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Das ist nett von dir, Helena, daß du meinen Besuch so schnell erwiderst. Ich war ganz trostlos, als ich dich nicht zu Hause traf. Sobald ich von deiner unerwarteten Rückkehr hörte, ging ich unverzüglich zu dir hinüber. Das schien mir von einer Jugendfreundin ganz selbstverständlich. Ich möchte so vieles von dir hören. Auf der andern Seite des Gartens ist es schattig – laß uns dort hinübergehen.«

»Ihr habt den Garten anders angelegt, ich hätte ihn nicht wiedererkannt«, sagte Helena. »Er war schon vorher sehr hübsch, aber er hat noch sehr gewonnen, seit ich ihn zuletzt sah.«

»Die Zeit verändert manches«, sagte Charitas. »Helena, dein Mädchen kann mit dem Sonnenschirm draußen warten – du brauchst ihn hier nicht.«

»Sie kann gern hier bleiben«, sagte Helena. »Adraste und ich verstehen einander gut. Komm einmal her, Adraste, daß meine alte Freundin dich sieht – eine Jugendfreundin.«

»O Helena, wie schön sie ist! Ich bewundere dich, daß du ein so schönes Mädchen bei dir im Hause duldest.«

»Ich habe nichts gegen Schönheit,« sagte Helena, »warum sollte ich Adraste nicht bei mir haben?«

»Nun, vielleicht ist dein Mann nicht so leicht entflammt, und du hast keinen Sohn zu hüten. Mein Sohn Damastor – erinnerst du dich an ihn? Ach nein, natürlich nicht, er sollte ja erst geboren werden, als du nach Ägypten fuhrst. Damastor ist schön wie Apoll und liebt alles, was schön ist. Es ist schrecklich! Ich habe versucht, ihn gut zu erziehen. Er ist künstlerisch veranlagt, fürchte ich – ein entfernter Vetter meines Vaters war es auch. Ich habe versucht, seine Gedanken auf andere Dinge zu lenken, und er hat auch nicht viel Gelegenheit hier in Sparta. Da ist natürlich Hermione, und ich würde so froh sein, wenn er sich in sie verliebte. Ich habe ihn für Gartenbau interessiert – dies hier ist zum größten Teil sein Werk. Aber ich glaube nicht, daß das ihn lange fesseln wird.«

»Du fürchtest,« sagte Helena, »daß er, sobald er ein schönes Mädchen sieht, sich in sie verliebt?«

»Nun, du weißt, was ich meine«, sagte Charitas.

»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Helena.

»Ich möchte, daß er seiner Erziehung Ehre macht und sich zur richtigen Zeit in das richtige Mädchen verliebt«, sagte Charitas. »Wir beide wissen, daß Schönheit den Unerfahrenen oft zu Liebschaften verlockt.«

»Ich glaube, sie verlockt oft zur Liebe,« sagte Helena, »und einer großen Schönheit gegenüber sind wohl alle Männer unerfahren. Es gibt vermutlich nicht genug von der Art, um sich daran zu gewöhnen. Du möchtest, daß dein Sohn ehrbar wäre – sich in eine unansehnliche Frau verliebte? Oder dem Herkommen getreu eine heiratete, die er überhaupt nicht liebt?«

»Wie zynisch du dadurch geworden bist – ich meine, bevor du Sparta verließest, redetest du nicht so.«

»Bevor ich Sparta verließ,« sagte Helena, »redeten wir überhaupt nicht über diesen Punkt, da dein Sohn noch nicht geboren war, aber ich glaube, ich hätte damals genau so geredet. Ich hoffe es wenigstens. Es ist nicht zynisch, es ist nur ehrlich. Du weißt so gut wie ich, daß es für ganz in der Ordnung gilt, wenn man jemand heiratet, den man achtet, aber nicht liebt. Die Gesellschaft wird keinen darum in den Bann tun. Und du weißt, es kommt fast nur noch in Romanen vor, daß jemand sein Herz an seinen Gatten verliert, obgleich er oder sie nicht schön ist. Das ist mehr als ehrenwert, daß ist bewundernswert. Etwas Ähnliches, scheint mir, erträumst du für deinen Sohn.«

»Das entspricht nicht ganz meinem Standpunkt«, sagte Charitas.

