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Hermione war Helenas Kind, aber Menelaos war ihr Vater. Sie hatte sein dunkles Haar, seine schwarzen Augen und seine königliche Haltung. Man sah ihr an, daß sie wußte, wer sie war. Helena war königlich von Natur, Hermione durch Vererbung. Sie war selbst nicht schön, aber sie rief die Vorstellung der Schönheit hervor, und sie hatte einen bewundernswürdigen Charakter. Sie war der Ansicht, daß man durch Klugheit und Energie die Welt in Ordnung bringen könnte. Sie war entschlossen, ihr Teil dazu zu tun. Nun stand sie vor Helena, groß und schlank, sicher und selbstbewußt, und fragte sich innerlich, warum ihre Mutter sie hatte rufen lassen.

»Hermione, ich höre, daß allerlei Skandalgeschichten hier in Sparta über mich in Umlauf sind. Vielleicht kannst du mir eine Erklärung dafür geben?«

»Was für Geschichten meinst du, Mutter?«

»Du hast also davon gehört. Ich muß, wenn möglich, ihren Ursprung wissen, um ihnen Einhalt zu tun. Derartige Geschichten sind immer verdrießlich und meistens sehr überflüssig.«

»Zuweilen sind sie unvermeidlich, Mutter.«

»Niemals«, sagte Helena. »Es gibt Menschen, die das meinen, aber ich bin nicht der Ansicht. Jedenfalls geht diese Frage uns kaum etwas an. Ich möchte nur diesen Geschichten auf den Grund kommen, in denen ich eine ziemlich zweifelhafte Rolle spiele. Wann wurdest du zuerst darauf aufmerksam?«

»Ich möchte sie lieber vergessen als davon sprechen, Mutter.«

»Wir wollen sie erst erledigen und dann vergessen«, sagte Helena. »Da mehrere von ihnen im Umlauf sind, sagst du mir vielleicht, welche dir zuerst zu Ohren kam, und wann?«

»Die eine Legende,« sagte Hermione, »erzählt, du habest deinen Gatten verlassen und seist mit Paris nach Troja entflohen. Davon hörte ich gleich, nachdem du fort warst.«

»Aber das ist kein Skandal,« sagte Helena, »das ist die Wahrheit.«

»Wenn das nicht Skandal ist, so weiß ich nicht, was es ist.«

»Das sehe ich«, sagte Helena. »Bei Skandal ist immer etwas Lüge, etwas Bosheit und Verleumdung. Skandal ist, meiner Ansicht nach, solch eine Geschichte, wie ich sie gestern nachmittag von Charitas hörte. Sie sagt, ich sei überhaupt nicht in Troja gewesen. Paris entführte mich gewaltsam und nahm noch einige wertvolle Sachen als Frachtgut mit. Der Wind verschlug uns nach Ägypten – du kennst die abgeschmackte Geschichte? Nun, das nenne ich Skandal. Was sollte ich in Ägypten die ganze Zeit getan haben? Und wäre ich mit Paris gegangen, wenn er ein Dieb gewesen wäre?«

»Die Sachen fehlten,« sagte Hermione, »und du mußt zugeben, Mutter, es war natürlich, daß man Paris die Schuld gab, da er – nun, da er – tat, was er tat.«

»Was tat er denn?« fragte Helena. »Du warst damals ein kleines Kind, ich möchte deinen Bericht von dem Vorfall hören. Vielleicht liefertest du den boshaften Teil der Geschichte. Paris raubte mich nicht, wie du eben sagen wolltest, ich ging durchaus freiwillig. Aber wenn er mich geraubt hätte, so würde ich lieber annehmen, daß er kein Interesse für die Sachen übrig gehabt hätte.«

Hermione sagte nichts.

»Nun?« fragte Helena.

»Mutter, dies ist ein schreckliches Thema – ich möchte es lieber meiden«, sagte Hermione. »Es ist kein Thema für ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter.«

»Was ist kein solches Thema?« fragte Helena.

»Der Charakter des Mannes, der – der dich verführte«, sagte Hermione.

