Читать книгу In Fesseln - John Galsworthy - Страница 14

Abgang eines Mannes von Welt

Оглавление

Dass ein Mann von Welt, der so von den Wechselfällen des Schicksals gebeutelt wird wie Montague Dartie, noch immer in demselben Haus lebte, das er schon seit mindestens zwanzig Jahren bewohnte, wäre bemerkenswerter gewesen, hätte die Kosten für Miete, Abgaben, Steuern und Reparaturen nicht sein Schwiegervater übernommen. Durch diese einfache, wenngleich umfangreiche Vorgehensweise hatte James Forsyte eine gewisse Stabilität im Leben seiner Tochter und seiner Enkelkinder sichergestellt. Schließlich ist ein ­sicheres Dach über dem Kopf eines so schneidigen Sportsmanns wie Dartie von unschätzbarem Wert. Bis zu den Ereignissen der letzten Tage war er das ganze Jahr fast schon unnatürlich solide gewesen.

Es war nämlich so, dass er einen fünfzigprozentigen Anteil an einem Stutenfohlen von George Forsyte erworben hatte, der unwiderruflich dem Pferderennsport verfallen war, zum Entsetzen von Roger, den nun der Tod ruhiggestellt hatte. Manschettenknopf von Märtyrer aus Flammenhemd von Hosenträger war eine rotbraune junge Stute von drei Jahren, die aus diversen Gründen bisher noch nicht ihr wahres Potential gezeigt hatte. Zur Hälfte in Besitz dieses vielversprechenden Tieres, war all der Idealismus, der, wie bei jedem Mann, auch irgendwo in Dartie geschlummert hatte, zu Tage getreten und hatte vor Monaten ein stilles Feuer in ihm entfacht. Es ist erstaunlich, wie nüchtern ein Mann werden kann, wenn er etwas Gutes hat, für das er lebt. Und was Dartie hatte, war wirklich gut – eine Chance von drei zu eins auf ein Ausgleichsrennen im Herbst, das öffentlich auf fünfundzwanzig zu eins veranschlagt wurde.

Dagegen war der alte Himmel eine mickrige Sache, und er hatte sein letztes Hemd auf die Tochter von Flammenhemd gewettet. Doch wie viel mehr als nur sein Hemd hing doch von Hosenträgers Enkelin ab! In jenem unsteten Alter von fünfundvierzig Jahren, einem kritischen Alter für Forsytes – und kritisch auch für Darties, wenn vielleicht auch der Unterschied zu allen anderen Altersphasen hier nicht so groß war ‒, galt Montagues momentane Zuneigung einer Tänzerin. Es war keine gewöhnliche Leidenschaft, doch ohne Geld, und zwar recht viel davon, würde es wahrscheinlich eine Liebe so luftig wie ihre Röcke bleiben. Und Dartie hatte nie Geld, er lebte nur kümmerlich von dem, was er von Winifred erbetteln oder leihen konnte – einer charakterstarken Frau, die zu ihm hielt, weil er der Vater ihrer Kinder war und wegen einer anhaltenden Bewunderung jenes jetzt schwindenden guten Aussehens und seines Stils, von dem sie in ihrer Jugend fasziniert gewesen war. Sie und jeder, der ihm sonst noch etwas leihen würde, und seine Verluste beim Kartenspielen und bei Pferdewetten (seltsam, wie manche Menschen aus Verlusten etwas Gutes ziehen können!) machten seinen gesamten Lebensunterhalt aus. Denn James war inzwischen zu alt und zu nervös, dass man sich an ihn wenden konnte, und ­Soames war ja so schrecklich unerbittlich. Man kann durchaus sagen, dass Dartie monatelang von Hoffnung gelebt hatte.

Er hatte Geld nie um des Geldes willen gemocht, hatte die Forsytes stets für ihre Investiererei verachtet, auch wenn er stets darauf bedacht war, sie auszunutzen, wo er konnte. Was er an Geld mochte, war, was man damit bekommen konnte – persönliche Sinnesfreuden.

»Ein echter Sportsmann macht sich nichts aus Geld«, pflegte er zu sagen und lieh sich fünfundzwanzig Pfund, wenn es zwecklos war, es mit fünfhundert zu versuchen. Er war schon irgendwie köstlich, dieser Montague Dartie. Er war, wie George Forsyte sagte, ein ›Prachtkerl‹.

