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Bei Timothy

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Der Besitzinstinkt kennt keinen Stillstand. Durch Blütezeit und Fehde, durch Frost und Feuer folgte er selbst in der Familie Forsyte, die gedacht hatte, er wäre für immer festgelegt, den Gesetzen der Veränderung. Er ist zudem untrennbar mit dem Umfeld verbunden, so wie die Kartoffel nicht ohne Erde bestehen kann.

Der Historiker der 1880er und 1890er Jahre in England wird in seiner Zeit die recht rapide Entwicklung von selbstzufriedenem und beschränktem Provinzialismus zu noch selbstzufriedenerem, wenn auch weniger beschränktem Imperialismus beschreiben – in anderen Worte, den ›Besitzinstinkt‹ einer Nation im Umbruch. Und wie im Einklang damit, war es so auch bei der Familie Forsyte. Sie breiteten sich nicht nur an der Oberfläche aus, sondern auch im Inneren.

Als Susan Hayman, die Verheiratete der Forsyte-Schwestern, 1895 ihrem Ehemann im lächerlich jungen Alter von vierundsiebzig Jahren folgte und eingeäschert wurde, sorgte das für seltsam wenig Aufsehen unter den sechs noch übrigen alten Forsytes. Für diese Teilnahmslosigkeit gab es drei Gründe. Erstens: das fast schon heimliche Begräbnis des alten Jolyon im Jahr 1892 unten in Robin Hill – er war der Erste der Forsytes, der dem Familiengrab auf dem Highgate Cemetary untreu wurde. Jenes Begräbnis ein Jahr nach Swithins ganz und gar anständiger Beerdigung hatte für jede Menge Gerede an der Forsyte’schen Börse gesorgt, dem Heim von Timothy Forsyte in der Bayswater Road in London, wo noch immer Familientratsch gesammelt und verbreitet wurde.

Die Meinungen reichten von dem Gejammer von Tante Juley bis zu der unverblümten Aussage Francies, es sei ›verdammt gut, endlich mal mit dem alten Highgate-Zopf Schluss zu machen‹. Onkel Jolyon hatte in seinen späteren Jahren – um genau zu sein, seit der seltsamen und bedauernswerten Affäre zwischen dem Verlobten seiner Enkelin June, dem jungen Bosinney, und Irene, der Frau seines Neffen Soames – der Familie ordentlich Rüffel gegeben. Und langsam hatten sie seine Eigensinnigkeit ein wenig unberechenbar gefunden. Die philosophische Ader in ihm hatte ihn stets dazu neigen lassen, sich über die rein Forsyte’schen Gefilde hinauszuwagen, deshalb hatten sie gewissermaßen damit gerechnet, dass er sich an einem seltsamen Ort begraben lassen wollen würde. Doch das Ganze war eine merkwürdige Angelegenheit, und als der Inhalt seines Testaments an der Forsyte’schen Börse in Umlauf gekommen war, war ein Schaudern durch den Clan gegangen.

Von seinem Vermögen (145.304 Pfund brutto mit Verbindlichkeiten in Höhe von 35 Pfund, 7 Shilling und 4 Pence) hatte er doch tatsächlich 15.000 Pfund vermacht an, »Na, rate mal, an wen! An Irene!«, diese davongelaufene Frau seines Neffen Soames. An Irene, eine Frau, die die Familie beinahe in Unehre gebracht hatte, und die – was noch erstaunlicher war – nicht blutsverwandt mit ihm war. Natürlich bekam sie nicht das Geld an sich, nur lebenslangen Nießbrauch dessen – nur die Einkünfte daraus! Trotzdem, sie bekam etwas vermacht, und mit dem Anspruch des alten Jolyon, der perfekte Forsyte zu sein, war es damit ein für alle Mal vorbei. Das also war der erste Grund, weshalb die Beisetzung von Susan Hayman – in Woking – für wenig Aufsehen sorgte.

