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II

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Zwei Tage Regen, dann kam sanft und sonnig der Sommer. Der alte Jolyon ging mit Holly spazieren und unterhielt sich mit ihr. Anfangs fühlte er sich größer und von frischer Kraft erfüllt, dann wurde er unruhig. Fast jeden Nachmittag gingen sie in das Wäldchen, bis zu dem Baumstamm. ›Sie ist nicht da!‹, dachte er jedes Mal. ›Natürlich nicht!‹ Und jedes Mal fühlte er sich ein wenig kleiner und ging schleppenden Ganges die Anhöhe hoch nach Hause, die Hand gegen seine linke Seite gepresst. Hin und wieder regte sich in ihm der Gedanke: ›War sie hier – oder habe ich es nur geträumt?‹ Und er starrte ins Leere, während der Hund Balthasar ihn anstarrte. Natürlich würde sie nicht wiederkommen! Er öffnete die Briefe aus Spanien mit weniger Freude. Sie kamen erst im Juli zurück. Merkwürdigerweise hatte er das Gefühl, dass er das aushalten könnte. Jeden Tag starrte er beim Abendessen mit zusammengekniffenen Augen auf den Platz, an dem sie gesessen hatte. Sie war nicht da, also ließ er das mit dem Zusammenkneifen wieder.

Am siebten Nachmittag dachte er: ›Ich muss nach London und mir Stiefel kaufen.‹ Er beorderte Beacon und machte sich auf den Weg. Während er von Putney Richtung Hyde Park fuhr, überlegte er sich: ›Eigentlich könnte ich auch nach Chelsea fahren und sie besuchen.‹ Und er rief: »Fahren Sie mich einfach dahin, wo sie die Dame neulich Abend hingebracht haben.« Der Kutscher drehte sein breites rotes Gesicht zu ihm und antwortete mit seinen fleischigen Lippen: »Die Dame in Grau, Sir?«

»Ja, die Dame in Grau.« Welche Dame denn sonst? Trottel!

Die Kutsche hielt vor einem kleinen dreistöckigen Haus, ein wenig abseits vom Fluss. Mit seinem geschulten Blick erkannte der alte Jolyon, dass die Wohnungen billig waren. ›Wahrscheinlich um die sechzig Pfund pro Jahr‹, dachte er. Beim Hineingehen sah er auf die Namenschilder. Der Name Forsyte war nirgendwo zu finden, aber unter ›Erster Stock, Wohnung C‹ stand ›Mrs Irene Heron‹. Aha! Sie hatte also ihren Mädchennamen wieder angenommen! Und irgendwie gefiel ihm das. Langsam ging er nach oben, er spürte wieder etwas den Schmerz auf der linken Seite. Er blieb einen Augenblick stehen, ehe er klingelte, damit dieses Ziehen und Pochen aufhörte. Sie war bestimmt nicht zu Hause! Und außerdem – Stiefel! Was wollte er denn in seinem Alter mit Stiefeln? Er konnte ja nicht einmal mehr die auftragen, die er schon besaß.

»Ist Ihre Herrin zu Hause?«

»Ja, Sir.«

»Melden Sie Mr Jolyon Forsyte.«

»Ja, Sir. Hier entlang, bitte.«

Der alte Jolyon folgte dem sehr jungen Hausmädchen – wohl nicht älter als sechzehn – in ein sehr kleines Empfangszimmer, in dem die Jalousien heruntergelassen waren. In dem Raum befand sich ein Pianino, und sonst war da recht wenig, außer einem zarten Duft und Stil. Er stand in der Mitte, den Zylinder in der Hand, und dachte: ›Sie muss wohl sehr knapp bei Kasse sein!‹ Über dem Kamin hing ein Spiegel und er sah sein Abbild. Ein alt aussehender Kerl! Er hörte ein Rascheln und drehte sich um. Sie war so dicht hinter ihm, dass sein Schnurrbart beinahe ihre Stirn streifte, direkt unter ihren Haaren.

»Ich war gerade auf dem Weg in die Stadt«, sagte er. »Dachte, ich schau mal bei dir vorbei und frage, ob du neulich gut heimgekommen bist.«

Und als er sah, dass sie lächelte, fühlte er sich plötzlich sehr erleichtert. Vielleicht freute sie sich wirklich, ihn zu sehen.