Der Morgen des Ausgleichsrennens brach klar und freundlich an. Es war der letzte Septembertag und Dartie, der am Abend zuvor nach Newmarket gereist war, schmiss sich in eine makellose karierte Hose und stieg auf eine Anhöhe, um zu sehen, wie seine Hälfte des Stutenfohlens seinen Schlussgalopp hinlegte. Wenn sie gewann, hatte er glatte dreitausend in der Tasche – eine eher klägliche Entschädigung für die Nüchternheit und die Geduld jener Wochen der Hoffnung, in denen man sie für dieses Rennen vorbereitet hatte. Doch mehr hatte er sich nicht leisten können.

Sollte er die Wette absichern bei den acht zu eins, bei denen sie im Moment lag? Das war sein einziger Gedanke, während die Lerchen über ihm sangen und die grasbewachsenen Hügel süß dufteten und das hübsche Stutenfohlen vorbeikam und den Kopf hin und her warf und wie Seide glänzte.

Schließlich würde ja nicht er bezahlen, sollte er verlieren, und die Wette abzusichern würde seinen Gewinn auf etwa fünfzehnhundert reduzieren – kaum genug, um eine Tänzerin mit Haut und Haaren zu erkaufen. Noch stärker war die Lust, ordentlich zu spekulieren, die alle Darties im Blut haben. Und zu George gewandt sagte er: »Sie ist ein Prachtexemplar. Die gewinnt im Handumdrehen. Ich werde aufs Ganze gehen.« George, der bei seinen Wetten jeden Penny abgesichert hatte und noch ein paar dazu und bestimmt gewinnen würde, wie es auch ausgehen würde, grinste von seiner bulligen Höhe zu ihm herunter mit den Worten: »Na, na, du Draufgänger!« Denn nach bewegten Lehrjahren, die er mit dem Geld ­eines sich bitter beklagenden Roger überstanden hatte, kam ihm als professioneller Besitzer langsam sein Forsyte-Blut zugute.

Es gibt Momente der Desillusionierung im Leben der Menschen, vor denen der sensible Berichterstatter zurückschreckt. Es genügt wohl, zu sagen, dass die gute Sache in die Hose ging. Manschettenknopf kam mit dem Hauptfeld ins Ziel. Darties letztes Hemd war verloren.

Zwischen diesen Ereignissen und dem Tag, an dem Soames die Green Street ansteuerte, was war da nicht alles passiert!

Wenn ein Mann mit einer Konstitution wie Montague Dartie über Monate hinweg aus religiösen Motiven Selbstbeherrschung geübt hat und dann dafür nicht belohnt wird, verflucht er nicht Gott und stirbt, er verflucht Gott und lebt, zum Leidwesen seiner Familie.

Winifred – eine tapfere, wenn auch ein wenig zu modebewusste Frau – war exakt einundzwanzig Jahre lang die Hauptleidtragende Darties gewesen, und nie hatte sie ernsthaft geglaubt, dass er einmal tun würde, was er nun tat. Wie so viele Ehefrauen dachte sie, sie kenne das Schlimmste schon, doch sie hatte ihn nicht in seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr gekannt, wo er, wie auch andere Männer, das Gefühl hatte, dass es jetzt oder nie hieß.

Als sie am zweiten Oktober ihre Schmuckschatulle inspizierte, stellte sie mit Schrecken fest, dass die Krönung und Pracht ihres Frauendaseins verschwunden waren – die Perlen, die Montague ihr 1886 zur Geburt von Benedict geschenkt hatte und für die James im Frühling 1887 hatte zahlen müssen, um einen Skandal zu verhindern. Sie zog sofort ihren Mann zurate.

Der tat das Ganze nur verächtlich ab. Die würden schon wieder auftauchen! Erst als sie scharf sagte: »Na schön, Monty, dann werde ich wohl selbst zur Polizei gehen«, willigte er ein, sich um die Sache zu kümmern. Ein Jammer, dass die stetige und entschlossene Konsequenz der Planung, die für die erfolgreiche Umsetzung umfassenderer Vorhaben vonnöten ist, so leicht von ein paar Drinks verhindert wird! In jener Nacht kam Dartie frei von jeder Sorge und ohne einen Ansatz von Zurückhaltung nach Hause. Unter normalen Umständen hätte Winifred einfach ihre Tür verschlossen und ihn seinen Rausch ausschlafen lassen, doch quälende Ungewissheit wegen ihrer Perlen hatte sie auf ihn warten lassen. Er zog einen kleinen Revolver aus der Tasche, hielt sich am Tisch fest und sagte ihr ohne Umschweife, dass es ihn einen Dreck interessierte, ob sie lebte, so lange sie nur den Mund halte. Aber er selbst habe das Leben satt. Winifred, die sich an der anderen Seite des Esstischs festhielt, erwiderte: »Mach dich nicht lächerlich, Monty. Warst du bei der Polizei?«