Der zweite Grund war viel umfassender und gewichtiger. Neben dem Haus in Campden Hill hatte Susan noch ein Grundstück gleich hinter der Grenze in Hampshire (ihr Ehemann hatte es ihr bei seinem Tod hinterlassen). Dort hatten, so glaubte man, die Hayman-Jungs gelernt, so gut zu schießen und zu reiten, was natürlich schön für sie und ehrenwert für jeden war. Und die Tatsache, dass sie etwas wirklich Ländliches besaß, schien die Verstreuung ihrer Überreste irgendwie zu entschuldigen – auch wenn sie sich nicht erklären konnten, wie sie auf Einäscherung hatte kommen können! Es waren jedoch die üblichen Einladungen versandt worden und Soames war mit dem jungen Nicholas hinuntergefahren, und das Testament war so weit ganz zufriedenstellend gewesen, denn sie hatte nur lebenslanges Nießbrauchrecht gehabt und alles war ohne große Probleme zu gleichen Teilen an die Kinder weitergegeben worden.

Der dritte Grund, weshalb Susans Beisetzung für wenig Aufsehen gesorgt hatte, war der umfassendste von allen. Euphemia, die ­Blasse, die Dünne, fasste ihn auf folgende provokante Weise zusammen: »Nun, ich denke, jeder hat ein Recht auf seinen eigenen Körper, selbst wenn man tot ist.«

Aus dem Mund einer Tochter von Nicholas, einem sehr tyrannischen Liberalen der alten Schule, war das eine schockierende Aussage – sie zeigte mit einem Schlag, wie viel Gras seit dem Tod von Tante Ann 1886 gewachsen war, als Soames’ Eigentumsrecht am Körper seiner Frau die Fraglichkeit annahm, die zu einer solchen Katastrophe geführt hatte.

Natürlich sprach Euphemia wie ein Kind und hatte selbst keine Erfahrung, denn obwohl sie inzwischen weit über dreißig war, trug sie noch immer den Namen Forsyte. Nichtsdestotrotz zeigte ihre Bemerkung zweifelsohne die Ausweitung des Freiheitsprinzips, die Dezentralisation und den Wandel im Zentrum von Besitz von anderen hin zur eigenen Person.

Als Nicholas über Tante Hester von der Bemerkung seiner Tochter erfuhr, hatte er ausgerufen: »Ehefrauen und Töchter! Heut­zutage lässt sich ihrer Freiheit keine Grenzen mehr setzen. Ich wusste, dass dieser ›Jackson-Fall‹ Folgen nach sich ziehen würde – einfach so das Habeas Corpus da herbeizuziehen!« Er hatte sich natürlich nie wirklich damit abfinden können, dass Frauen mit dem Married Women’s Property Act ein Vermögensrecht bekommen hatten, was für ihn, hätte er nicht glücklicherweise vor der Inkraftsetzung dieses Rechts geheiratet, negative Konsequenzen gehabt hätte.

Doch die Revolte der jüngeren Forsytes dagegen, anderen zu gehören, ließ sich fürwahr nicht leugnen. Diese quasi kolonialistische Neigung, sein eigener Herr sein zu wollen, die paradoxerweise der Vorläufer des Imperialismus ist, schritt immer weiter fort. Inzwischen waren sie alle verheiratet, abgesehen von George, der sich dem Pferderennsport und dem Iseeum verschrieben hatte, Francie, die in einem Studio in der Nähe der King’s Road in Chelsea an ihrer musikalischen Karriere arbeitete und noch immer in Begleitung diverser ›Verehrer‹ auf Bällen erschien, Euphemia, die noch zu Hause wohnte und sich über Nicholas beschwerte, und diesen beiden Dromios, Giles und Jesse Hayman. Forsytes der dritten Generation gab es nicht viele – der junge Jolyon hatte drei Kinder, Winifred vier, der junge Nicholas bereits sechs, der junge Roger und Marian Tweetyman jeweils eines und St. John Hayman zwei. Doch die Übrigen der sechzehn verheirateten Forsytes – Soames, James’ Töchter Rachel und Cicely, Rogers Söhne Eustace und Thomas, von Nicholas Ernest, Archibald und Florence und von den Haymans Augustus und Annabel Spender – gingen durch die Jahre, ohne sich fortzupflanzen.