»Niemand verführte mich, und ich habe dich nicht nach deiner Meinung über Paris gefragt. Du warst ein Jahr alt, als er dich zuletzt sah. Was ich wissen möchte, ist etwas, was du mir vielleicht sagen kannst: wie entstanden diese Skandalgeschichten?«

»Wenn du willst, daß wir uns verständigen,« sagte Hermione, »so solltest du meiner Meinung nach nicht das Gespräch von seinem natürlichen Gang ablenken. Ich hätte lieber nichts gesagt, aber wenn wir überhaupt darüber sprechen, so handelt es sich allerdings um Paris. Natürlich hatte ich damals keine Meinung über ihn, aber jetzt habe ich sie. Und keine hohe. Er ist zwar tot, aber sein Betragen scheint mir trotzdem noch ebenso empörend.«

»Ich bin der Ansicht, daß er nicht anders konnte«, sagte Helena. »Und du wirst zugeben, daß ich mehr in der Lage war, ihn zu verstehen. Aber darum handelt es sich nicht. Wie kam die Geschichte auf? Weißt du es?«

»Da du es durchaus wissen willst,« sagte Hermione, »ich erfand alle diese Geschichten selbst.«

»Das entnahm ich aus dem, was Charitas mir erzählte«, sagte Helena. »Ich freue mich, daß du freimütig genug bist, es einzugestehen. O Hermione, wie konntest du solche Lügen erzählen? Du brauchst nicht zu antworten; es ist die Folge davon, daß ich dich verließ – du hattest keine Erziehung.«

»Du tust mir weh,« rief Hermione, »du tust mir weh, wenn du mir so harte Dinge sagst, und noch dazu in dieser kühlen Art! Ich versuche, dir die schuldige Ehrfurcht zu erweisen, ich nenne dich Mutter, aber wir gehören nicht zueinander. Wenn du menschlich empfändest, so würdest du wissen, warum ich alles tat, was ich konnte, um deinen Ruf zu retten, mich an die leiseste Möglichkeit klammerte, daß es ein Irrtum sein könnte, um wenigstens ein klein wenig gute Meinung für deinen Empfang aufrecht zu erhalten – falls du zurückkehren solltest. Sieh mich nicht so an – du hast kein Recht dazu! Wenn ich eine Tochter hätte, die mir solche Wahrheiten ins Gesicht sagte, wie ich dir, so würde ich mich schämen – ich könnte nicht so heiter und gelassen aussehen!«

Helena blieb heiter und gelassen. »Ehrbarkeit vor der Welt, die sich auf eine Lüge gründet«, sagte sie. »Das dachte deine Liebe sich für mich aus. Ich habe dergleichen schon öfter gesehen. Hermione, du gleichst deinem Vater sehr. Meiner Schwester auch, leider. Hast du übrigens Orest während meiner Abwesenheit gesehen?«

»Von Zeit zu Zeit,« sagte Hermione – »das heißt, nicht sehr oft.«

»Was würde das schaden?« fragte Helena. »Es wäre doch kein Verbrechen, nicht wahr?«

Hermione sagte nichts.

»Du brauchst nicht zu erröten,« sagte Helena, »es ist ja noch nicht deine Tochter, die zu dir spricht; es ist nur deine Mutter, die dich mit ihrer Neigung zur Offenheit in Verlegenheit bringt. Ich zweifle nämlich nicht, daß du deinen Vetter häufig gesehen hast.«

Hermione sagte nichts.

»Du brauchst dich dessen nicht zu schämen, wenn es der Fall ist,« fuhr die Mutter fort; »wir hatten einmal den Plan, daß du ihn heiraten solltest, und ich vermute, daß er dich gern hat. Ich brachte dies nur zur Sprache, um deinen Charakter etwas mehr zu prüfen. Es fehlte dir an Mut, da es sich um mich handelte, doch das konnte ich entschuldigen – du bist jung, und mein Fall ist ein außergewöhnlicher. Aber du solltest Mut genug haben, über dein eigenes untadeliges Leben die Wahrheit zu sagen. Du dachtest, du könntest durch jene merkwürdigen Räubergeschichten meinen Ruf verbessern; willst du mir sagen, was dein Ruf durch Mangel an Offenheit gewinnen kann?«