Den Revolver auf die Brust gerichtet, hatte Dartie mehrmals abgedrückt. Er war nicht geladen. Fluchend hatte er ihn fallen lassen und gemurmelt: »Um der Kinder will’n«, und war auf einen Stuhl gesunken. Winifred hob den Revolver auf und gab ihm einen Schluck Sodawasser. Das Getränk hatte eine magische Wirkung. Das Leben sei schlecht zu ihm gewesen. Winifred habe ihn nie v’stand’n. Wenn er nicht das Recht habe, die Perlen zu nehmen, die er ihr selbst gegeben hatte, wer dann? Diese spanische Tanzmaus habe sie bekommen. Und wenn Winifred das nicht passe, dann würde er ihr die Kehle aufschlitzen. Na, wie wär’s denn damit? (Wahrscheinlich der erste Gebrauch dieser beliebten Wendung – selbst im klassischsten Sprachstil liegen die Ursprünge so sehr im Dunkel!)

Winifred, die, was Selbstbeherrschung anging, eine harte Schule durchgemacht hatte, sah ihn an und sagte: »Spanische Tanzmaus?! Meinst du dieses Mädchen, dass wir im Pandämonium-Ballett tanzen sehen haben? Du bist ein Dieb und ein Schuft!« Das gab seinen ohnehin schon schwer strapazierten Gefühlen den Rest. Von seinem Stuhl aus ergriff Dartie den Arm seiner Frau und drehte ihn um. Winifred hielt dem Schmerz stand, mit Tränen in den Augen, aber ohne einen Mucks. Sie wartete einen Augenblick der Schwäche ab und befreite sich dann aus seinem Griff. Dann brachte sie den Esstisch zwischen sich und Dartie und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Du bist echt die Höhe, Monty.« (Ohne Zweifel die Geburtsstunde dieser Wendung – so entwickelt sich die Sprache unter dem Druck der Umstände). Sie ließ Dartie mit Schaum auf dem dunklen Schnurrbart sitzen und ging nach oben, wo sie, nachdem sie die Tür verschlossen und ihren Arm in heißem Wasser gebadet hatte, die ganze Nacht wach lag und darüber nachdachte, wie ihre Perlen nun den Hals einer anderen schmückten, und darüber, welche Gegenleistung ihr Mann vermutlich dafür bekommen hatte.

Der Mann von Welt erwachte mit dem Gefühl, von dieser Welt abgefallen zu sein, und einer vagen Erinnerung daran, als ›die Höhe‹ bezeichnet worden zu sein. Eine halbe Stunde lang saß er in der Dämmerung in dem Sessel, wo er geschlafen hatte – möglicherweise die bis dato unglücklichste halbe Stunde seines gesamten Lebens, denn selbst für einen Dartie hat ein Ende etwas Tragisches.

Und er wusste, dass er es erreicht hatte. Niemals wieder würde er in diesem Esszimmer schlafen und aufwachen, wenn das Licht durch diese Vorhänge schien, die Winifred bei Nickens and Jarveys von James’ Geld gekauft hatte. Niemals wieder würde er an diesem Rosenholztisch pikante Hammelnierchen essen, nachdem er sich im Bett noch mal umgedreht und dann ein heißes Bad genommen hatte.

Er nahm sein Portemonnaie aus der Fracktasche. Vierhundert Pfund in Fünfern und Zehnern – der Rest des Erlöses seiner Hälfte von Manschettenknopf, die er gestern Abend für bares Geld an George Forsyte verkauft hatte, der bei dem Rennen gewonnen und damit nicht die plötzliche Abneigung gegenüber dem Tier empfunden hatte, die er selbst nun spürte. Das Ballett reiste übermorgen nach Buenos Aires, und er würde mitkommen. Er hatte noch nicht den vollen Gegenwert für die Perlen erhalten, das war nur die Vorspeise gewesen.