Somit waren also aus den zehn alten Forsytes einundzwanzig junge Forsytes hervorgegangen. Von den einundzwanzig jungen Forsytes gab es bis zu diesem Punkt jedoch nur siebzehn Nachkommen, und es schien bereits unwahrscheinlich, dass mehr als nur noch eine weitere unbedeutend kleine Anzahl dazukommen würde. Wer sich mit Statistik auskennt, dem müsste hierbei aufgefallen sein, dass sich die Geburtenrate zusammen mit der Zinsrate verändert hatte.

Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hatte Großvater ›Meister Dosset Forsyte‹ zehn Prozent für sein Geld bekommen, dementsprechend zehn Kinder. Diese zehn, wenn man die vier weglässt, die nicht geheiratet hatten, und Juley, deren Ehemann Septimus Small natürlich quasi sofort verstorben war, hatten im Durchschnitt vier bis fünf Prozent für ihr Geld bekommen und die dementsprechende Zahl an Kindern gezeugt. Diese einundzwanzig Kinder bekamen nun kaum drei Prozent von den Staatsanleihen, in die ihre Väter größtenteils ihre Hinterlassenschaften angelegt hatten, um Erbschaftssteuern zu umgehen, und die sechs von ihnen, die sich fortgepflanzt hatten, hatten siebzehn Kinder oder eben die angemessenen zwei und fünf Sechstel pro Hauptzweig.

Es gab auch noch andere Gründe für diese gemäßigte Fortpflanzung. Zweifel an ihrer Ertragskraft, ganz natürlich, wo hinreichendes Vermögen garantiert ist, und das Wissen, dass ihre Väter nicht starben, ließen sie vorsichtig sein.

Hatte man Kinder und kein hohes Einkommen, musste der Standard für Geschmack und Komfort notgedrungen herabgesetzt werden. Was für zwei ausreichte, reichte nicht für vier, und so weiter – da wollte man lieber abwarten und mal sehen, was der Vater tat. Außerdem war es schön, ungehindert Urlaub machen zu können. Anstatt eigene Kinder zu haben, zogen sie es lieber vor, sich auf den Besitz der eigenen Person zu konzentrieren, gemäß der zunehmenden Tendenz des Fin de Siècle, wie es genannt wurde. So ging man wenig Risiko ein und würde sich ein Automobil leisten können. ­Eustace hatte tatsächlich schon eines, doch es hatte ihn schrecklich durchgeschüttelt und ihm dabei einen Eckzahn abgebrochen. Es würde also besser sein, zu warten, bis sie ein wenig sicherer waren. Bis dahin keine Kinder mehr! Selbst der junge Nicholas zog den Schwanz ein und hatte seit knapp drei Jahren seinen sechs Kindern keine weiteren mehr folgen lassen.

Der Niedergang der Forsytes als Gemeinschaft, oder besser gesagt, ihre Auflösung, wofür all dies symptomatisch war, war noch nicht so weit fortgeschritten, dass es nicht eine Zusammenkunft gegeben hätte, als Roger Forsyte 1899 starb. Es war ein traumhafter Sommer gewesen, und nach ihrem Urlaub im Ausland und am Meer waren sie fast alle wieder zurück in London, als Roger mit einem Anflug seiner alten Originalität plötzlich in seinem Haus in Princes Gardens sein Leben aushauchte. Bei Timothy wurde traurig getuschelt, dass der arme Roger ja beim Essen immer exzentrisch gewesen sei – habe er nicht etwa zum Beispiel deutschen Hammel allen anderen Sorten vorgezogen?

Wie dem auch sei, seine Beisetzung auf dem Highgate Cemetary war perfekt gewesen, und von ebendieser kommend, machte sich Soames Forsyte fast automatisch auf den Weg zu seinem Onkel ­Timothy in der Bayswater Road.

