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III

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Die kleinen Geister der Vergangenheit, vor denen die Tage eines alten Menschen wimmeln, hatten ihre Gesichter nie zuvor so selten hoch zu seinem gedrängt wie in den siebzig Stunden bis zum Sonntag. Der Geist der Zukunft streckte ihm stattdessen mit dem Reiz des Unbekannten die Lippen entgegen. Der alte Jolyon war nun nicht mehr unruhig und ging auch nicht mehr zu dem Baumstamm, denn sie würde zum Mittagessen kommen. Ein Essen hat etwas wunderbar Endgültiges, es wischt eine Welt der Zweifel beiseite, denn niemand lässt ein Essen ausfallen, es sei denn aus Gründen, die außerhalb seiner Macht stehen. Er spielte viel mit Holly auf dem Rasen, warf ihr die Bälle zu, damit sie jetzt das Schlagen üben konnte, um dann in den Ferien Jollys Werfer sein zu können. Denn sie war zwar keine Forsyte, doch Jolly war einer – und Forsytes sind immer die Schlagmänner, bis sie mit fünfundachtzig von ihrem Posten zurücktreten.

Der Hund Balthasar war auch immer dabei und legte sich so oft wie möglich auf den Ball, und der Balljunge warf ihr die Bälle zurück, bis sein Gesicht aussah wie der Erntemond. Und weil die Zeit kürzer wurde, wurde jeder Tag länger und glücklicher als der Tag zuvor. Freitagabend nahm er eine Lebertablette, der Schmerz war recht stark, und es war zwar nicht die Seite, auf der die Leber war, aber es gab kein besseres Heilmittel.

Jeder, der ihm gesagt hätte, er habe etwas gefunden, das sein Leben wieder aufregender machte, und dass diese Aufregung nicht gut für ihn sei, der hätte einen jener festen und recht trotzigen ­Blicke seiner tiefliegenden stahlgrauen Augen abbekommen, die zu sagen schienen: ›Meine Angelegenheiten kann ich selbst ja wohl am besten regeln.‹ Das war immer so gewesen und das würde auch immer so sein.

Sonntagmorgen, als Holly mit ihrer Gouvernante in der Kirche war, stattete er den Erdbeerfeldern einen Besuch ab. Begleitet von dem Hund Balthasar untersuchte er die Pflanzen gründlich und konnte mindestens zwei Dutzend Beeren finden, die wirklich reif waren. Das Bücken war nicht gut für ihn, ihm wurde ganz schwindlig und sein Gesicht lief rot an. Nachdem er die Erdbeeren in einer Schüssel auf dem Esstisch platziert hatte, wusch er sich die Hände und benetzte seine Stirn mit Eau de Cologne. Als er so vor dem Spiegel stand, fiel ihm auf, dass er abgenommen hatte.

Was für eine ›Bohnenstange‹ er doch als junger Mann gewesen war! Es war schön, schlank zu sein – einen fetten Kerl fand er unmöglich. Und doch waren seine Wangen vielleicht zu schmal! Sie sollte mit dem Zug um halb eins kommen und über die Straße, die an Drages Hof vorbeiging, aus der anderen Richtung durch das Wäldchen nach oben laufen. Und nachdem er in Junes Zimmer gesehen hatte, um zu kontrollieren, ob heißes Wasser bereitstand, machte er sich auf den Weg, um ihr entgegenzulaufen, gemächlich, denn sein Herz pochte.

Die Luft roch süß, Lerchen sangen und man konnte die Tribüne von Epsom sehen. Ein perfekter Tag! Bestimmt war Soames an genau so einem Tag vor sechs Jahren mit Bosinney hierhergekommen, um das Grundstück anzuschauen, bevor sie anfingen, zu bauen. Bosinney war es gewesen, der den genauen Platz für das Haus gewählt hatte – das hatte June ihm oft erzählt.