»Möchtest du deinen Hut aufsetzen und mit mir in den Park fahren?«

Doch während sie weg war, um ihren Hut zu holen, verfinsterte sich seine Miene. Der Park! James und Emily! Nicholas’ Frau oder irgendjemand anderes seiner lieben Familie würde bestimmt dort sein und umherstolzieren. Und hinterher würden sie sich die Mäuler darüber zerreißen, dass sie ihn mit ihr gesehen hatten. Besser nicht! Er wollte nicht die Echos der Vergangenheit an der Forsyte’schen Börse widerhallen lassen. Er zupfte ein weißes Haar vom Revers seines stramm zugeknöpften Gehrocks und fuhr sich mit der Hand über die Wangen, den Schnurrbart und das kantige Kinn. Da, unter den Wangenknochen, fühlte es sich sehr eingefallen an. Er hatte in letzter Zeit nicht allzu viel gegessen – er sollte sich besser mal ein Mittel verschreiben lassen von diesem Jungspund, der Holly behandelte. Doch sie war wieder zurück, und als sie in der Kutsche saßen, sagte er: »Wollen wir vielleicht lieber zu den Kensington Gardens fahren?« Und mit einem Zwinkern fügte er hinzu: »Da stolziert niemand umher«, als ob sie in das Geheimnis seiner Gedanken eingeweiht wäre.

Sie stiegen aus der Kutsche aus, betraten jenes auserwählte ­Gebiet und spazierten Richtung Wasser.

»Wie ich sehe, hast du deinen Mädchennamen wieder angenommen«, sagte er. »Das tut mir nicht leid.«

Sie hakte sich bei ihm ein: »Hat June mir verziehen, Onkel

Jolyon?«

Er antwortete freundlich: »Ja, ja, natürlich. Warum sollte sie das nicht haben?«

»Und du?«

»Ich? Ich habe dir sofort verziehen, als ich die Lage durchschaut hatte.« Und vielleicht hatte er das wirklich. Es war immer schon sein Instinkt gewesen, den Schönen zu verzeihen.

Sie atmete tief ein. »Ich habe es nie bereut – ich konnte es nicht. Hast du jemals aus tiefstem Herzen geliebt, Onkel Jolyon?«

Auf diese merkwürdige Frage starrte der alte Jolyon vor sich hin. Hatte er das? Er schien sich nicht erinnern zu können, dass er es hatte. Doch das wollte er der jungen Frau nicht sagen, deren Hand auf seinem Arm lag, die gewissermaßen von der Erinnerung an eine tragische Liebe lebte. Und er dachte sich: ›Hätte ich dich getroffen, als ich jung war, ich hätte mich vielleicht zum Narren gemacht.‹ Und ihn überkam das Verlangen, sich in Allgemeinheiten zu flüchten.

»Die Liebe ist eine seltsame Sache«, sagte er, »oft auch eine verhängnisvolle. Waren es nicht die Griechen, die die Liebe zu einer Göttin gemacht haben? Sie hatten recht, will ich wohl meinen. Aber sie lebten ja auch im Goldenen Zeitalter.«

»Phil hat sie verehrt.«

Phil! Das Wort verletzte ihn, denn mit seiner Fähigkeit, alle Seiten einer Sache zu sehen, wurde ihm plötzlich klar, warum sie sich mit ihm abgab. Sie wollte über ihre Liebe sprechen! Na ja, wenn es ihr Freude machte! Und er sagte: »Ah! In ihm steckte wohl auch ein wenig von einem Bildhauer, oder?«

»Ja. Er liebte Ausgewogenheit und Symmetrie. Er liebte es, wie sich die Griechen mit ganzem Herzen der Kunst hingaben.«

Ausgewogenheit! Der Kerl hatte ja so gar keine Ausgewogenheit an sich gehabt, soweit er sich erinnerte. Was Symmetrie anbetraf – gut gebaut war er schon gewesen, ohne Zweifel, aber diese merkwürdigen Augen und die hohen Wangenknochen … Symmetrie?

»Du bist auch aus dem Goldenen Zeitalter, Onkel Jolyon.«

Der alte Jolyon sah zu ihr hinüber. Wollte sie ihn aufziehen? Nein, ihr Blick war weich wie Samt. Wollte sie ihm schmeicheln? Aber wenn ja, warum? Bei so einem alten Kerl wie ihm war doch nichts zu holen.

»Phil fand das. Er hat immer gesagt: ›Aber ich kann ihm nie sagen, dass ich ihn bewundere.‹«

Aha! Schon wieder. Ihr toter Geliebter, ihr Wunsch, über ihn zu sprechen! Und er drückte ihren Arm, halb genervt von diesen Erinnerungen, halb dankbar dafür, als ob er merkte, welche Verbindung sie zwischen ihr und ihm schafften.

»Er war ein sehr talentierter junger Mann«, brummte er. »Es ist heiß. Die Hitze setzt mir neuerdings zu. Komm, setzen wir uns hin.«

Sie nahmen auf zwei Stühlen unter einer Kastanie Platz, deren breite Krone sie vor dem friedlichen Strahlen des Nachmittags schützte.