»Meinem auch nicht«, sagte Helena. »Übrigens sind diese beiden Formeln: Liebe ohne Schönheit und Heirat ohne Liebe, wenn auch althergebracht und allgemein anerkannt, doch sehr gefährlich. So selten die Schönheit auch ist, so kann man doch nicht immer hindern, daß sie einem in den Weg kommt, und wenn man sie sieht, muß man sie lieben.«

»Ich weiß nicht, daß man das müßte,« sagte Charitas; »man hat doch bisweilen ältere Verpflichtungen.«

»Wenn man sich noch nie der Schönheit hingegeben hat,« sagte Helena, »so gibt es keine älteren Verpflichtungen.«

»So würdest du also nichts dagegen haben, wenn ein Junge sich in die erste beste Schönheit, die er sieht, verliebt?«

»Ich würde etwas dagegen haben, wenn er sich in irgend jemand anders verliebt«, sagte Helena; »und wenn diese Schönheit ihm in den Weg kommt, so ist es seine Pflicht, sie zu lieben. Das wird er auch wahrscheinlich tun, ob er nun Verpflichtungen gegen eine ehrbare Unansehnlichkeit hat oder nicht; und ich möchte vor allem, daß er offen und aufrichtig bleibt. So wie du die Sache anfängst, Charitas, wirst du deinen Jungen dahin bringen, daß er sich schämt, die Schönheit zu lieben, und er wird sie auf hinterlistige und feige Weise suchen. In deinem Bestreben, ihn ehrbar zu halten, hinderst du ihn vielleicht daran, sittlich zu sein.«

»Sprichst du in dieser Art zu Hermione?« fragte Charitas.

»Ich habe noch wenig Gelegenheit gehabt, über irgend etwas mit ihr zu sprechen,« sagte Helena, »aber ich würde ihr dasselbe sagen. Ich hoffe, sie wird den herrlichsten Mann lieben, den sie kennenlernt, und ich würde mich freuen, wenn sie sich auf den ersten Blick in ihn verliebte; aber jedenfalls wird sie den lieben, den das Schicksal ihr bestimmt hat, und es hat keinen Sinn, sich da einzumischen. Man nimmt nur Rat an, solange das Herz noch frei ist.«

»Möchtest du nicht Adraste unten im Garten warten lassen?« sagte Charitas. »Ich möchte dir leise etwas sagen.«

»Adraste wird unten im Garten warten«, sagte Helena. »Aber nun sie fort ist, muß ich dir sagen, Charitas, daß ich nicht einsehe, weshalb du es leise sagen mußt. Wenn man nicht offen davon sprechen kann, so laß uns überhaupt nicht darüber sprechen.«

»Helena, es ist alles recht schön und gut, wenn du offen bist, aber vielleicht schadest du andern damit. Du solltest solche Sachen nicht in Gegenwart des Mädchens sagen – und mit Bezug auf meinen Sohn; du bringst sie auf allerlei Gedanken.«

»Liebe Charitas, auf was für Gedanken brauchten wir die Jugend, die auf die Stimme der Natur hört, erst zu bringen? Ich erwähnte deinen Sohn nur, weil du selbst es tatest, und ich wünschte ihm ein glückliches Los. Du stelltest ihm, wie mir scheint, ein schlechtes Zeugnis aus; du äußertest Mißtrauen gegen ihn, und in Gegenwart des Mädchens. Deine Schilderung war ihrem Herzen ganz ungefährlich. Du solltest ihn bald einmal zu uns hinüberschicken, damit er beweist, daß er doch mehr Manns ist als du aus ihm zu machen versucht hast. Ich bin neugierig auf den Jungen.«

»Er ist in letzter Zeit mehrmals dort gewesen, um Hermione zu besuchen«, sagte Charitas. »Ich konnte es in Gegenwart des Mädchens nicht sagen, aber ich würde mich freuen, wenn er Absichten auf Hermione hätte. Niemand könnte auch nur das geringste gegen sie sagen.«