Die ›alten Damen‹‒ Tante Juley und Tante Hester – würden gerne hören, wie es gelaufen ist.

Sein Vater – James – hatte sich mit achtundachtzig der Anstrengung der Beerdigung nicht gewachsen gefühlt, und Timothy selbst war natürlich nicht hingegangen. Nicholas war also der einzige Anwesende der Brüder gewesen. Dennoch waren einige zusammengekommen, und es würde die Tanten Juley und Hester aufmuntern, das zu erfahren. Dieser nette Gedanke war nicht frei von dem unvermeidlichen Verlangen, bei allem, was man tat, auch einen Nutzen für sich selbst zu ziehen, dem Hauptcharakteristikum eines Forsyte und eigentlich aller praktisch denkenden Menschen einer jeden Nation.

Mit dieser Gewohnheit, Familienangelegenheiten bei Timothy in der Bayswater Road zu besprechen, folgte Soames nur in den Fußstapfen seines Vaters, der stets mindestens einmal die Woche seine Schwestern bei Timothy besucht hatte und erst damit aufgehört hatte, als ihm mit sechsundachtzig die Kraft dafür ausging und er nur noch mit Emily das Haus verlassen konnte. Mit Emily irgendwo hinzugehen machte keinen Sinn, denn wer konnte sich schon wirklich im Beisein der eigenen Frau mit irgendwem unterhalten?

Wie James in alten Zeiten fand auch Soames fast jeden Sonntag die Zeit, dorthin zu gehen und in dem kleinen Empfangszimmer zu sitzen, das er zur Weihnachtszeit mit seinem unbestrittenen Geschmack ordentlich dekoriert und mit Porzellan ausgestattet hatte, das nicht ganz seinem eigenen anspruchsvollen Geschmack entsprach, und mit mindestens zwei recht fragwürdigen Gemälden der Barbizon-Schule. Er selbst war außerordentlich erfolgreich gewesen mit den Barbizon-Bildern, hatte sich vor einigen Jahren dann mehr auf die Maris-Brüder, die Israels und Mauve konzentriert und hoffte, damit noch besser zu fahren. In dem an der Themse gelegenen Haus in Mapledurham, in dem er nun wohnte, hatte er eine wunderschön bestückte und beleuchtete Galerie, die nur wenigen Londoner Kunsthändlern unbekannt war. Sie diente auch als Sonntagnachmittagsattraktion bei jenen Wochenendpartys, die seine Schwestern, Winifred oder Rachel, hin und wieder für ihn organisierten. Denn obwohl er nur ein schweigsamer Aussteller war, verfehlte seine ruhige, gefasste Bestimmtheit selten ihre Wirkung auf seine Gäste, die wussten, dass sein Ruf nicht auf bloßem ästhetischen Geschmack beruhte, sondern auf seiner Fähigkeit, zukünftige Marktwerte einschätzen zu können.

Wenn er zu Timothy ging, hatte er fast immer eine kleine Geschichte zu berichten, wie er über einen Händler triumphiert hatte. Und er liebte das stolze Gegirre, mit dem seine Tanten diese Geschichten aufnahmen. An diesem Nachmittag war er jedoch in anderer Stimmung, als er in seinem schicken dunklen Anzug von Rogers Beerdigung kam – er war nicht ganz schwarz gekleidet, denn schließlich war sein Onkel eben doch nur ein Onkel gewesen, und er verabscheute übertriebene Zurschaustellung von Gefühlen. Während er zurückgelehnt in einem Marketerie-Stuhl saß und mit in die Höhe gestreckter Nase von oben herab auf die himmelblauen, mit Goldrahmen zugepflasterten Wände blickte, war er auffallend still. Ob es nun daran lag, dass er auf einer Beerdigung gewesen war, oder nicht, seine typisch Forsyte’schen Gesichtszüge kamen an diesem Nachmittag besonders vorteilhaft zur Geltung – ein konkaves und langes Gesicht mit einem Kiefer, der ohne Fleisch übertrieben gewirkt hätte; insgesamt ein kinnbetontes Gesicht, jedoch alles andere als schlecht aussehend.