In letzter Zeit dachte er viel an jenen jungen Kerl, als ob sein Geist tatsächlich am Ort seines letzten Werkes umherspuken würde ‒ in der Hoffnung, sie dort zu sehen. Bosinney – der einzige Mann, dem ihr Herz gehört hatte, dem sie sich voll und ganz leidenschaftlich hingegeben hatte! In seinem Alter konnte man sich so etwas natürlich nicht vorstellen, aber er verspürte einen seltsamen vagen Schmerz – als würde sich der Geist einer unpersönlichen Eifersucht in ihm bemerkbar machen – und ein hochherzigeres Gefühl des Mitleids, weil sie ihre Liebe so früh verloren hatte.

Nach ein paar Monaten war alles vorbei! Ja, ja! Er warf einen Blick auf seine Uhr, bevor er in das Wäldchen ging – erst viertel nach, noch fünfundzwanzig Minuten zu warten! Und dann, als er um die Kurve des Pfades bog, sah er sie genau da, wo er sie das erste Mal gesehen hatte, auf dem Baumstamm. Sie musste wohl mit dem Zug davor gekommen sein, um hier ein paar Stunden alleine zu sein. Zwei Stunden ihrer Gesellschaft, die ihm entgangen waren! Wegen welcher Erinnerung mochte ihr dieser Baumstamm wohl so viel bedeuten? Man sah ihm an, was er dachte, denn sie sagte gleich: »Verzeih mir, Onkel Jolyon, hier ist es mir das erste Mal bewusst geworden.«

»Ja, ja, du kannst jederzeit hierherkommen. Man sieht dir London ein wenig an, du gibst zu viele Unterrichtsstunden.«

Dass sie Unterricht geben musste, bereitete ihm Sorgen. Unterricht für einen Haufen junger Mädchen, die mit ihren dicken Fingern Tonleitern hämmerten.

»Wo gibst du denn Unterricht?«, fragte er.

»Meistens in jüdischen Familien, glücklicherweise.«

Der alte Jolyon sah sie erstaunt an. Juden erschienen allen Forsytes fremdartig und dubios.

»Sie lieben Musik und sind sehr freundlich.«

»Na, das will ich ja wohl hoffen!« Er hakte sich bei ihr ein – bergauf spürte er immer etwas diesen Schmerz in der Seite – und sagte: »Hast du je etwas wie diese Butterblumen gesehen? Die sind über Nacht so gewachsen.«

Ihre Augen schienen tatsächlich über das Feld zu fliegen wie Bienen auf der Suche nach Blumen und Honig. »Ich wollte, dass du sie siehst – hab ihnen gesagt, sie sollen die Kühe noch nicht rauslassen.« Dann fiel ihm ein, dass sie gekommen war, um über Bosinney zu sprechen, und er zeigte auf den Glockenturm über den Ställen: »Ich schätze, den hätte er mich da nicht hinmachen lassen – hatte kein Zeitgefühl, wenn ich mich richtig erinnere.«

Doch sie drückte seinen Arm an sich und redete stattdessen über Blumen, und er wusste, dass sie das tat, damit er nicht das Gefühl hatte, sie sei wegen ihres toten Geliebten hier.

»Die schönste Blume, die ich dir zeigen kann«, sagte er, und dabei schwang ein wenig Triumph mit, »ist meine liebe Kleine. Sie wird gleich von der Kirche zurück sein. Sie hat etwas an sich, das mich ein wenig an dich erinnert.« Und es erschien ihm nicht merkwürdig, dass er es so herum formuliert hatte, anstatt zu sagen: »Du hast etwas an dir, das mich ein wenig an sie erinnert.« Ah! Da war sie auch schon!

Holly kam von der Eiche her auf sie zugerannt, dicht gefolgt von ihrer ältlichen französischen Gouvernante, deren Verdauungssystem vor zweiundzwanzig Jahren während der Belagerung Straßburgs ruiniert worden war. Etwa zehn Meter vor ihnen blieb Holly stehen, um Balthasar zu streicheln und so zu tun, als hätte sie nichts weiter im Sinn. Der alte Jolyon durchschaute sie und sagte: »Nun, mein Schatz, hier ist die Dame in Grau, wie ich es dir versprochen hatte.«

Holly richtete sich auf und sah nach oben. Er beobachtete die beiden mit einem Zwinkern. Irene lächelte und Holly, die ihr zunächst einen ernsten, prüfenden Blick zuwarf, lächelte schließlich auch, erst schüchtern, dann mit mehr Tiefe. Sie hatte einen Sinn für Schönheit, die Kleine – erkannte, was sie vor sich hatte! Es machte ihm Freude, zu sehen, wie sich die beiden einen Kuss gaben.