»Orest ist vielleicht oft hier gewesen,« sagte Hermione, »allein es scheint mir nicht oft. Das kommt wohl daher, weil ich ihn liebe; wie auch er mich liebt. Ich hätte es dir schon früher sagen sollen, allein ich dachte, du möchtest ihn nicht.«

»Ich mag ihn nicht,« sagte Helena, »aber ich will ihn ja auch nicht heiraten. Hast du diese Absicht? Du siehst, in welch ein Dilemma du dich gebracht hast. Wenn du den Wunsch hättest, ihn zu heiraten, und ihn dennoch aufgäbest, weil ich nicht einverstanden bin, so wäre mir das ein Beweis, daß du meine Meinung schätzest – aber auch, daß du ihn nicht wirklich liebtest. Wenn du ihn aber auf jeden Fall heiraten willst und meine Meinung nur soweit respektierst, als du mir deine Absicht verheimlichst, so ist dies nicht schmeichelhaft für mich und nicht sehr hoffnungsvoll für deine künftige Ehe. In der Ehe braucht man mehr als irgendwo den Mut der Überzeugung, mindestens im Anfang.«

»Du verletzt mich so sehr,« rief Hermione, »daß ich versucht bin, so frei heraus zu sprechen, daß selbst du zufrieden bist! Ich weiß nicht, ob aus Mut der Überzeugung oder nur eben, weil ich zornig bin, aber ich bewundere deine Art Mut nicht, noch die Art von Mann, mit dem du davongingst, noch deine Ideen über Skandal! Ich fühle noch immer den Trieb – ich weiß eigentlich nicht, warum – dir die Dinge, die dir unangenehm sind, aber die sich nicht umgehen lassen, zu ersparen. Ich bin nicht so alt wie du, aber ich fühle mich nicht sehr jung. Ich bin aufgewachsen, indem ich das, was du deinen außergewöhnlichen Fall nennst, vor Augen hatte, und ich bin mir, ohne mich im geringsten zu schämen, darüber klar, daß ich altmodischer bin als du; ich schätze die Ehrbarkeit vor der Welt, die du zu fürchten scheinst, ich will einen Mann lieben, mit dem ich einen geordneten Hausstand gründen und dem ich treu sein kann. Es tut mir leid, daß ich versuchte, deinen Ruf zu retten, da du es lieber anders willst, aber es hat nicht viel geschadet, – keine deiner Freundinnen hat mir wirklich geglaubt. Was ich tat, tat ich aus Pflichtgefühl. Ich habe keinen Grund, dich zu lieben, ich schulde dir für nichts Dank. Du hast mich nie glücklich gemacht, du hast nie irgend jemanden glücklich gemacht, nicht einmal die, die dich liebten, – nicht meinen Vater noch Paris, noch irgendeinen von ihnen. Paris hätte es sehen müssen – er war ein Narr, daß er dich mitnahm.«

Hermione war selbst etwas erstaunt und eigentlich befriedigt über ihren eigenen Zorn und Mut. Sie fühlte, es war ein großer Augenblick. Auch Helena schien seltsamerweise befriedigt.

»Nun sprichst du die Wahrheit«, sagte sie. »Dem Himmel sei Dank, du machst wenigstens den Anfang, wenn auch von unten her, wie es oft geschieht – mit unangenehmen Dingen über andre. Aber ich will dies lieber hören als jene törichten Erfindungen. Du hast in jedem Punkte recht: du hast keinen Grund, mich zu lieben, und keinen, mir dankbar zu sein. Was Paris betrifft, so habe ich mich oft gefragt, warum er mich liebte. Vermutlich aus demselben Grunde, aus dem dein Vater mich in jener Nacht in Troja nicht tötete. Ich sagte Paris genau das, was du eben sagtest: daß ich niemanden glücklich gemacht hätte. Ich sagte ihm auch, daß kein Mann mich glücklich gemacht hätte, daß das, was unendliche Wonne zu werden verspräche, nur ein kurzer, flüchtiger Augenblick sein würde, daß unsre Leidenschaft Elend im Gefolge haben, daß sie ihm möglicherweise den Tod bringen würde. Mit offenen Augen – und er war sonst kein unbesonnener Tor – wählte er unsre Liebe. Oder vielleicht gab es keine Wahl. Allein dein Vater wußte das Schlimmste, als er mit dem Schwert in der Hand und Mord im Herzen mich suchte. Er hatte ein gutes Recht, mich zu töten – ich glaubte, er würde es tun. Oder vielleicht glaubte ich es nicht.«

Hermione war fassungslos, daß ihre Mutter nicht erzürnt war. Es schien jetzt an ihr, etwas zu sagen, aber sie konnte ihre Gedanken nicht sammeln; sie fühlte sich plötzlich am Ende ihrer Kraft. Sie hatte die ganze Zeit gestanden; nun setzte sie sich auf das Ruhebett neben ihre Mutter.