Er hatte mehr denn je das Gefühl, dass alle bei Timothy ein hoffnungslos komischer Haufen waren, und seine Tanten im Herzen in der Mitte des Viktorianischen Zeitalters hängen geblieben waren. Über das einzige Thema, über das er reden wollte – seinen eigenen Stand als Nicht-Geschiedener ‒, konnte man nicht sprechen. Und doch nahm es sein Denken so sehr in Anspruch, dass kein Platz für irgendetwas anderes mehr war. Das war erst seit dem Frühling so. Und ein neues Gefühl war in ihm herangewachsen, das ihn in eine Richtung trieb, die, wie er wusste, bei einem Forsyte von fünfundvierzig Jahren durchaus töricht sein konnte. Er war sich in letzter Zeit immer mehr bewusst geworden, dass er ›vorankam‹.

Sein Vermögen, das bereits beträchtlich gewesen war, als er die Idee mit dem Haus in Robin Hill gehabt hatte, das letztendlich seine Ehe mit Irene gänzlich ruiniert hatte, war erstaunlich stark angewachsen in den zwölf einsamen Jahren, in denen er sich kaum etwas anderem gewidmet hatte. Er besaß inzwischen weit über einhunderttausend Pfund und er hatte niemanden, dem er es vermachen konnte – kein wirkliches Ziel, für das er weiter ausüben konnte, was seine Religion war. Selbst wenn er seine Bemühungen etwas herunterschrauben würde, Geld heckte Geld, und er hatte das Gefühl, dass es, ehe er sich’s versah, hundertfünfzigtausend sein würden. Soames hatte schon immer eine sehr häusliche, nachwuchsorientierte Seite gehabt. Aufgrund von Hindernissen und Enttäuschungen war sie versteckt geblieben, doch nun, in seinem besten Mannesalter, war sie wieder hervorgekrochen. Durch die Anziehungskraft der unanfechtbaren Schönheit eines Mädchens hatte sie sich in letzter Zeit konkretisiert und gefestigt, sodass er nun regelrecht darin befangen war.

Und dieses Mädchen war eine Französin, die kaum den Kopf verlieren oder irgendwelche ungesetzlichen Verhältnisse akzeptieren würde. Außerdem gefiel auch Soames selbst diese Vorstellung nicht. Er hatte während jener langen Jahre der unfreiwilligen Ehelosigkeit die schäbige Seite der Sexualität kennengelernt, heimlich, und er hatte immer Abscheu dabei empfunden, denn er war penibel und hatte einen angeborenen Sinn für Recht und Ordnung. Er wollte nichts Anrüchiges mit diesem Mädchen. Eine Heirat in der Botschaft in Paris, ein paar Monate Reisen, und er konnte Annette schön gelöst von einer Vergangenheit mit heimbringen, die in Wahrheit nicht allzu distinguiert war, sie machte nämlich nur die Buchführung für das Restaurant ihrer Mutter in Soho.

Er würde sie als etwas ganz Neues und Schickes mit heimbringen, mit ihrem französischen Geschmack und ihrer Selbstbeherrschung, um dann im The Shelter bei Mapledurham zu herrschen. An der Forsyte’schen Börse und unter seinen Freunden am Flussufer würde die Nachricht im Umlauf sein, dass er auf seinen Reisen ein reizendes französisches Mädchen kennengelernt und sie geheiratet hatte.

Eine Französin als Ehefrau hätte etwas Romantisches und ein gewisses Prestige. Nein, davor hatte er absolut keine Angst! Es war nur dieser verfluchte Zustand, dass er nicht geschieden war, und – und die Frage, ob Annette ihn nehmen würde, die er nicht zur Sprache bringen wollte, ehe er ihr nicht eine klare und gar blendende Zukunft bieten könnte.