»Mrs Heron, Mamsell Beauce. Und, Mamsell – war die Predigt gut?«

Denn nun, wo ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wurde all sein noch übriges Interesse für die Kirche einzig von jenem Teil des Gottesdienstes beansprucht, der mit dieser Welt zusammenhing. Mamsell Beauce streckte eine spinnenartige Hand in einem schwarzen Ziegenlederhandschuh aus – sie war in den besten Familien gewesen – und die recht traurigen Augen in ihrem hageren gelblichen Gesicht schienen zu fragen: »Sind Sie wohlerzogään?« Wann immer Holly oder Jolly etwas taten, das ihr nicht gefiel – was nicht selten vorkam ‒, sagte sie zu ihnen: »Die Tayleur-Kinder haben das nie gemacht ‒ sie waren ja so wohlerzogenää Kinderchen.« Jolly hasste die Tayleur-Kinder, Holly fragte sich verzweifelt, warum sie nur so gegen sie abfiel. ›Ein dünnes, kauziges Ding‹, dachte der alte Jolyon über sie, Mamsell Beauce.

Das Mittagessen war eine gelungene Mahlzeit. Die Pilze, die er selbst im Pilzgewächshaus ausgesucht hatte, die Erdbeeren, die er gepflückt hatte, und eine weitere Flasche des Steinberger Kabinetts erfüllten ihn mit einer gewissen aromatischen Spiritualität und dem Gefühl, dass er morgen ein leichtes Ekzem haben würde.

Nach dem Mittagessen nahmen sie unter der Eiche Platz, um türkischen Kaffee zu trinken. Er war nicht traurig, als Mamsell Beauce sich zurückzog, um ihren Sonntagsbrief an ihre Schwester zu schreiben, deren zukünftige Existenz in der Vergangenheit durch das Verschlucken einer Nadel in Gefahr gewesen war – eine Geschichte, die den Kindern täglich als warnendes Beispiel vorgehalten wurde, damit sie langsam äßen und das Gegessene verdauten. Am Fuße der Böschung neckten Holly und der Hund Balthasar sich liebevoll auf einer Kutschendecke, und im Schatten rauchte der alte Jolyon genussvoll mit überschlagenen Beinen seine Zigarre und betrachtete Irene, die auf der Schaukel saß. Eine graziöse, sanft hin und her wiegende graue Gestalt, hie und da von Sonnenlicht beschienen, die Lippen leicht geöffnet, die Augen dunkel und sanft unter leicht gesenkten Lidern. Sie sah zufrieden aus. Bestimmt tat es ihr gut, ihn hier zu besuchen! Die Altersselbstsucht hatte ihn noch nicht wirklich gepackt, denn er konnte sich noch immer an der Freude anderer erfreuen, weil ihm bewusst war, dass seine eigenen Wünsche zwar wichtig, aber nicht alles waren.

»Es ist ruhig hier«, sagte er. »Du musst nicht herkommen, wenn du es langweilig findest. Aber es ist eine Freude, dich zu sehen. Das Gesicht meiner lieben Kleinen ist das einzige, das mir Freude macht, neben deinem.«

Ihr Lächeln sagte ihm, dass sie sich durchaus noch über Anerkennung freute, und das beruhigte ihn. »Das ist nicht nur leeres Geschwätz«, sagte er. »Ich habe einer Frau nie gesagt, dass ich sie bewundere, wenn es nicht auch so war. Um genau zu sein, weiß ich nicht, wann ich überhaupt einer Frau gesagt habe, dass ich sie bewundere, außer früher meiner Frau. Und Ehefrauen sind seltsam.« Er schwieg, fuhr dann jedoch abrupt wieder fort:

»Sie hat immer von mir erwartet, dass ich es öfter sagte, als ich es fühlte, das war das Problem.« Ihr Gesicht sah auf rätselhafte Weise sorgenvoll aus, und beunruhigt, dass er etwas Schmerzliches gesagt haben könnte, redete er schnell weiter: »Wenn meine liebe Kleine heiratet, hoffe ich, dass sie jemanden findet, der weiß, was Frauen fühlen. Ich werde nicht mehr hier sein, um es zu sehen, aber die Ehe beinhaltet zu viel Durcheinander. Ich will nicht, dass sie dagegen ankämpfen muss.« Und weil ihm bewusst war, dass er es nur noch schlimmer gemacht hatte, fügte er hinzu: »Der Hund muss sich aber auch die ganze Zeit kratzen.«

Es folgte Schweigen. Woran dachte sie, dieses schöne Wesen, dessen Leben ruiniert war, das fertig war mit der Liebe, und das doch für die Liebe gemacht war? Eines Tages, wenn er tot war, würde sie vielleicht einen neuen Partner finden – einen, der nicht so ein Chaot war wie dieser junge Kerl, der sich überfahren hatte lassen. Ach, aber was war mit ihrem Ehemann?

»Macht Soames dir nie Probleme?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich verschloss sich ihr Gesicht. Bei all ihrer Sanftheit hatte sie doch auch etwas Unversöhnliches an sich. Und für einen kurzen Moment wurde einem Gehirn, dessen Denkweise der frühen viktorianischen Zivilisation entstammte ‒ so viel älter als die seines hohen Alters ‒ und folglich noch nie über solch primitive Dinge nachgedacht hatte, Einblick gewährt in die unerbittliche Natur sexueller Antipathie.

»Das ist beruhigend«, sagte er. »Heute kann man die Tribüne sehen. Wollen wir eine Runde gehen?«

Er führte sie durch den Blumen- und den Obstgarten, an dessen hohen Außenmauern der Sonne zugewandt Pfirsichbäume und Nektarinen gepflanzt worden waren, durch die Ställe, das Gewächshaus für Weinreben, das Gewächshaus für Pilze, die Spargelbeete, den Rosengarten, das Gartenhaus – sogar zum Gemüsegarten, um die kleinen grünen Erbsen anzusehen, die Holly so gerne mit ihren Fingern aus den Hülsen pulte und aus ihren kleinen braunen Händen aß.

Er zeigte ihr viele schöne Dinge, während Holly und der Hund Balthasar vorneweg hüpften und nur hin und wieder zu ihnen kamen, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Es war einer der glücklichsten Nachmittage, die er je erlebt hatte, doch er machte ihn müde, und er war froh, sich im Musikzimmer setzen zu können und sich von ihr Tee einschenken zu lassen.

Eine besondere kleine Freundin von Holly war vorbeigekommen – ein blondes Mädchen mit Haaren so kurz wie die eines Jungen. Die beiden tollten in der Ferne herum, unter der Treppe, auf der Treppe, oben in der Galerie. Der alte Jolyon bat sie, etwas von Chopin zu spielen. Sie spielte Etüden, Mazurkas, Walzer, bis die beiden Kinder herbeigeschlichen kamen und am Klavierende standen, wo sie lauschten, den dunklen und den goldenen Schopf nach vorne gebeugt.

Der alte Jolyon beobachtete die Szene.

»Tanzt doch mal für uns, ihr zwei!«

Schüchtern und mit einem falschen Schritt fingen sie an.

Hopsend und kreisend tanzten sie mit ernstem Ausdruck und nicht sehr geschickt zu der Melodie des Walzers immer wieder an seinem Stuhl vorbei.

Er beobachtete die beiden und das Gesicht von Irene, die sich mit einem Lächeln zu den kleinen Tänzern umdrehte, und dachte: ›So ein süßes Bild habe ich schon lange nicht mehr gesehen.‹

Eine Stimme war zu hören: »Hollee! Mais enfin – qu’est-ce que tu fais la – danser, le dimanche! Viens, donc!«

Doch die Kinder kamen zum alten Jolyon, denn sie wussten, dass er ihnen helfen würde, und sie blickten in ein Gesicht, das eindeutig nach ›ertappt‹ aussah.