Es war eine Freude, hier zu sitzen und sie zu betrachten und zu fühlen, dass sie gerne Zeit mit ihm verbrachte. Und der Wunsch, das möglichst noch zu verstärken, ließ ihn fortfahren:

»Ich schätze, er hat sich dir von einer Seite gezeigt, die ich nie zu sehen bekommen habe. Bestimmt zeigte er sich dir von seiner besten Seite. Seine Vorstellungen von Kunst waren ein wenig neu- – für mich.« Er hatte das ›-modisch‹ zurückgehalten.

»Ja, aber er hat immer gesagt, dass du einen wirklichen Sinn für Schönheit hast.« Der alte Jolyon dachte: ›Den Teufel hat er getan!‹ Doch er antwortete mit einem Zwinkern: »Ja, den habe ich wohl, sonst würde ich jetzt nicht hier mit dir sitzen.« Es war faszinierend, wenn sie mit ihren Augen lächelte so wie jetzt!

»Er fand, du hättest eines jener Herzen, die niemals alt werden. Phil hatte eine echt gute Menschenkenntnis.«

Er ließ sich nicht täuschen von dieser Schmeichelei, die der Vergangenheit entstammte, dem Wunsch, über ihren toten Geliebten zu sprechen – kein bisschen. Und doch war es schön zu hören, weil sie seinen Augen und seinem Herzen, das – ganz richtig! – nie alt geworden war, Freude machte. War es nie alt geworden, weil er – anders als sie und ihr toter Geliebter – nie bis zur Verzweiflung geliebt, stets auf Ausgewogenheit geachtet und nie seinen Sinn für Schönheit verloren hatte? Wie auch immer! Es hatte ihm die Fähigkeit erhalten, auch noch mit fünfundachtzig Schönheit zu bewundern. Und er dachte sich: ›Wenn ich ein Maler oder ein Bildhauer wäre! Aber ich bin ein alter Kerl. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.‹

Ein Pärchen lief mit verschlungenen Armen vor ihnen am Rande des Schattens, den ihr Baum warf, über den Rasen. Das Sonnenlicht fiel gnadenlos auf ihre blassen, verquollenen, ungepflegten jungen Gesichter. »Wir sind schon ein hässlicher Haufen!«, sagte der alte Jolyon unvermittelt. »Ich finde es faszinierend, zu sehen, wie die Liebe darüber triumphiert.«

»Die Liebe triumphiert über alles!«

»So denken die Jungen«, murmelte er.

»Die Liebe kennt kein Alter, keine Grenzen und keinen Tod.«

Mit diesem Strahlen auf ihrem blassen Gesicht, ihrer bebenden Brust und ihren so großen und so dunklen und so sanften Augen sah sie aus wie eine zum Leben erwachte Venus! Doch diese Übertreibung bewirkte eine unmittelbare Reaktion, und mit einem Zwinkern sagte er: »Nun, wenn sie Grenzen kennen würde, dann würden wir nicht geboren. Denn sie muss bei Gott viel hinnehmen!«

Dann nahm er seinen Zylinder ab und wischte mit einer Manschette darüber. Von dem großen unhandlichen Ding wurde seine Stirn heiß. In letzter Zeit stieg ihm häufig das Blut in den Kopf – sein Kreislauf funktionierte nicht mehr so wie früher.

Sie saß noch immer vor sich hinstarrend da, und plötzlich murmelte sie: »Es ist schon seltsam, dass ich noch am Leben bin.«

Er erinnerte sich an Jos Beschreibung: ›verstört und verloren‹.

»Ah!«, sagte er. »Mein Sohn hat dich kurz gesehen – an jenem Tag.«

»War das dein Sohn? Ich habe jemanden in der Eingangshalle gehört. Für einen Moment dachte ich, es wäre – Phil.«

Der alte Jolyon sah, wie ihre Lippen zitterten. Sie legte ihre Hand über den Mund, nahm sie wieder weg und fuhr dann ruhig fort: »In jener Nacht bin ich zur Themse gegangen. Eine Frau hat mich am Kleid festgehalten. Sie hat mir von sich erzählt. Wenn man vom Leid anderer weiß, schämt man sich.«

»Eine jener Frauen?«

Sie nickte und der alte Jolyon spürte Entsetzen, das Entsetzen eines Menschen, der noch nie mit Verzweiflung zu kämpfen hatte. Fast gegen seinen Willen murmelte er: »Erzähl mir, was passiert ist.«

»Es war mir egal, ob ich lebte oder starb. In diesem Zustand vergeht dem Schicksal die Lust, einen umzubringen. Sie kümmerte sich drei Tage lang um mich – sie blieb die ganze Zeit bei mir. Ich hatte kein Geld. Deshalb helfe ich diesen Frauen nun, wo ich kann.«

Doch der alte Jolyon dachte: ›Kein Geld!‹ Welches Schicksal ließ sich denn damit vergleichen? Darin war doch jedes andere mit eingeschlossen.