Er schlich sich die Treppe hoch. Ein Bad zu nehmen oder sich zu rasieren traute er sich nicht (außerdem würde das Wasser kalt sein), und so zog er sich nur um und packte heimlich ein, was er konnte. Es war hart, so viele glänzende Stiefel hier zu lassen, aber man musste eben Opfer bringen. Dann ging er, in jeder Hand eine Reisetasche, hinaus auf den Treppenabsatz. Das Haus war komplett still – jenes Haus, in dem er seine vier Kinder gezeugt hatte. Es war ein merkwürdiger Moment, dort, vor dem Zimmer seiner Frau, die er einst bewundert, wenn nicht sogar geliebt hatte, die ihn ›die Höhe‹ genannt hatte. Er verhärtete sein Herz mit dieser Bezeichnung und schlich weiter. Doch bei der nächsten Tür war es schwieriger, vorbeizugehen. Es war das Zimmer, in dem seine Töchter schliefen.

Maud war in der Schule, aber Imogen war da. Und Darties unausgeschlafene Augen wurden feucht. Von den vieren war sie ihm am ähnlichsten mit ihren dunklen Haaren und ihren schönen braunen Augen. Sie wurde gerade in die Gesellschaft eingeführt, ein hübsches Ding! Er setzte die beiden Reisetaschen ab. Diese fast schon förmliche Niederlegung seiner Vaterschaft schmerzte ihn. Das Morgenlicht fiel auf ein Gesicht, in dem sich wahre Emotionen abspielten. Was ihn bewegte, war nicht etwas so Falsches wie Reue, sondern aufrichtige Vatergefühle und jene Melancholie des ›Nie-wieders‹. Er leckte sich über die Lippen, und für einen Augenblick lähmte völlige Unentschlossenheit seine Beine in den karierten Hosen.

Es war hart – hart, so gezwungen zu sein, sein Zuhause zu verlassen! »Verdammt!«, murmelte er. »Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde.« Durch Geräusche von oben wurde er gewarnt, dass die Hausmädchen anfingen, aufzustehen. Und so nahm er die zwei Reisetaschen und schlich nach unten. Seine Wangen waren feucht, und das zu wissen, tröstete ihn, als ob es die Echtheit seines Opfers garantierte. Er hielt sich noch ein wenig in den unteren Räumen auf, um all die Zigarren einzupacken, die er hatte, ein paar Zeitungen, einen Klapphut, eine Zigarettendose aus Silber und ein Handbuch des Pferderennsports. Dann mixte er sich einen starken Whisky Soda, zündete sich eine Zigarette an und blieb zögernd vor einem Foto seiner zwei Mädchen in einem Silberrahmen stehen. Es gehörte Winifred. ›Was soll’s‹, dachte er sich, ›sie kann ein neues machen lassen, ich nicht!‹ Er ließ es in seine Reisetasche gleiten. Dann setzte er seinen Hut auf, zog seinen Mantel über, genehmigte sich noch zwei weitere Drinks, nahm seinen Malakkaspazierstock und einen Regenschirm und öffnete die Haustür. Er ging hinaus und zog sie leise hinter sich zu, schwer beladen wie nie zuvor in seinem Leben, und bog um die Ecke, um dort auf eine frühe Droschke zu warten.

Und so ging Montague Dartie in seinem fünfundvierzigsten ­Lebensjahr fort von dem Haus, das er sein Eigen genannt hatte.

Als Winifred nach unten kam und feststellte, dass er nicht im Haus war, fühlte sie zuerst eine dumpfe Wut, dass er so den Vorwürfen entkommen sollte, die sie sich in jenen langen Stunden, die sie wach gelegen hatte, sorgfältig zurechtgelegt hatte. Er war nach Newmarket oder Brighton abgehauen, bestimmt mit dieser Frau. Widerlich! Gegenüber Imogen und den Angestellten durfte sie kein Wort darüber verlieren, und sie wusste, dass die Eröffnung dieser Sache mit Sicherheit zu viel für die Nerven ihres Vaters wäre, doch sie hatte nicht anders gekonnt, als an jenem Nachmittag zu Timothy zu gehen und den Tanten Juley und Hester streng vertraulich die Geschichte mit den Perlen zu erzählen.