»Je besser der Tag, desto besser die Tat, Mamsell. Das geht alles auf meine Kappe. Ab mit euch, ihr Küken, trinkt euren Tee!«

Und als sie weg waren und mit ihnen der Hund Balthasar, der keine Mahlzeit ausließ, sah er Irene mit einem Zwinkern an und sagte: »Na, sind sie nicht süß? Sind unter deinen Schülern auch ein paar kleine?«

»Ja, drei – zwei davon sind echte Engel.«

»Sind sie niedlich?«

»Allerliebst!«

Der alte Jolyon seufzte. Er konnte einfach nie genug kriegen von den ganz Jungen. »Meine liebe Kleine«, sagte er, »liebt Musik. Sie wird mal eine Musikerin werden. Du möchtest mir nicht deine Meinung sagen, wie sie spielt, oder?«

»Doch, natürlich.«

»Du würdest ihr nicht …« Doch er verkniff sich die Worte: »Unterricht geben wollen, oder?« Der Gedanke, dass sie Unterricht gab, gefiel ihm nicht. Und doch würde es bedeuten, dass er sie regelmäßig sehen könnte. Sie verließ ihren Platz am Klavier und kam hinüber zu seinem Stuhl.

»Das würde ich sehr gerne, die Sache ist nur – June. Wann kommen sie denn zurück?«

Der alte Jolyon runzelte die Stirn. »Nicht vor Ende des nächsten Monats. Was spielt das für eine Rolle?«

»Du hast gesagt, June hat mir verziehen. Aber sie wird das nie vergessen können, Onkel Jolyon.«

Vergessen! Sie musste es vergessen, wenn er das wollte.

Doch wie als Antwort darauf schüttelte Irene den Kopf. »Du weißt, dass sie das nicht kann. Man vergisst nicht.«

Immer diese verdammte Vergangenheit! Und mit einer Art verärgerter Endgültigkeit sagte er:

»Na ja, das werden wir ja sehen.«

Er unterhielt sich noch mindestens eine Stunde mit ihr ‒ über die Kinder und über zig verschiedene Kleinigkeiten, bis die Kutsche da war, um sie nach Hause zu bringen. Und als sie weg war, ging er zurück zu seinem Stuhl und saß da und strich sich mit der Hand über sein Gesicht und sein Kinn und durchlebte in Gedanken noch einmal diesen Tag.

An jenem Abend ging er nach dem Essen in sein Arbeitszimmer und nahm ein Blatt Papier heraus. Für ein paar Minuten saß er da, ohne etwas zu schreiben. Dann stand er auf und stellte sich vor das Meisterwerk Holländische Fischerboote bei Sonnenuntergang. Er dachte nicht über jenes Bild nach, sondern über sein Leben. Er wollte ihr etwas in seinem Testament hinterlassen; nichts anderes hätte so sehr die stillen Tiefen seiner Gedanken und Erinnerungen aufwühlen können.

Er wollte ihr einen Anteil an seinem Vermögen hinterlassen, einen Teil seiner Bestrebungen, seiner Taten und Fähigkeiten, seiner Arbeit – all dessen, was zu seinem Reichtum geführt hatte. Er wollte ihr auch einen Teil all dessen hinterlassen, was er im Leben durch sein vernünftiges und stetiges Streben nach Reichtum verpasst hatte. All die Dinge! Was hatte er verpasst? Holländische Fischerboote bei Sonnenuntergang konnte ihm darauf keine Antwort geben. Er ging hinüber zur Fenstertür, zog den Vorhang zu Seite und öffnete sie.

Ein Wind war aufgekommen und eines der Eichenblätter vom Vorjahr, das es irgendwie geschafft hatte, dem Rechen des Gärtners zu entwischen, flog mit einem leise knackenden Rascheln im Halbdunkel über die Steinterrasse. Ansonsten war es sehr still dort draußen und er konnte das Heliotrop riechen, das vor Kurzem gegossen worden war. Eine Fledermaus flog vorbei. Ein Vogel zwitscherte seinen letzten Piepser. Und direkt über der Eiche schien der erste Stern. In der Oper hatte Faust seine Seele gegen ein paar zusätzliche Jahre der Jugend eingetauscht. Ein morbider Gedanke! So ein Geschäft war nicht möglich, das war die wahre Tragödie! Man konnte sich nicht wieder jung machen für die Liebe oder das Leben oder irgendetwas anderes.

