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ОглавлениеAnmerkungen zur »Psychophysiologie«
(Dr. Martin Pöttner)
Die Vorlesung von John Martin Littlejohn zum Thema »Psychologie oder Psychophysiologie« führte das Thema Psychologie in die medizinische Ausbildung der American School of Osteopathy ein. Dies geschah 1899 mit Andrew Taylor Stills Zustimmung. Die grundlegend »ganzheitliche« Auffassung der Osteopathie erforderte dringend eine Auseinandersetzung mit diesem Thema, damit die Studierenden für ihre Praxis hinreichend vorbereitet waren. Es musste ja klar werden, wie bestimmte Still’sche Standpunkte, etwa die medikamentenfreie Medizin und die Interaktion von Körper, Seele (Geist) und Verstand, wissenschaftlich und philosophisch zu begründen sind – was ja auch Stills geäußerte Absicht war. Littlejohn versucht entsprechend in seiner Vorlesung darzulegen, warum der osteopathische Ansatz im allgemeinen Kontext des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens sinnvoll ist. Dazu gehört eine gründliche anatomische, physiologische, psychologische und ansatzweise metaphysisch-philosophische Auslegung des Verhältnisses von Körper und Geist. Dieses Verhältnis ist für das eigentliche medizinische Problem, nämlich den Gegensatz von Krankheit und Gesundheit, ausschlaggebend.
»Genau das macht die Psychologie im medizinischen Bereich so wertvoll. In der Vergangenheit haben Physiologie und Medizin unterstellt, der Körper sei etwas ganz Anderes als der Geist. Und auch die Psychologie vertrat diese Anschauung. Moderne Psychologie und Physiologie betrachten den Menschen dagegen als Einheit von Geist und Körper. Der Körper gilt als Instrument und Medium der mentalen Offenbarung1, sodass eine der Grundbedingungen für Gesundheit in einem Geist und einem Bewusstsein besteht, die den Körperzustand bestimmen. Der Körper ist zwar eine Maschine, jedoch keine die, einmal aufgezogen, über Jahre hinweg gänzlich unter äußerem Einfluss funktionieren kann. Seine Formung und Gestaltung geschehen vielmehr von innen. Mentale Funktion ist die Basis jeder physischen Funktion. Hinter den physischen Vorgängen Verdauung, Atmung und Blutkreislauf gibt es einen mentalen Zustand, der den Körperzustand bestimmt. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Zivilisation Krankheit und Körperschwäche Vorschub leistet, weil mit ihr eine mentale Erregung einhergeht, die der körperlichen Gesundheit nicht förderlich ist. Sie bringt eine stärkere mentale Anstrengung und einen größeren Selbstbehauptungskampf mit sich, die dazu führen, dass die normale Entwicklung von Geist und Körper vernachlässigt wird. Daraus resultieren zahllose gestörte Zustände und Krankheiten. Wir stimmen nicht den Ruf an: Zurück zum Leben der Wilden! Doch wir sagen: Zurück zu dem Zustand, der eine niedrigere Ebene repräsentiert – nämlich: die Abwesenheit mental störender Zustände, die körperliche Wracks erzeugen, neuronale Verwirrung verstärken und Krankheit oder Tod bewirken. Indem wir das osteopathische Prinzip anerkennen, dass Medikamente unnatürlich und alle Heilmittel der Natur im menschlichen System gespeichert sind, haben wir das psychische Gesetz der Vorherrschaft des Geistes. Und will man es zum Beseitigen jener krankhaften Zustände anwenden, muss im Innern begonnen werden. Die Anpassung muss durch den Geist geschehen und der mentale Zustand muss zunächst an die Körperzustände vollkommener Gesundheit angepasst werden. Da gibt es nur ein Rezept: Pflege und ständige Aufrechterhaltung des mentalen Gleichgewichts.«
Damit formuliert Littlejohn nicht nur den Kontext seiner Vorlesung genau, sondern auch eine bestimmte Interpretation des osteopathischen Programms. Er nimmt bestimmte Metaphern und Visionen Stills auf und formuliert sie im Kontext der zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Debatte gedanklich kontrolliert. Der praktische Ansatz der Medizin muss »innen« geschehen, es geht um die relative Stabilisierung eines mentalen Gleichgewichtes – und dies besagt, die osteopathische »Anpassung« beginnt beim Geist, beim »mentalen Zustand«, worin dann auch die Verantwortung und Eigeninitiative der Patient/inn/en liegt. Aus der Vorlesung wird daher ganz deutlich, dass Littlejohn eine psychophysiologische Fundierung der Osteopathie anstrebt. Littlejohn sieht wie die späteren Vertreter der Psychosomatischen Medizin keinen empirischen oder haltbaren gedanklichen Grund, die Fragen des Geistes, der Psyche, des Lebenskontextes aus der Medizin auszuklammern. Dazu bedarf es aber genauer und subtiler Kenntnisse und nicht zuletzt auch der Beherrschung der Kunst des Argumentierens – wovon der Text zeugt.