Erst am darauffolgenden Morgen bemerkte sie, dass jenes Foto verschwunden war. Was hatte das zu bedeuten? Eine gründliche Untersuchung der zurückgelassenen Sachen ihres Mannes legte den Gedanken nahe, dass er für immer fortgegangen war. Als sich diese Schlussfolgerung verfestigte, stand sie ganz still mitten in seinem Ankleidezimmer, alle Schubladen standen offen, und versuchte, sich ihrer Gefühle klarzuwerden. Das war alles andere als einfach! Auch wenn er ›die Höhe‹ war, er gehörte immer noch ihr, und sie konnte beim besten Willen nicht anders, als sich ärmer zu fühlen. Mit zweiundvierzig Witwe und doch nicht verwitwet zu sein, mit vier Kindern, Aufsehen zu erregen ‒ und Mitleid! Abgehauen in die Arme eines spanischen Flittchens! Erinnerungen, Gefühle, die sie schon lange tot geglaubt hatte, stiegen in ihr auf, schmerzlich, dunkel, hartnäckig. Wie ferngesteuert machte sie eine Schublade nach der anderen zu, ging zu ihrem Bett, legte sich darauf und vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Sie weinte nicht. Was würde das schon bringen? Als sie ihr Bett verließ, um zum Mittagessen nach unten zu gehen, spürte sie, dass es nur eine Sache gab, die ihr guttun könnte, nämlich Val hier zu haben. Er – ihr ältester Sohn, der ab nächsten Monat auf James’ Kosten nach Oxford gehen sollte – war in Littlehampton, um mit seinem Trainer den Schlussgalopp für die Aufnahmeprüfung hinzulegen, wie er es gemäß der Ausdrucksweise seines Vaters formuliert hätte. Sie ließ ein Telegramm an ihn schicken.

»Ich muss mich um seine Kleidung kümmern«, sagte sie zu Imogen. »Ich kann ihn nicht irgendwie nach Oxford schicken, die Jungen dort sind ja so eigen.«

»Val hat doch haufenweise Sachen«, antwortete Imogen.

»Ich weiß, aber die müssen hergerichtet werden. Ich hoffe, er kommt.«

»Er wird kommen wie der Blitz, Mama. Aber seine Prüfung wird er wahrscheinlich in den Sand setzen.«

»Das kann ich nicht ändern«, erwiderte Winifred. »Ich brauche ihn.«

Imogen sah ihrer Mutter mit einem unschuldig scharfsinnigen Blick ins Gesicht und schwieg. Es war wegen Vater, klar! Val kam in der Tat ›wie der Blitz‹, um sechs Uhr.

Stellen Sie sich eine Kreuzung zwischen einem Bengel und einem Forsyte vor, und Sie haben den jungen Publius Valerius Dartie. Ein Junge mit einem solchen Namen konnte kaum anders sein. Als er geboren wurde, hatte Winifred in ihrer Hochstimmung und dem Wunsch nach Besonderheit beschlossen, dass ihre Kinder Namen bekommen sollten, die kein anderer je gehabt hatte (man konnte von Glück sagen – so dachte sie jetzt ‒, dass sie Imogen doch nicht Thisbe genannt hatte). Doch es war George Forsyte, der ewige Witzbold, dem Val seinen Taufnamen zu verdanken hatte. Es ergab sich zufällig, dass Dartie bei einem Essen mit ihm eine Woche nach der Geburt seines Sohnes und Erben diese Ambition von Winifred erwähnte.

»Nenn ihn Cato«, sagte George, »das wäre doch mal richtig peppig!« Er hatte kurz zuvor einen Zehner mit einem Pferd dieses Namens gewonnen.

»Cato!«, hatte Dartie entgegnet – die beiden waren ein wenig ›blau‹, wie man damals schon sagte. »Das ist kein christlicher Name.«

»Hey, Sie da!«, rief George einem Kellner in Kniehosen zu. »Bringen Sie mir die Encyclopaedia Britannica aus der Bibliothek, Buchstabe C!«

Der Kellner brachte sie.

»Da hast du’s!«, sagte George und zeigte mit seiner Zigarre darauf: »Cato Publius Valerius von Virgil aus Lydia. Passt doch perfekt. Publius Valerius ist christlich genug.«

Als Dartie nach Hause gekommen war, hatte er es Winifred erzählt. Sie war entzückt gewesen. Der Name war so ›chic‹. Und Publius Valerius wurde der Name des Babys. Allerdings stellte sich später heraus, dass sie den weniger bedeutenden Cato erwischt hatten. 1890, als der kleine Publius fast zehn war, kam das Wort ›chic‹ jedoch aus der Mode und an seine Stelle trat Nüchternheit. Winifred fing an zu zweifeln.