Im Empfangszimmer seiner Tanten hörte er nur mit halbem Ohr jene üblichen Fragen: Wie gehe es denn seinem lieben Vater? Er verlasse natürlich bestimmt nicht das Haus, jetzt, wo es so kalt würde, oder? Würde Soames ihm auch sicher sagen, dass Hester gekochte Stechpalmenblätter äußerst wohltuend bei diesem Schmerz in der Seite gefunden habe? Alle drei Stunden einen Umschlag damit und danach ein rotes Flanelltuch. Und wolle er nicht eine klitzekleine Portion ihrer allerbesten eingemachten Zwetschgen kosten? Sie seien ja so lecker dieses Jahr und die Wirkung sei so wunderbar! Ach ja, und was die Familie von Dartie angehe – habe Soames schon gehört, dass die gute Winifred eine furchtbar stressige Zeit mit Montague durchmache? Timothy sei der Meinung, sie müsse wirklich beschützt werden. Es heiße – aber Soames dürfe das nicht für gewiss betrachten ‒, er habe ein paar von Winifreds Schmuckstücken einer furchtbaren Tänzerin geschenkt. Das sei ja so ein schlechtes Vorbild für den guten Val, der doch jetzt aufs College gehen sollte. Soames habe noch nicht davon gehört? Oh, aber er müsse sofort zu seiner Schwester und dem nachgehen! Und glaube er, diese Buren würden wirklich Widerstand leisten? Timothy sei recht beunruhigt deswegen. Der Wert von Staatsanleihen sei so hoch und er habe so viel Geld in sie investiert.

Denke Soames, sie würden an Wert verlieren, wenn es einen Krieg gäbe?

Soames nickte. Doch er wäre sehr schnell vorbei. Es wäre ja so schlimm für Timothy, wenn es nicht so wäre. Und natürlich würde es Soames’ Vater auch mitnehmen in seinem Alter. Ein Glück, dass dem guten armen Roger diese schreckliche Sorge erspart geblieben sei. Und mit einem kleinen Taschentuch wischte Tante Juley die große Träne weg, die versuchte, die Dauerschmollfalte auf ihrer inzwischen recht welken linken Wange zu überwinden. Sie dachte an den lieben Roger und all seine Originalität und daran, wie er sie immer mit Nadeln gepikst hatte, als sie noch klein waren.

Mit ihrem Instinkt, Unangenehmes zu vermeiden, schaltete Tante Hester sich an dieser Stelle ein: Meine Soames denn, man würde Mr Chamberlain gleich zum Premierminister machen? Er würde alles so schnell erledigen. Sie würde zu gerne sehen, dass dieser alte Kruger nach St. Helena geschickt würde. Sie könne sich noch so gut an die Nachricht von Napoleons Tod erinnern und welch eine Erleichterung es für seinen Großvater gewesen sei. Natürlich hätten Juley und sie das damals – »Da trugen wir noch Höschen, mein Lieber« – nicht so mitbekommen.

Soames nahm eine Tasse Tee von ihr entgegen, leerte sie schnell und aß drei jener Makronen, für die Timothys Haus berühmt war. Sein schwaches, farbloses, herablassendes Lächeln hatte sich kaum merklich vertieft.

Seine Familie blieb wirklich hoffnungslos provinziell, mochten sie auch noch so viel von London besitzen. In diesen fortschrittlichen Zeiten fiel ihr Provinzialismus noch unangenehmer auf als zuvor. Ja, der alte Nicholas war noch immer ein Anhänger und Verfechter des Freihandels und ein Mitglied dieses vorsintflutlichen Nests des Liberalismus, des Remove Clubs – auch wenn die Mitglieder wohl inzwischen bestimmt alle Konservative waren, sonst hätte er selbst ja nicht beitreten können. Und Timothy trug angeblich immer noch eine Nachtmütze. Tante Juley redete wieder. Der liebe Soames sehe ja so gut aus, kaum einen Tag älter als damals, als die gute Ann gestorben war und sie alle hier beisammen waren, der liebe Jolyon und der liebe Swithin und der liebe Roger.