»Wenn wir die Tatsachen nehmen, so hast du recht,« fuhr Helena fort, »allein du bist zu jung, sie von allen Seiten zu übersehen. Ich hätte dich glücklich machen sollen – diese Pflicht hat man gegen sein Kind. Aber nicht gegen den Mann, den man liebt; eine solche Pflicht leugne ich. Wenn wir doch nur von vornherein wüßten, daß Glück das letzte ist, was wir von der Liebe fordern können, und die Konsequenzen dieser Tatsache auf uns nehmen wollten! Die Liebe ist ein wundervolles Gefühl des Lebens, ja, ein Wachwerden für die Welt um uns und die Seele in uns – aber nicht Glück. Hermione, ich wollte, ich könnte dir klarmachen, daß ein geliebter Mann oder eine geliebte Frau nur der Anlaß ist, der einen Traum auslöst. Je stärker die Liebe ist, wie wir es ausdrücken, je klarer und lebendiger ist die Vision. Den Geliebten vollständig glücklich machen, wäre ein Widerspruch in sich; wenn er dich wirklich liebt, so wird er in dir weit mehr sehen, als du bist, und wenn du dich dann geringer erweisest als er dich sah, so wird er unglücklich sein.«

»Glaubst du nicht, daß du ein Ausnahmefall bist?« fragte Hermione. »Für dich mag die Liebe diesen schwankenden Zustand bedeuten, aber für andere ist sie, soweit ich hier um mich her beobachtet habe, ein ganz normales, zuverlässiges Glück. Wenigstens reden sie nicht so wie du, sie sehen zufrieden aus und wünschen der Jugend Glück, die heiraten will.«

»Mein liebes Kind,« sagte Helena, »ich bin ein Ausnahmefall – jeder, der die Liebe kennengelernt hat, ist es. Allein es gibt eine allgemeine Weisheit über diesen Gegenstand, die ich gern mit dir teilen würde, wenn ich es könnte. Es ist nutzlos, es zu versuchen. Du mußt aus eigener Erfahrung lernen, wenn du liebst.«

»Ich liebe,« sagte Hermione, – »ich liebe Orest.«

»Ja Kind, du liebst ihn – aber noch nicht sehr. Ich vermute, er hat dich noch nie enttäuscht.«

»Nein, nie!«

»Du bist noch im ersten Stadium«, sagte Helena. »Wir müssen uns eine Illusion machen, bevor wir enttäuscht werden können.«

»Ich habe eine neue Aufklärung bekommen über das, was Skandal ist,« sagte Hermione, »und ich will mein bestes tun, deine Auffassung von Liebe zu begreifen. Darf ich dich etwas Persönliches fragen? Ich vermute, deine Theorie gilt ebenso wohl für dich wie für die Männer, die dich liebten. Ist die Liebe für dich auch immer ein Irrtum gewesen?«

»Niemals ein Irrtum,« sagte Helena, »immer eine Illusion.«

»Als du mit Paris entflohst, da war es also nicht wirklich Paris, den du liebtest – wie du nachher entdecktest?«

»Das kannst du wohl sagen, es war nicht der wirkliche Paris.«

»Aber du wirst zugeben, daß du nicht die Entschuldigung der Unerfahrenheit hattest, die du für mich gelten läßt«, sagte Hermione. »Du hattest schon meinen Vater geliebt und, wie ich vermute, erkannt, daß auch er nicht das war, was du wolltest. Du hättest dich nicht zum zweitenmal täuschen lassen sollen.«