Es blieb einem nichts übrig, als Schönheit aus der Ferne zu genießen, solange man es noch konnte, und ihr etwas im Testament zu hinterlassen. Doch wie viel? Und als könne er dies nicht entscheiden, während er in die milde Freiheit der Nacht auf dem Land hinausblickte, wandte er sich ab und ging zum Kamin. Dort standen seine geliebten Bronzefiguren – eine Kleopatra mit der Uräusschlange an der Brust, ein Sokrates, eine Windhündin, die mit ihrem Jungen spielte, ein starker Mann, der ein paar Pferde an den Zügeln hielt. ›Die überdauern!‹, dachte er, und ein Schmerz durchfuhr sein Herz. Die hatten noch Tausende von Jahren vor sich!

Wie viel? Nun, auf alle Fälle so viel, dass sie nicht frühzeitig altern musste, dass die Falten sich so spät wie möglich in ihrem Gesicht abzeichneten und das Grau so spät wie möglich ihr helles Haar verdarb. Er würde vielleicht noch fünf Jahre leben. Dann wäre sie gut dreißig. Wie viel? In ihr floss nicht sein Blut! Getreu dem Tenor seines Lebens, der ihn seit mehr als vierzig Jahren leitete, seit er geheiratet und jenes rätselhafte Gebilde gegründet hatte, eine Familie, kam ihm dieser warnende Gedanke: nicht sein Blut, keinen Anspruch auf irgendetwas!

Es war also reiner Luxus, diese Idee. Eine Extravaganz, ein Nachgeben gegenüber den Capricen eines alten Mannes, eines dieser Dinge, die man macht, wenn man senil ist. Seine wahre Zukunft ruhte in jenen, die sein Blut hatten, in denen er nach seinem Tod weiterleben würde. Er wandte sich von den Bronzefiguren ab und betrachtete den alten Ledersessel, in dem er so oft gesessen und Hunderte von Zigarren geraucht hatte. Und plötzlich schien es ihm, als würde er sie dort sitzen sehen in ihrem grauen Kleid, duftend, sanft, mit dunklen Augen, anmutig, zu ihm aufschauend.

Ach was, er bedeutete ihr nichts, wirklich nicht! Ihr bedeutete nur ihr verlorener Geliebter etwas. Aber ob sie es nun wollte oder nicht, sie war da und bereitete ihm Freude mit ihrer Schönheit und ihrer Anmut.

Niemand hatte das Recht, ihr die Gesellschaft eines alten Mannes zuzumuten oder sie zu bitten, hierherzukommen, damit sie für ihn spielte und er sie betrachten konnte – ohne Gegenleistung! Man musste in dieser Welt für Freude zahlen. Wie viel? Es war schließlich reichlich da, sein Sohn und seine drei Enkelkinder würden das kleine Bisschen niemals vermissen. Er hatte alles selbst verdient, fast jeden Penny davon. Er konnte es hinterlassen, wem er wollte, konnte sich diese kleine Freude gönnen. Er ging zurück zum Schreibtisch. ›Ach‹, dachte er, ›sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich werde es tun!‹ Und er setzte sich.

Wie viel? Zehntausend, zwanzigtausend – wie viel? Wenn er sich doch nur mit seinem Geld ein Jahr Jugend erkaufen könnte, einen Monat! Und erschrocken über diesen Gedanken schrieb er schnell:

»Lieber Herr Herring – formulieren Sie mir zu Folgendem einen Testamentsnachtrag: ›Ich hinterlasse meiner Nichte Irene Forsyte, geborene Heron ‒ der Mädchenname, unter dem sie jetzt lebt ‒ fünfzehntausend Pfund, frei von Erbschaftssteuer.‹

Mit freundlichen Grüßen,

Jolyon Forsyte.«

Als er den Umschlag versiegelt und abgestempelt hatte, ging er zurück ans Fenster und atmete tief ein. Es war dunkel, doch nun schienen viele Sterne.

In Fesseln

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