»Das würde unter Umständen doch wohl der oder jener fertigbringen,« sagte Helena, »es sei denn, daß die menschliche Natur sich selber untreu würde. Aber ich gebe zu, daß Hermione es nicht verdient. Interessiert sie sich für Damastor? Ihr Vater wünschte immer, daß sie ihren Vetter Orest heiratet.«

»Sie hat nie von Orest zu mir gesprochen,« sagte Charitas, »allerdings auch von meinem Sohn nicht. Aber das ist ja natürlich, seiner Mutter gegenüber. Sie ist neuerdings häufig hier gewesen. Und da sprach sie eigentlich in der Hauptsache von …«

»Nur weiter,« sagte Helena, »wovon?«

»Nun, von dir. Sie erklärte alles, und ich muß sagen, sie nahm mir eine Last vom Herzen.«

»Du erwartest offenbar, daß ich dich verstehe,« sagte Helena, »aber deine Worte sind mir absolut schleierhaft. Was erklärte sie? Was für eine Last hattest du auf dem Herzen?«

»O Helena, es war wirklich nicht meine Absicht, davon zu sprechen – jetzt gleich zu Anfang. Aber nun kann ich ebensogut fortfahren. Sie erklärte die Sache mit dir und Paris, und ich war so dankbar zu erfahren, daß du der unschuldige Teil warst.«

»Unschuldig woran? Handelt es sich um ein Verbrechen? Das ist ja ein ergötzlicher Gedanke! Vielleicht erklärt Hermione ihrer Mutter die Sache, wenn ich nach Hause komme.«

»Nun, meinetwegen nicht gerade ein Verbrechen,« sagte Charitas, »aber ich dachte – wir alle dachten –, du wärst mit Paris nach Troja entflohen – er wäre dein Liebhaber gewesen, und du – du hättest ihn geliebt. Ich muß gestehen, daß ich es geglaubt habe, Helena –, dein Mann befand sich in demselben begreiflichen Irrtum. Und da Paris ein Prinz war, hielten wir ihn ohne weiteres für einen Gentleman. Sobald Hermione seinen niedrigen Charakter schilderte und mir von der wunderbaren Rettung erzählte, die der Himmel dir beschied, wußte ich, daß du von Anfang bis zu Ende ein widerstrebendes Opfer gewesen bist. Wir sind alle so froh, daß auch Menelaos die Sache eingesehen und dir verziehen hat.«

»Menelaos!« sagte Helena. »Nun also, um auf Paris zurückzukommen, weshalb dachte Hermione, er hätte einen niedrigen Charakter?«

»Er stahl die Sachen«, sagte Charitas.

»Was?« rief Helena.

»Ich hörte es von Hermione,« sagte Charitas, »und er zwang dich, mit ihm zu gehen. Hermione drückte es sehr zart aus, wie es einem jungen Mädchen ziemt, aber ich verstand, daß du ihm die ganze Zeit, bis ihr nach Ägypten kamt, Widerstand leistetest, und dort wurdest du gerettet. Es muß wirklich ein furchtbar aufregendes Abenteuer gewesen sein, Helena.«

»Charitas,« sagte Helena, »diese Fassung meiner Geschichte interessiert mich aufs lebhafteste. Wann erzählte meine Tochter dir dies alles?«

»Das meiste, bevor du zurückkehrtest, einiges später. Neulich kam sie herein, um mir zu sagen, daß sie seit deiner Rückkehr noch Genaueres über deinen Aufenthalt in Ägypten hätte feststellen können.«

»Wieso über Ägypten?« fragte Helena. »Du erwähntest das Land heute schon einmal, und ich verstand die Beziehung nicht.«

»Oh, Hermione sagte mir die Namen des Mannes und seiner Frau, bei denen du gewohnt hast – Thon – Thonis? Hieß er nicht so? und – ach ja, Polydamna.«

»Ich wohnte also in Ägypten bei Thonis und Polydamna?« fragte Helena.