»Ich heiratete deinen Vater,« sagte Helena, »ich habe nie gesagt, daß ich ihn liebte. Aber um dich nicht zu empören und mich nicht falsch hinzustellen, will ich dir sagen, daß ich immer viel von Menelaos gehalten habe und daß er ein musterhafter Gatte ist. Allein deine Schlußfolgerung würde nicht zutreffen, selbst wenn ich ihn leidenschaftlich geliebt hätte. Ich würde dann bekennen müssen, daß ich mich in meiner Liebe zu Menelaos ebenso getäuscht habe, wie in meiner Liebe zu Paris, aber vielleicht hatte die Illusion, die Paris in mir weckte, größere Macht über mich. Die Illusion ist es, in die man sich verliebt. Und wie oft dies auch geschehen mag, und wie klar du auch das Ende voraussiehst, jede Illusion ist willkommen, denn nur solange sie dauert, wird uns eine Vision unsres bessern Selbst zuteil.«

»Nun denn,« sagte Hermione, »wenn nun jemand diese göttliche Vision deines Selbst in dir hervorgerufen hat, so könntest du doch das Glück festhalten, wenn du den betreffenden Menschen nie wiedersähst.«

»Das ist eine tiefsinnige Bemerkung,« sagte Helena, »aber eine solche Weisheit wäre nicht mehr menschlich.«

»Noch eine andre Frage, Mutter – denkt Vater wie du?«

»Ich bezweifle es, aber man kann nie wissen«, sagte Helena. »Dein Vater hat seit langer Zeit nicht eingehend mit mir über seine Auffassung von Liebe gesprochen.«

»Ich bin sicher, er würde dir nicht zustimmen,« sagte Hermione, »und ich tue es auch nicht. Dein Lob der Wahrhaftigkeit gibt mir den Mut, dir zu sagen, daß ich nicht glaube, alle Menschen, die ich außer dir kenne, haben unrecht, und das, was sie für Glück halten, ist eine Täuschung. Ich begehre für mich solch ein Glück, wie sie es meiner Meinung nach wirklich haben. Ich werde nie verstehen, wie du, so schön und klug, wie du bist, mit einem Gatten, den du dir selbst aus einer Reihe von glänzenden Bewerbern gewählt, dich an diesen Menschen aus Asien wegwerfen konntest. Ich habe versucht, mir deinen Gemütszustand vorzustellen, als du mit ihm entflohst, aber ich kann es nicht.«

»Nein, allerdings nicht,« sagte Helena, »in dieser Beziehung hast du merkwürdig versagt. Ich komme noch einmal auf die Skandalgeschichten zurück, die du verbreitet hast. Du erzähltest Charitas, ich sei mit Paris gegangen, weil ich nicht anders konnte, – Paris hätte mich mit Gewalt entführt.«

»Es schien mir die mildeste Auffassung.«

»O – gab es verschiedene Auffassungen? Welches waren denn die andern, mit denen du mich verschontest?«

»Ach, wozu noch darüber reden, Mutter!« sagte Hermione. »Ich habe mich zu den Geschichten bekannt, und da du sie nicht magst, kann ich nur sagen, daß ich sie bereue. Du bringst mich auf durch die Art, wie du mich examinierst. Ich habe versucht, das Rechte zu tun, aber du machst, daß ich mich minderwertig fühle.«

»Wenn du versucht hast, das Rechte zu tun, so hast du keine Ursache, dich minderwertig zu fühlen«, sagte Helena. »Aber ich vermute, du fühltest dich schon damals nicht recht wohl dabei; ich halte dich für zu intelligent, als daß du nicht gewußt haben solltest, was du da redetest.«

»Ich wußte, was ich tat – ich sagte eine Lüge, um deinetwillen und auch um unsertwillen. Ich hätte noch manche andre Lüge sagen können; ich versuchte die beste zu wählen. Die erste, die mir einfiel, paßte nicht – ich hatte sie aus einer alten Dichtung – die Situation, die so oft geschildert wird, wo die Götter den Liebenden durch einen Zauber täuschen: er weiß nicht, wer es ist, den er in seine Arme nimmt, aber nachher werden seine Augen geöffnet, und er weiß, daß er getäuscht wurde. Ich wollte in meiner Verzweiflung zuerst sagen, Aphrodite hätte dich bezaubert, daß du dachtest, es sei Menelaos, und dann war es Paris. Lächle nicht – ich verwarf dies abgedroschene Märchen bald. Dann hätte ich sagen können, du seist Paris freiwillig gefolgt, allein da war das Schimpfliche so augenfällig und hätte sich nicht irgendwie beschönigen oder erklären lassen. Außerdem war es gerade das, was die Leute glaubten. Ich sah, es ließ sich nicht anders machen, als daß Paris dich mit Gewalt geraubt hatte.«