Ihre Zweifel wurden von dem kleinen Publius selbst bestätigt, der nach seinem ersten Halbjahr aus dem Internat zurückkam und sich beklagte, dass ihm das Leben eine Last sei – sie nannten ihn Pubby. Winifred – eine wahrhaft entschlossene Frau – ließ ihn sogleich die Schule wechseln und änderte seinen Namen zu Val um, Publius wurde sogar als Initial weggelassen.

Mit neunzehn war er ein geschmeidiger, sommersprossiger Junge mit einem breiten Mund, hellen Augen, langen dunklen Wimpern, einem recht charmanten Lächeln, einem beträchtlichen Wissen über alles, was er nicht wissen sollte, und keiner Ahnung, was er tun sollte. Wenige Jungen waren einem Schulverweis knapper entkommen – ein liebenswürdiger Bengel.

Nachdem er seiner Mutter einen Kuss gegeben und Imogen gezwickt hatte, rannte er drei Stufen auf einmal nehmend nach oben, um dann vier Stufen auf einmal nehmend und fürs Abendessen umgezogen wieder nach unten zu kommen. Es tue ihm schrecklich leid, aber sein ›Trainer‹, der auch mitgekommen war, habe ihn zum Abendessen ins Oxford and Cambridge eingeladen. Er könne ihn nicht versetzen – da wäre der Alte verletzt. Winifred ließ ihn mit unglücklichem Stolz davonziehen. Sie wollte ihn hier zu Hause haben, aber es war sehr schön, zu wissen, dass sein Tutor ihn so mochte. Er zwinkerte Imogen beim Hinausgehen zu und sagte: »Sag mal, Mama, könnte ich vielleicht zwei Kiebitzeier haben, wenn ich nach Hause komme? Die Köchin hat welche. Die sind ein richtig guter Abschluss. Ach, und noch was – hast du etwas Geld für mich? Ich musste mir einen Fünfer vom alten Snobby leihen.«

Winifred sah ihn liebevoll scharfsinnig an und antwortete: »Mein Lieber, was Geld angeht, bist du wirklich unmöglich. Aber du solltest ihm das Geld ohnehin nicht heute Abend geben, du bist doch eingeladen.« Wie hübsch und schlank er in seinem weißen Gehrock aussah, und seine dunklen vollen Wimpern!

»Oh, aber wir wollen ins Theater, weißt du, Mama. Und ich denke, ich sollte die Tickets bezahlen. Er ist immer knapp bei Kasse, weißt du …«

Winifred holte einen Fünfpfundschein hervor und sagte: »Na ja, vielleicht solltest du ihm besser das Geld zurückgeben, aber zahl nicht auch noch die Tickets!«

Val steckte den Fünfer ein.

»Wenn ich das mache, dann kann ich es auch gar nicht«, sagte er. »Gute Nacht, Mama!«

Mit erhobenem Haupt und keck aufgesetztem Hut ging er hinaus und schnupperte die Piccadilly-Luft wie ein junger Jagdhund, den man ins Dickicht losgelassen hat. ’Ne echt feine Sache nach dem muffigen, alten, langsamen Loch dort unten!

Er traf seinen ›Tutor‹ nicht wirklich im Oxford and Cambridge, sondern im Goat’s Club. Dieser ›Tutor‹ war ein Jahr älter als er selbst, ein gutaussehender junger Mann, hübsche braune Augen, glattes dunkles Haar, kleiner Mund, ovales Gesicht, lässig, makellos, recht kühl, einer jener jungen Männer, die mühelos moralische Überlegenheit innerhalb ihrer Clique erlangen.

Er war ein Jahr vor Val einem Schulverweis entgangen, hatte jenes Jahr in Oxford verbracht, und Val konnte fast schon einen Heiligenschein um seinen runden Kopf erkennen. Er hieß Crum, und niemand konnte schneller Geld ausgeben als er. Es schien sein alleiniges Lebensziel zu sein – beeindruckend für den jungen Val, auch wenn sich hin und wieder der Forsyte in ihm zu Wort meldete und sich fragte, wo denn der Gegenwert für dieses Geld war.