Sie hielt inne und fing die Träne auf, die über die Schmollfalte auf ihrer rechten Wange geklettert war. Höre er – höre er denn noch je etwas von Irene? Tante Hester schob sichtbar ihre Schulter dazwischen. Also wirklich, Juley musste aber auch immer so etwas bringen! Das Lächeln wich aus Soames’ Gesicht und er stellte seine Tasse ab. Da hatte er sein Thema, eigens für ihn angeschnitten, doch trotz seines großen Verlangens, sich darüber auszulassen, konnte er die Gelegenheit nicht wahrnehmen.

Tante Juley fuhr recht hastig fort: »Es heißt, der gute Jolyon habe ihr diese fünfzehntausend erst als tatsächlich zur Verfügung stehende Summe vermacht. Dann hat er natürlich erkannt, dass das nicht richtig wäre, und ihr diese Summe nur zum lebenslangen Nießbrauch überlassen.«

Habe Soames davon gehört?

Soames nickte.

»Dein Cousin Jolyon ist jetzt Witwer. Er ist ihr Treuhänder. Das wusstest du natürlich schon, oder?«

Soames schüttelte den Kopf. Er wusste es, aber er wollte kein Interesse zeigen. Der junge Jolyon und er waren sich nicht mehr begegnet seit dem Tag von Bosinneys Tod.

»Er muss jetzt schon gut mittleren Alters sein«, fuhr Tante Juley versonnen fort. »Lass mich mal überlegen: Er wurde geboren, als dein lieber Onkel in der Mount Street wohnte, lange bevor sie nach Stanhope Gate zogen, im Dezember, kurz vor dieser schrecklichen Commune. Er ist über fünfzig! Stell dir das mal vor! So ein süßes Baby, und wir waren alle so stolz auf ihn. Er war ja der Allererste von euch.« Tante Juley seufzte und eine Locke, die nicht ganz eine ihrer eigenen Haare war, löste sich und fiel nach unten, sodass Tante Hester leicht schauderte. Soames stand auf, er gewann gerade eine seltsame Erkenntnis über sich selbst. Jene alte Wunde der Verletzung seines Stolzes und seiner Selbstachtung war noch nicht verheilt. Er war in der Meinung gekommen, er könne darüber reden, wollte sogar über seinen noch gebundenen Zustand reden, und siehe da! Er flüchtete vor jener Erinnerungen weckenden Bemerkung von Tante Juley, die berüchtigt für ihre falsche Wortwahl war.

Oh, Soames wolle doch nicht etwa schon gehen!

Soames lächelte etwas unversöhnlich und sagte: »Doch. Macht’s gut. Grüßt Onkel Timothy von mir!« Und mit einem kalten Kuss auf ihre Stirnen, deren Falten zu versuchen schienen, sich an seine Lippen zu hängen, als ob sie weggeküsst werden wollten, ließ er sie zurück, während sie ihm hinterherstrahlten. Der gute Soames, es war ja so lieb von ihm gewesen, heute vorbeizukommen, wo sie sich nicht so fühlten …

Mit Gewissensbissen im Herzen ging Soames die Treppe hinunter, wo es immer recht angenehm nach Kampfer und Portwein roch und nach einem Haus, in dem man keine Zugluft duldete. Die armen alten Damen – er hatte nicht unfreundlich sein wollen! Und kaum war er auf der Straße, hatte er sie auch schon wieder vergessen und war wieder besessen von dem Gedanken an Annettes Anblick und seine verzwickte Lage. Warum hatte er die Sache nicht einfach durchgeboxt und die Scheidung erlangt, als dieser verdammte Bosinney überfahren wurde und es ohne Mühe Beweise ohne Ende gab! Und er machte sich auf den Weg zum Haus seiner Schwester Winifred in der Green Street im Stadtteil Mayfair.

In Fesseln

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