»Seltsam, wenn man bedenkt, was ich dir eben diesen Augenblick über die Liebe gesagt habe«, sagte Helena. »Aber jene erste Idee war kein abgedroschenes Märchen, und wenn du es erzählt hättest, so würde ich es keineswegs Skandal genannt haben, denn es ist die Wahrheit. Paris hätte mich nicht gegen meinen Willen rauben können. In gewissem Sinne ging ich freiwillig. Aber in einem tieferen Sinne wäre die Geschichte wahr gewesen – es war Zauber.«

»Aber wirklich, Mutter, das geht zu weit! – nicht das jetzt – dafür ist es nun zu spät!«

»Und doch ist es die Wahrheit, Hermione, tiefe Wahrheit! Man glaubt die ganze Zeit, daß man Menelaos umarmt, und am Ende ist es Paris.«

»Auf mein Wort, Mutter, ich habe in meinem Leben keine so zynische Bemerkung gehört!«

»Im Gegenteil,« sagte Helena, »es ist eine der optimistischsten Bemerkungen, die du je hören wirst, besonders da sie von mir kommt. Du verstehst es noch nicht, und viele, die es wissen sollten, wollen es nicht eingestehen, aber in der Liebe ist immer ein natürlicher Zauber der Leidenschaft, der uns fortreißt, und wenn der Zauber stirbt, wie er unfehlbar muß, so bleibt entweder eine Enttäuschung zurück oder eine, schöne Wirklichkeit, eine Freundschaft, eine Kameradschaft, eine Harmonie. Dies Wunder hinter dem vorübergehenden Zauber habe ich noch nie gefunden, aber ich habe es immer gesucht, und ich glaube immer noch, daß es da ist.«

»Wenn wir alle nach deinem Plan lebten,« sagte Hermione, »so weiß ich nicht, was aus den Menschen werden sollte. Wir haben nicht das Recht, unser eigenes Leben zu leben –«

»Wenn wir nicht unser eigenes Leben leben,« sagte Helena, »so sind wir in Gefahr, andern in ihr Leben zu pfuschen.«

»Ich meine, wir sind nicht allein in der Welt«, sagte Hermione. »Du kannst mich mit Worten zum Schweigen bringen, aber ich wundere mich, daß du nicht siehst, wie inkonsequent du bist. Mir machst du Vorwürfe, weil ich eine Geschichte von dir in Umlauf setze, die zwar unwahr ist, aber in Anbetracht der Umstände außerordentlich günstig und wohlwollend. Und dabei predigst du mir hier mit deiner ruhigen Stimme und deinen unschuldigen Augen Ideen, die uns alle schlecht machen würden, wenn wir sie befolgten. Es scheint mir nicht so schlimm, für einen guten Zweck eine kleine Unwahrheit zu sagen, wie das Heim zu zerstören und Krieg und Tod heraufzubeschwören.«