»Tatest du das nicht?« fragte Charitas. »Hermione behauptet es.«

»Erzähle mir lieber erst alles, was sie behauptet,« erwiderte Helena, »dann will ich nachher das, was nicht stimmt, richtigstellen.«

»Es scheint mir so unsinnig, wenn ich dir erzähle, was geschah, Helena – ich wollte lieber, du erzähltest es mir. Also du weißt, wir glaubten, du wärest einfach mit Paris durchgegangen, bis Hermione uns erklärte, daß er dich mit Gewalt geraubt und Menelaos ein paar wertvolle Sachen entwendet und sich überhaupt als der Schurke gezeigt hätte, der er im Grunde war. Dann trieb der Wind euch nach Ägypten statt nach Troja – sicher war dies ein Werk der Götter, die dich beschützten – und dort flehtest du um Schutz, und Thonis würde Paris getötet haben, wenn er nicht gewissermaßen sein Gast gewesen wäre, der auf eine Freistatt Anspruch hatte. Er zwang ihn jedoch, allein nach Troja weiterzufahren, während du und die geraubten Sachen bei Thonis und Polydamna blieben, bis dein Mann dich holte und nach Hause brachte. Das stimmt doch so, nicht wahr?«

»Hat Hermione die Vorstellung,« fragte Helena, »daß es überhaupt keinen trojanischen Krieg gegeben hat?«

»O nein, bewahre –, das heißt – ja,« sagte Charitas, »der Krieg war ein beklagenswertes, aber begreifliches Versehen, sagt sie. Dein Mann und seine Freunde fuhren nach Troja und forderten dich zurück, und die Trojaner sagten, du wärest nicht da. Natürlich glaubten unsere Männer ihnen nicht. Die Trojaner sagten, du wartetest in Ägypten auf Menelaos, daß er dich abholte. Das klang sehr nach einem schlechten Witz, besonders, da sie nicht leugneten, daß Paris zu Hause angekommen sei. So blieb nichts anderes übrig als zu kämpfen. Wenn du dagewesen wärst, so hätten die Trojaner, wie Hermione sagt, dich doch mit Freuden ausgeliefert.«

»So, sagt sie das?« bemerkte Helena.

»Ja – um die Stadt zu retten; das ist ohne weiteres klar. Aber nun sie einmal angegriffen waren, mußten sie sich verteidigen; und als die Stadt fiel und die Wahrheit offenbar wurde, war es zu spät. Soviel Zeit verloren! Nun blieb Menelaos schließlich doch nichts anderes übrig, als nach Ägypten zu fahren und dich heimzuholen. Wie ich deinen Mann kenne, Helena, muß er sehr aufgebracht gewesen sein.«

»Das war er«, sagte Helena. »Die Reise von Ägypten war nichts weniger als angenehm. Was hat Hermione denn sonst noch gesagt?«

»Das ist, glaube ich, alles –«

»Charitas, hast du diese Geschichte irgendeiner deiner Freundinnen erzählt?«

»Einer jeden, soweit ich konnte, Helena; ich wußte, sie würden froh sein, deinen Ruf wiederhergestellt zu sehen, – wir halten alle so viel von dir.«

»Ich sehe, ich werde einstweilen genug damit zu tun haben, all diesen Unsinn richtigzustellen. Ich kann gleich bei dir anfangen, Charitas. Du hast Hermione nicht wirklich geglaubt?«

»Gewiß habe ich ihr geglaubt! Es war durchaus einleuchtend, und um deinetwillen wollte ich es glauben. Ich wäre eine schlechte Freundin gewesen, wenn ich nicht mein Bestes getan hätte.«

