesen, auf Spekulationen, auf Rekonstruktionsversuche, selbst wenn er alle vorhandenen schriftlichen Quellen und Überlieferungen einer wissenschaftlichen Prüfung unterzieht. Es bleibt ein undefinierbarer Raum für Geschichten und Gerüchte, für Kontroversen und Kalkulationen. Die Sieben Weltwunder sind das denkbar geeignetste Spekulationsobjekt der Forschung.
Die ersten Zeugnisse und Berichte verdanken wir griechischen Historikern und Reiseschriftstellern, zum Beispiel dem stets bewunderungsbereiten und erzählfreudigen Herodot aus Halikarnassos, dessen weltgeschichtliches Werk nicht nur eine antike Quelle ersten Ranges ist, sondern zugleich so etwas wie ein Baedeker, ein Reiseführer durch die Zeit des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Herodot verstand sich nicht als Entdecker neuer Dinge, sondern als Historiker, der festhalten wollte, was er auf den großen Handelsrouten, die damals alles andere als unbeschwerlich zu bereisen waren, an Informationen fand. So schrieb er ein neunteiliges, fesselndes, lebendiges Geschichtswerk über Könige und Künstler, Götter und Helden, Philosophen und Feldherren der gesamten damals bekannten Welt – von Ägypten über Griechenland und Kleinasien bis nach Mesopotamien und die angrenzenden Länder. Dass später manche seiner Behauptungen widerlegt wurden, tut zwar bisweilen seiner Glaubwürdigkeit, nicht aber der Aussagekraft seines Werkes Abbruch.
Ebenfalls skeptisch werden heute die Überlieferungen von Ktesias, Xenophon und Diodorus Siculus beurteilt, vor allem, weil sie sich in ihren Berichten oft einander widersprechen oder gar gegenseitig widerlegen. Die antike Welt war geradezu süchtig nach Geschichten, und es ist nicht auszuschließen, dass so mancher Augenzeugenbericht »aufgepeppt« wurde, um ihn spannender zu machen und um damit dem Publikum entgegenzukommen.
Als zuverlässig gilt der Geograph Strabon, der zahlreiches Material zusammentrug, mit dessen Hilfe versunkene oder verschüttete Städte, Heiligtümer oder Tempel wiedergefunden und rekonstruiert werden konnten.
Und schließlich Pausanias, ein Reiseschriftsteller, der im 2. Jahrhundert n. Chr. einen »Führer durch Griechenland« für römische Reisende schuf und darin einen ausführlichen Überblick über allerlei Wissenswertes gab.
Mit dem Untergang des Römischen Reichs ging auch das Interesse an den Wundern der antiken Welt verloren. Die Christen entdeckten die Weltwunder erst auf ihren Kreuzzügen, sahen sie jedoch als heidnisch an und verwendeten sie zum Teil als Steinbrüche.
Erst die Renaissance erinnerte sich im 15. Jahrhundert wieder an das antike Erbe. Doch noch weitere zweihundert Jahre vergingen, bevor sich der Wiener Architekt Johann Fischer von Erlach (1656–1723) dem genauen Studium der vorhandenen Quellen über die Weltwunder widmete. Er verglich die vorhandenen Münzabbildungen mit den schriftlichen Überlieferungen für seinen »Entwurf einer historischen Architektur«. Seine Rekonstruktionen sind jedoch eine Mischung aus zeichnerischer Akribie und blühender Phantasie.
Erst im vorletzten Jahrhundert, mit dem Aufschwung der Archäologie und der wissenschaftlichen Erforschung der klassischen Antike, wurden die Rekonstruktionen zuverlässiger. Ganze Städte wurden ausgegraben, in Griechenland, in Kleinasien. Tempel, Mauern, Paläste, Theater wurden freigelegt, eine Unzahl Statuen, Keramiken, Schmuck, Waffen und Gebrauchsgegenstände des Alltags ans Tageslicht befördert. Aus dem geheimnissüchtigen und nicht selten raffgierigen Ausgräber der ersten Stunde wurde ein Fährtensucher, ein Gelehrter, ein »Wissenschaftler des Spatens«. »Die einzigen Siege sind die, welche der forschende Geist über die Unwissenheit erringt«, sagte Napoleon Bonaparte.
Durch die Entzifferung der Hieroglyphen und der Keilschrift erfuhr man, dass es vor Griechenland und Rom große Kulturen gegeben hatte – Ägypten, Mesopotamien und die angrenzenden Länder des östlichen Mittelmeerraumes. Kulturen, in denen sich einst die Traditionen, Wissenschaften und Künste entwickelt hatten, in denen die westliche Kultur wurzelt.
Völker und Herrscher vergingen, die großartigsten Zeugnisse der Kultur und der Kunst wurden zertrümmert, zerstört oder gänzlich vernichtet.
Heute können die wenigen Reste, die von den Sieben Weltwundern geblieben sind, nur in zumeist dunklen Museumsräumen bei künstlichem Licht bewundert werden. Sie geben nur mehr eine Ahnung von ihrer einstigen Farbenpracht, ihrer Umgebung im gleißenden Licht, in ihrem Klima und ihrer Landschaft, belebt von den Menschen ihrer Zeit. Wir erhalten nur noch einen rudimentären Einblick in Städte und Länder, die einst den Mittelpunkt der Welt bildeten.
Was blieb, war und ist das Traumbild des menschlichen Bemühens, die Erinnerung an die Gipfelpunkte menschlicher Zivilisation und Kultur; die Erkenntnis, dass die Entwicklungen von gestern, die einer alten, längst vergangenen Welt, uns heute noch immer beeinflussen und prägen.