»Es scheint nicht so schlimm,« sagte Helena, »wenn du nicht fragst, was die Zerstörung des Heims und Krieg und Tod herbeiführte. Vielleicht war die erste Ursache eine kleine Unwahrheit für einen guten Zweck. Wenn wir alle nach meinem Plan lebten, sagtest du. Ich habe keinen Plan als den, so aufrichtig wie möglich zu sein. Gewiß sind wir nicht allein in der Welt, und die erste Bedingung für ein gutes Zusammenleben mit den andern ist, glaube ich, ihnen gegenüber vollkommen wahr zu sein. Wie kann irgend etwas gut sein, was zum Teil erlogen ist? Und du weißt nicht, was dann aus den Menschen werden würde! Was wird denn jetzt aus ihnen? Seit ich zurückgekehrt bin, habe ich die ganze Zeit beobachtet, wie die Güte unsrer Vorfahren und das, was weise Männer für unser gegenseitiges Glück für gut befanden, zu niedrigen Zwecken mißbraucht werden kann. Charitas kam sofort, um mich zu besuchen. Was konnte gütiger sein, als eine alte Freundin in der Heimat willkommen zu heißen? Führte sie irgendein ehrlicher Zweck in mein Haus, wenn sie nicht als Freundin kam? Ich habe den Besuch erwidert, und ich kenne sie durch und durch. Sie erzählte mir die Märchen, die du in Umlauf zu setzen versucht hast; natürlich hoffte sie, daß sie nicht wahr wären. Sie hoffte das Schlimmste. Was sie wollte, als sie gleich herbeieilte, war, die Sahne vom Skandal für sich abschöpfen, von meinen intimsten Erlebnissen hören, um meine Schlechtigkeiten in allen Einzelheiten mit den Nachbarn durchzusprechen. Die Ärmste hat ja auch nie selbst irgendwelche Abenteuer erlebt. Ich enttäuschte sie. Sie erfuhr nichts und mußte feststellen, daß ich eine vollkommen moralische Frau bin.«

»Mutter! Wie konntest du das?« fragte Hermione.

»Ich will mich jetzt darauf nicht weiter einlassen«, sagte Helena; »ich habe es allmählich satt, Gegenstand der Unterhaltung zu sein, und ich wollte von dir sprechen. Nur das eine möchte ich dir noch sagen, daß von allen denen, die um meinetwillen nach Troja zogen, ich die einzige bin, die mit ungeschwächtem Sittlichkeitsgefühl zurückgekehrt ist. Wenn diese Unterredung dir nur ein klein wenig die Augen geöffnet hat, so beobachte die Menschen um dich her und beobachte dich selbst, und du wirst sehen, was ich meine. Wir haben das Recht, unser eigenes Leben zu leben – du hast sogar das Recht, Orest zu heiraten, wenn ich auch noch hoffe, daß du es nicht tust. Aber jenes Recht schließt eine Pflicht ein – die Folgen auf sich zu nehmen. Wenn ich zu Hause gewesen wäre und dich ordentlich hätte erziehen können, so brauchte ich dir jetzt nicht zu sagen, daß für kluge Menschen die Zeit für Reue vor der Tat liegt. Tu dein Bestes, und wenn es ein Irrtum war, verbirg nichts und sei bereit, dafür zu leiden. Das ist Sittlichkeit. Ich bemerke hier herum davon nicht viel.«

»Es ist nur gerecht,« sagte Hermione, »wenn wir uns erinnern, daß Charitas mir in deiner Abwesenheit eine gute Freundin gewesen ist. Sie würde erstaunt sein, wenn sie wüßte, wie du von ihr denkst.«

»Sie weiß es jetzt, und sie ist erstaunt«, sagte Helena. »Ich halte sie für eine gefährliche Frau. Gib acht, sie wird noch viel Schaden anrichten. Was für eine Art Junge ist ihr Sohn?«

»Damastor? Oh, ganz nett«, sagte Hermione. »Er hat nicht die Charakterfestigkeit seiner Mutter, aber er ist harmlos. Er hängt sehr an Charitas.«

»Was verstehst du unter harmlos?« fragte Helena.

»Oh, er ist wohlerzogen, gut behütet und still, ein bißchen jung, selbst für seine Jahre.«

»Du mußt seine Art sehr schätzen«, sagte Helena.

»Was? Damastor?« rief Hermione.

»Seine Mutter sagt, er schwärmt für dich.«

»Für mich? Ich kenne ihn kaum! Doch ja, ich habe ihn bei seiner Mutter getroffen, aber nicht oft. Er hat mir gegenüber nichts von Schwärmerei gezeigt, dem Himmel sei Dank! Für mich ist er noch ein Kind.«

»So hat er dich nicht kürzlich besucht?«

»Nie! Wer hat dir das erzählt?«

»Charitas. Sie sagt, er habe es ihr erzählt. Ich dachte mir, daß es nicht wahr wäre. Es ist eine sehr ehrbare Familie. Nicht mehr als das normale Quantum von Verlogenheit. Du könntest schlimmer fahren.«

Das Privatleben der schönen Helena

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