»Du hieltest es für wahrscheinlich,« sagte Helena, »daß Hermione alle Umstände meiner Entführung genau wissen sollte, wo sie damals doch noch ein kleines Kind war? Um meinetwillen wolltest du glauben, daß ich zwanzig Jahre in Ägypten wartete, weil ich ohne Menelaos' Begleitung nicht nach Hause kommen konnte? Nun, ich will deinen Irrtum korrigieren. Menelaos und ich wurden auf unsrer Heimfahrt nach Ägypten verschlagen. Ich habe nie bei Thonis und Polydamna gewohnt, obwohl wir mit ihnen zu tun hatten, denn es waren die Leute, die uns Speise und Schiffsvorräte verkauften. Paris und ich fuhren direkt nach Troja; ich genoß die Fahrt sehr, und sie schien mir nicht lang. Ich liebte ihn innig. Er hätte mich nie entführt, wenn ich es nicht gewollt hätte. Und er raubte nichts von den Sachen. Es ist in der Verwirrung einiges verschwunden, wie ich höre, aber das muß sich hier irgendwo in Sparta befinden; Paris nahm nichts mit nach Troja als mich.«

»O Helena, erzähle mir das doch nicht! ich hatte das Beste gehofft!« sagte Charitas. »Ich kann es nicht glauben, wenn ich dich ansehe. Du siehst so – nimm mir's nicht übel – so unschuldig aus! Und daß du selbst die glaubwürdige Geschichte bestreitest und dich darstellst als – als das, wofür wir dich zuerst hielten! Ich kann aus dir nicht klug werden. Und ich verstehe jetzt nicht, warum du mit Menelaos heimkamst.«

»Oder warum er mit mir heimkam. Das ist das Merkwürdige bei der Sache. Alle Verwandten und Freunde zerbrechen sich darüber den Kopf. Ich will nicht versuchen, sein Benehmen zu erklären. Aber er wollte wirklich, daß ich zurückkäme; er hatte anfangs die Absicht mich zu töten, änderte aber dann seinen Entschluß. Wenn du seine Beweggründe kennenlernen willst, mußt du ihn selbst fragen, wenn er einmal hier ist. Aber mein eigenes Benehmen kann ich dir gleich selbst erklären. Ich danke dir für das Wort, liebe Charitas –, ich bin unschuldig. Meine einzige Schuld ist die Liebe. Nach dem, was du heute nachmittag sagtest, hältst du die Liebe vielleicht für ein Verbrechen. Laß uns lieber sagen, sie ist ein großes Unglück – ein Unglück, das man doch nicht hätte missen mögen. Wir haben allen Grund, unser Unglück freimütig zu bekennen, und ebenso unsre Fehler und das Elend, das unsre Fehler und unser Unglück über andre bringen. Wenn ich dich nun diese armselige Geschichte über Ägypten glauben ließe, so würde ich die Schuld an dem ganzen Elend in Troja von mir schieben. Ich war da und war die Ursache von allem; wollte ich es leugnen, so würde ich damit mich selbst verleugnen – würde mein ganzes Dasein zur Lüge machen.«

»Um des Himmels willen, Helena,« sagte Charitas, »du machst mich verrückt mit deinen Argumentationen. Du willst, die Menschen sollen wissen, daß du das Elend in Troja anrichtetest, und zugleich sollen wir glauben, daß du so unschuldig bist, wie du aussiehst. Was für eine Vorstellung hast du von Unschuld?«

»Charitas, ich bin nicht leicht erzürnt,« sagte Helena, »allein jetzt möchte ich wissen, was für eine Vorstellung du von Ehrbarkeit hast. Hier sitzen wir am hellen Tage in deinem Garten; deine Dienstboten und vielleicht die Nachbarn können sehen, in welcher übel berüchtigten Gesellschaft du dich befindest. Soll ich jetzt gehen, oder dir erst den übrigen Teil der Geschichte erzählen?«

»Sei nicht empfindlich, Helena – erzähle die Geschichte zu Ende. Selbstverständlich möchte ich sie hören. Ich hoffe, du gibst mir Licht.«