»Wärst du doch zu mir gekommen«, sagte er. »Warum bist du denn nicht gekommen?« Doch Irene gab keine Antwort.

»Weil ich den Namen Forsyte trage, nicht? Oder hat June dich davon abgehalten? Wie kommst du jetzt zurecht?« Sein Blick wanderte unwillkürlich über ihren Körper. Vielleicht ging es ihr selbst jetzt noch … Und doch war sie nicht dünn – nicht wirklich!

»Ach, die fünfzig Pfund, die ich im Jahr verdiene, sind gerade genug.« Diese Antwort beruhigte ihn nicht. Seine Zuversicht war dahin. Und dieser Soames! Doch sein Gerechtigkeitssinn hinderte ihn daran, ihn zu verurteilen. Nein, sie wäre sicherlich eher gestorben, als auch nur noch einen Penny von ihm anzunehmen. So sanft sie auch aussehen mochte, es musste doch Stärke in ihr stecken – Stärke und Treue. Doch was dachte sich der junge Bosinney nur, einfach so überfahren zu werden und sie so mittellos zurückzulassen!

»Nun, wenn du jetzt irgendetwas brauchst, dann musst du zu mir kommen, sonst wäre ich wirklich enttäuscht.« Und er setzte seinen Zylinder auf und erhob sich. »Komm, lass uns einen Tee trinken. Ich habe dem Faulpelz angeordnet, die Pferde für eine Stunde unterzustellen und mich dann bei dir abzuholen. Lass uns gleich eine Droschke nehmen, ich bin nicht mehr so gut zu Fuß wie früher.«

Er genoss jenen Spaziergang ans Ende der Kensington Gardens – den Klang ihrer Stimme, ihren Blick, die subtile Schönheit einer bezaubernden Frau neben ihm. Er genoss den Tee bei Ruffel in der High Street und verließ das Café mit einer großen Schachtel Pralinen, die an seinem kleinen Finger baumelte.

Er genoss die Rückfahrt nach Chelsea in einer Droschke, während der er seine Zigarre rauchte. Sie hatte versprochen, ihn am nächsten Sonntag zu besuchen und wieder für ihn zu spielen, und in Gedanken pflückte er ihr bereits Nelken und erste Rosen, die sie mit in die Stadt nehmen könnte.

Es war ihm eine Freude, ihr eine kleine Freude zu machen, wenn ein Geschenk von einem alten Kerl wie ihm denn eine Freude war! Die Kutsche stand schon bereit, als sie ankamen. Das war natürlich typisch für diesen Kerl, der sonst immer zu spät war, wenn man ihn brauchte.

Der alte Jolyon ging noch kurz mit hinein, um sich zu verabschieden. In dem kleinen dunklen Eingangsbereich roch es unangenehm nach Patschuli, und auf einer Bank an der Wand – das einzige Möbelstück dort – sah er jemanden sitzen. Er hörte, wie Irene sanft sagte: »Einen Augenblick.«

Als sie in dem kleinen Empfangszimmer die Tür hinter sich geschlossen hatten, fragte er ernst: »Eine deiner Schützlinge?«

»Ja. Dank dir kann ich ihr jetzt helfen.«

Er stand da, starrte und strich sich über jenes Kinn, das seiner Zeit von so vielen gefürchtet worden war. Die Vorstellung, dass sie tatsächlich Kontakt mit dieser Ausgestoßenen hatte, betrübte und ängstigte ihn. Was konnte sie schon für sie tun? Nichts. Höchstens sich selbst beschmutzen und in Schwierigkeiten bringen. Und er sagte: »Pass auf dich auf, mein Liebes! Die Welt geht immer vom Schlechtesten aus.«

»Ich weiß.«

Ihr ruhiges Lächeln machte ihn verlegen. »Also dann – Sonntag«, murmelte er. »Mach’s gut.«

Sie streckte ihm ihre Wange für einen Kuss entgegen.

»Mach’s gut«, sagte er noch einmal. »Pass auf dich auf.« Und dann ging er hinaus, ohne zu der Gestalt auf der Bank zu schauen. Er fuhr über Hammersmith nach Hause, um bei einem Laden Halt zu ­machen, den er kannte, und anzuordnen, dass sie zwei Dutzend ihres besten Burgunders zu ihr schicken sollten. Sie brauchte doch ab und an eine kleine Aufmunterung! Erst als er schon im Richmond Park war, fiel ihm ein, dass er sich ja neue Stiefel hatte kaufen wollen, und er war überrascht, wie er auf eine so lächerliche Idee hatte kommen können.

In Fesseln

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