Sie aßen schweigend, stil- und geschmackvoll, verließen dann den Klub Zigarre rauchend und mit nur zwei Flaschen intus und setzten sich im Liberty in die Loge. Was Val anbetraf, wurden der Klang lustiger Lieder und der Anblick schöner Beine von quälender Sorge beeinträchtigt, dass er nie an Crums stillen Dandyismus herankommen würde. Sein Idealismus war geweckt, und wenn das der Fall ist, dann fühlt man sich nie ganz wohl. Sein Mund war sicher zu breit, sein Gehrock hatte nicht den besten Schnitt, seine Hose keine Biesen und seine lavendelfarbenen Handschuhe keine schwarzen Stiche auf der Oberseite. Außerdem lachte er zu viel – Crum lachte nie, er lächelte nur, und dabei hob er seine ebenmäßigen dunklen Brauen ein wenig, sodass sie über seinen leicht gesenkten Augenlidern einen Giebel formten. Nein!

Er würde niemals an Crum heranreichen. Trotzdem war die Vorstellung echt verdammt gut und Cynthia Dark einfach der Wahnsinn. Zwischen den Akten versorgte Crum Val mit Einzelheiten aus Cynthias Privatleben und ließ ihn zu der Ehrfurcht gebietenden Erkenntnis kommen, dass er, wenn er wollte, hinter die Bühne gehen könnte. Val wünschte sich einfach nur zu sagen: »Hey, nimm mich mit!«, aber er traute sich nicht wegen seiner Unzulänglichkeiten, und das machte die letzten ein, zwei Akte fast zu einer Qual.

Als sie hinaustraten, sagte Crum: »In einer halben Stunde machen sie zu, lass uns noch ins Pandämonium gehen!« Sie nahmen eine Droschke für die knapp hundert Meter, kauften Karten für je sieben Shilling und sechs Pence, weil sie Stehplätze wollten, und gingen in den Wandelgang. Gerade in diesen Kleinigkeiten, in dieser schieren Missachtung von Geld, lag Crums einnehmende Eleganz begründet. Es war die letzte Vorstellung des Balletts und das Ballett war am Ende und der Verkehr im Wandelgang war gerade etwas problematisch. Männer und Frauen drängten sich in drei Reihen vor der Barriere. Das Gewirbel und das helle Licht auf der Bühne, das Halbdunkel, das Gemisch aus Tabakschwaden und Frauendüften, all die eigenartige Verlockung zu Unmoral und Frivolität, die zu Wandelgängen gehört, führten dazu, dass Val langsam seinen Idealismus vergaß. Er blickte bewunderungsvoll in das Gesicht einer jungen Frau, sah, dass sie nicht jung war, und schaute schnell wieder weg. Nur ein Abklatsch von Cynthia Dark! Der Arm der jungen Frau berührte unbeabsichtigt seinen, es roch nach Moschus und Reseda. Val sah sie unter seinen Wimpern an. Vielleicht war sie ja doch jung. Sie trat auf seinen Fuß und entschuldigte sich. Er sagte: »Nichts passiert. Ein echt gutes Ballett, oder?«

»Ach, mich langweilt es. Sie nicht?«

Der junge Val lächelte – sein breites, recht charmantes Lächeln. Weiter ging er nicht – er war noch nicht überzeugt. Der Forsyte in ihm bestand auf größerer Gewissheit. Und auf der Bühne wirbelte das Ballett sein Kaleidoskop aus Schneeweiß, Lachsrosa, Smaragdgrün und Violett und schien dann plötzlich zu einer stillen, glitzernden Pyramide zu erstarren. Applaus erklang, und es war vorbei! Weinrote Vorhänge hatten es beendet. Der Halbkreis aus Männern und Frauen rund um die Barriere löste sich auf, der Arm der jungen Frau drückte sich gegen seinen. Ein wenig weiter weg schien sich um einen Mann mit einer rosa Nelke ein Tumult zu bilden. Val warf noch einmal einen verstohlenen Blick auf die junge Frau, die in die Richtung dieses Tumults sah. Drei Männer kamen Arm in Arm und wackelig auf den Beinen aus der Menge.