»Das kann ich dir nicht geben«, sagte Helena; »unsre Erfahrungen sind zu verschiedener Art, und unsre Anschauungen werden es wahrscheinlich auch sein. Aber nun höre den Bericht von meiner Unschuld. Ich bin daran gewöhnt, daß die Männer sich in mich verlieben, aber ich hatte nie Verlangen danach, und ich habe nie in meinem Leben mit einem Mann geliebäugelt. Ich war einfach da, das war genug. Und ich selbst hatte nie den Wunsch zu lieben. Zu heiraten – ja; ich war froh, Menelaos zu heiraten, allein ich lebte auch in eurer klugen Vorstellung, daß die Ehe eine leichtere Sache sei als die Liebe. Gegen meinen Willen verliebte ich mich in Paris. Es widerfuhr mir einfach, ich fühle mich nicht dafür verantwortlich. Aber ich konnte aufrichtig und wahr sein – das wenigstens stand mir frei, was auch sonst mein Schicksal war. Da die Liebe mich gepackt hatte, lebte ich sie bis zu Ende durch. Charitas, Aufrichtigkeit war die eine Tugend, die ich mir aus der Tollheit rettete, und auch ein wenig Klugheit bewahrte ich mir – ich hatte Verstand genug, um einzusehen, daß die Sache ein schlimmes Ende nehmen würde. Ich verließ mein Kind; was würde aus ihrem Charakter werden, wenn sie allein aufwuchs, mit einem solchen Beispiel? Wenn wir in Troja ankämen, würden die Trojaner sicherlich Paris und mich zurückweisen; sonst war ihnen der Krieg gewiß. Aber es erwies sich, daß die Trojaner nichts dergleichen taten. Sie hießen mich willkommen. Als der Krieg eine schlimme Wendung für sie nahm, sagten sie mehr als einmal, meine Anwesenheit allein sei es ihnen wert. Charitas, eine Frau, die ein Unrecht begeht, von dem sie fühlt, daß sie nichts dagegen tun kann, die aber bereit ist, dafür zu leiden und die Strafe auf sich zu nehmen, als ob es einzig und allein ihre Schuld wäre –, eine solche Frau steht meiner Meinung nach sittlich hoch über dem Durchschnitt. Nach eurer Auffassung vielleicht – sicher nach meiner – hatten die Trojaner das Gefühl für sittliche Konsequenzen verloren. Hermiones Geschichte würde ihren Ruf retten, aber meiner Ehre wird sie weniger gerecht. Ich bin stolz auf meine Bereitwilligkeit, für das zu büßen, was andere durch mein Unglück litten. Ohne diese sittliche Klarheit könnte ich keine innere Ruhe haben. Und ich glaube, Menelaos zeigte, ebenso wie die Trojaner, eine gewisse sittliche Unklarheit. Vom Anfang der Belagerung an erwartete ich, daß unser Volk siegen und daß selbstverständlich Menelaos mich töten würde. Statt dessen führte er mich heim, wie du siehst. Selbst die Götter, könnte man sagen, waren pflichtvergessen, daß sie mich nicht vernichteten – aber vielleicht wollen sie mich noch peinlicher strafen durch meine vernachlässigte Tochter, bei der sich äußere Ehrbarkeit und innere Unaufrichtigkeit ausgebildet haben. Wäre ich hier gewesen, so hätte sie von mir gelernt, die Wahrheit zu lieben.«

»Nun, wie die Tatsachen liegen, Helena,« sagte Charitas, »kann ich Menelaos ebensowenig verstehen wie dich. Ich hätte geschworen, daß er ganz wahnsinnig vor Rachsucht gewesen wäre. Er war immer ein so hingebender Gatte.«

»Das war er auch«, sagte Helena; »er kam mit einem Messer oder Schwert oder so etwas. Ich beachtete es kaum; es war mir gleich. Ich erwartete es und machte keinen Versuch zu fliehen. Ich machte es ihm sogar leicht, indem ich meine Brust entblößte – so.«

»Ah, in dem Augenblick beschloß er, dich nicht zu töten? Der Ärmste! … Helena, du bist unglaublich!«

»Wieso unglaublich, Charitas? Offen und ehrlich finde ich«, sagte Helena. »Weit sittlicher als die Welt, in der ich versucht habe, ein tugendhaftes Leben zu führen. Wenn du meine Erfahrung hättest und gesehen hättest, welch einen seltsamen Lauf die Dinge bisweilen nehmen, so würdest du entweder sagen, daß unsre Vorstellungen von Gerechtigkeit keinen Grund in der Erfahrung haben, oder, daß unser Unglück das Werk von Mächten über uns ist, die uns für ihre eigenen Zwecke benutzen. Die Liebe zum Beispiel. Du solltest lieber die Hände zu ihr aufheben, statt sie zu schmähen. Sie ist zugleich schön und furchtbar. Sie ist nicht das, wofür du sie hältst, Charitas – nicht nur eben ein Wort für ein Gefühl, das wir haben.«

»Ich habe mich mit der Sache nicht so gründlich befaßt wie du«, sagte Charitas. »Du hast zweifellos manches Mal mit Paris darüber gesprochen. Du hast mir übrigens noch nichts von Paris erzählt.«

»Ich liebte ihn,« sagte Helena, »und er ist tot. Was sollte ich dir von ihm erzählen?«

»Du nimmst es nicht übel, wenn ich frage, nicht wahr?« sagte Charitas. »Ich weiß nicht recht, wie er zu deiner Philosophie paßte. Du liebtest ihn genug, um mit ihm zu fliehen, aber nun, da er tot ist, scheinst du es ziemlich ruhig zu nehmen. Es macht wirklich den Eindruck, als ob du hartherzig wärest, Helena; du müßtest doch irgendwie Trauer zeigen.«

»Wenn ich dir die Wahrheit sage, wirst du mich nicht verstehen«, sagte Helena; »aber in Wirklichkeit liebte ich nicht Paris, ich liebte eine Vorstellung, die er in mir erweckte. Zuerst glaubte ich, ihn zu lieben – nachher liebte ich das, wofür ich Paris hielt, und das werde ich immer lieben. Zuerst liebte ich ihn, dann tat er mir leid.«

»Das ist es ja, was ich gegen jede Romantik habe,« sagte Charitas, »hinterher kommt die Enttäuschung.«

»Oh, du hast davon gehört?« fragte Helena.

»Ja,« sagte Charitas, »und bei dir muß zu der Enttäuschung das Gefühl gekommen sein, ein ungewöhnlich schlimmes Versehen begangen zu haben. Deshalb kann ich bei deiner Unschuldsphilosophie nicht recht mitgehen.«

»Wenn jene Enttäuschung ein schlimmes Versehen war, Charitas, so sind die meisten Heiraten ein verhängnisvoller Irrtum. Versteh, bitte, recht, weswegen Paris mir leid tat: ich fühlte, daß auch er an einem Wahn gescheitert war, an etwas gescheitert, das nicht ich war, sondern etwas, wovon er träumte, wenn er mich sah, und das er nie finden würde – gescheitert wie ich gescheitert war. Doch das kommt auch in der Ehe vor, wenn man mit der Liebe anfängt. Mancher gute Gatte ist ein gescheiterter Mann. Und ist es mit den Frauen anders, Charitas? Wie ist es, wenn ich dich nun frage, wie dein eigenes Herz den Jahren standgehalten hat?«

»Ich glaube nicht, daß ich über etwas so Intimes sprechen könnte, Helena, nicht einmal zu dir. Ich habe übrigens auch nichts zu erzählen. Mein Mann und ich sind einander immer treu gewesen.«

»Das wäre aber vielleicht nicht der Fall,« sagte Helena, »wenn du ein hübsches Dienstmädchen im Hause hättest. Und was dich betrifft, Charitas, willst du sagen, daß du dich noch im Honigmond verliebter Täuschung befindest, oder fühlst du dich tugendhaft, weil du es immer fertiggebracht hast, dir aus andern Männern noch etwas weniger zu machen als aus deinem eigenen?«

»Sprich nicht so, Helena; es verletzt mich. Ich gebe zu, daß ich altmodisch bin. Ich bin ein Freund der guten alten Zeit.«

»Adraste auch«, sagte Helena. »Es scheint, sie hat da unten im Garten einen Freund getroffen. Er hat sich schon eine Viertelstunde lang mit ihr höchst vertraulich, um nicht zu sagen, liebevoll unterhalten.«

»Gerechte Götter!« rief Charitas, »das ist mein Sohn Damastor! Da haben wir's, Helena, da haben wir's!«

Das Privatleben der schönen Helena

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