Der in der Mitte trug die rosa Nelke, einen weißen Gehrock und einen dunklen Schnurrbart. Er schwankte ein wenig beim Laufen. Er hörte, wie Crum langsam und gelassen sagte: »Schau dir den ordinären Kerl an, der ist hackedicht!« Val drehte sich um und schaute. Der ›ordinäre Kerl‹ hatte seinen Arm befreit und zeigte geradewegs auf sie. Gelassen wie eh und je sagte Crum: »Der scheint dich zu kennen!« Der ›ordinäre Kerl‹ sagte etwas: »Na, schau mal einer an!«, sagte er. »Da ist ja mein Sohn, der kleine Schlingel!«

Val sah es. Es war sein Vater! Er hätte in dem karminroten Teppich versinken können. Nicht, weil sie sich an diesem Ort über den Weg liefen, noch nicht einmal, weil sein Vater ›hackedicht‹ war, sondern, weil Crum ihn einen ›ordinären Kerl‹ genannt hatte, und wie durch eine himmlische Erkenntnis sah er in diesem Moment, dass er tatsächlich einer war. Ja, sein Vater sah aus wie ein ordinärer Kerl mit seinem dunklen Teint und guten Aussehen, seiner rosa Nelke und seinem breitbeinigen, selbstbewussten Gang. Und ohne ein Wort ging er hinter der jungen Frau in Deckung und schlüpfte aus dem Wandelgang. Er hörte, wie jemand hinter ihm »Val!« rief, und rannte die mit dickem Teppich belegten Stufen hinunter, vorbei an den ›Rausschmeißern‹, raus auf den Platz.

Sich für seinen eigenen Vater zu schämen, ist womöglich die bitterste Erfahrung, die ein junger Mann machen kann. Während er davoneilte, schien es Val, als habe seine Karriere geendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Wie konnte er jetzt noch nach Oxford gehen mit all diesen Kerlen, diesen so perfekten Freunden von Crum, die wissen würden, dass sein Vater ein ›ordinärer Kerl‹ war! Und plötzlich hasste er Crum. Wer zum Teufel war Crum eigentlich, einfach so etwas zu sagen? Wäre Crum in diesem Moment neben ihm gelaufen, er hätte ihn mit Sicherheit vom Gehweg geschubst. Sein eigener Vater – sein Vater! Es schnürte ihm die Kehle zu und er vergrub die Hände tief in den Taschen seines Mantels. Zum Teufel mit Crum!

Es kam ihm der verrückte Gedanke, zurückzulaufen und seinen Vater in Schutz zu nehmen, ihn am Arm zu nehmen und mit ihm vor Crums Nase umherzulaufen. Doch er verwarf ihn gleich wieder und ging weiter seines Weges die Piccadilly hinunter. Eine junge Frau stellte sich vor ihn. »Nicht so wütend, Kleiner.« Er wich zurück, ging an ihr vorbei und wurde mit einem Schlag sehr gefasst. Wenn Crum jemals ein Wort sagen sollte, dann würde er ihm aber so was von eine verpassen, und damit wäre die Sache erledigt. Er lief noch gut hundert Meter zufrieden mit diesem Gedanken weiter, dann tröstete ihn das kein bisschen mehr. So einfach war das nicht! Er dachte daran, wie in der Schule, wenn jemandes Vater oder Mutter nicht dem Standard entsprach, das demjenigen dann immer anhaftete.

Das war eines dieser Dinge, die man durch nichts wieder loswurde. Warum hatte seine Mutter nur seinen Vater geheiratet, wenn er ein ›ordinärer Kerl‹ war? Das war so schrecklich ungerecht – so was von gemein, jemandem einen ›ordinären Kerl‹ zum Vater zu geben. Das Schlimmste daran war, dass ihm jetzt, wo Crum diese Worte ausgesprochen hatte, bewusst wurde, dass er unterbewusst schon lange gewusst hatte, dass sein Vater nicht gerade ein ›Saubermann‹ war. Es war das Grausamste, was ihm je widerfahren war – das Grausamste, was je irgendeinem Jungen widerfahren war! Und so niedergeschlagen wie nie zuvor in seinem Leben erreichte er die Green Street, wo er die Tür mit einem mitgeschmuggelten Hausschlüssel öffnete. Im Esszimmer standen seine Kiebitzeier einladend für ihn bereit, mit ein paar Scheiben Brot und etwas Butter, und ein wenig Whisky in einer Karaffe – gerade genug, so hatte Winifred gedacht, dass er sich wie ein Mann vorkam. Von dem Anblick wurde ihm übel, und er ging nach oben.

Winifred hörte ihn vorbeigehen und dachte: ›Mein lieber Junge ist zu Hause. Gott sei Dank! Wenn er nach seinem Vater gerät, weiß ich nicht, was ich tun soll! Aber das wird er nicht, er ist wie ich. Der liebe Val!‹

In Fesseln

Подняться наверх