Die recht dichte und anspruchsvolle Vorlesung steht im Kontext der zeitgenössischen Debatte. Kirksville ist in ihr durchaus zum »Athen der Osteopathie« (Still) geworden. Der grundlegende Ansatz der Vorlesung besteht in einer Kombination der Wissenschaften der Physiologie und Psychologie – vor einem durchscheinenden philosophischen Hintergrund. Dieser ist durch die deutsche Philosophie inspiriert, freilich wie sie im angelsächsischen Horizont verstanden wurde. Hinzu kommt aber der nordamerikanische Kontext, der ganz klar präsent ist – nicht zuletzt im Bezug auf Coleridge und Emerson. Wer bislang im Zweifel war über den kulturgeschichtlichen Hintergrund, vor dem die Osteopathie entstanden ist, wird von Littlejohn hier ansprechend eingeführt. Schon aus diesem Grund ist sein Text ein zeitgeschichtlich aufschlussreiches Dokument. Der Bezug zur deutschen Philosophie ist über die Auswanderung nicht zuletzt seit der Vormärzphase vermittelt und der Kontext ist dann der Amerikanische Transzendentalismus, der sich u. a. um Ralph Waldo Emerson gruppiert. Ebenso wird der Kontext der evolutionären Philosophie erwähnt, die in den Vereinigten Staaten insbesondere durch die Rezeption Herbert Spencers2 erfolgte. Diese Gedanken werden von Littlejohn als allgemeiner Hintergrund verwendet, um das Hauptproblem der Vorlesung anzugehen, nämlich das Verhältnis von Geist und Körper zu klären. Dies tut er gründlich und geht entsprechend ausführlich auf alle wesentlichen Probleme der Sinneswahrnehmung, der Erkenntnis, der Sittlichkeit, der Empfindungs- bzw. Gefühlstheorie ein. Schon damals konnte eine solche Überlegung physiologisch nicht anders als in einer ausgeführten Theorie des Vegetativen und Zentralen Nervensystems geschehen, die als Medien zwischen Außenwelt, Körper, Psyche und Geist fungieren. Psychologisch schließt sich Littlejohn insbesondere an die deutsche psychologisch argumentierende Philosophie von Lotze und Wundt an – es geht in der Psychologie um das genaue Verständnis des Bewusstseins. Und schon damals stand die Frage im Vordergrund, ob eine hinreichende komplexe physiologische Theorie der verschiedenen Aspekte des Nervensystems nicht die Psychologie ersetzen könne. Littlejohns sehr ausführlich begründete Antwort hierzu lautet: Nein! Alle osteopathischen Versuche der »Anpassung« wären im Sinne Littlejohns gegenstandslos, wenn die Antwort »Ja« lauten würde, denn dann gäbe es keine »Heilmittel« »innen« – eben jene Anpassung der mentalen Zustände, die »hinter« jedem körperlichen Zustand stehen.
Littlejohn verteidigt in seiner Vorlesung das Erbe der humanen europäischen und nordamerikanischen Aufklärung und Romantik. Dies muss aber unter den Bedingungen der entwickelten »exakten« Wissenschaften geschehen. Durch beide Elemente ist Littlejohns Vorlesung geprägt. Gegenüber der vereinfachenden Tendenz der Wissenschaften, alle Sachverhalte möglichst zu atomisieren und zu isolieren, weist er daraufhin, dass sowohl die Tatsachen des Bewusstseins als auch diejenigen der verschiedenen Aspekte des Nervensystems zwar einzeln analysiert werden können, ihre volle Erkenntnis wird aber nur dadurch möglich, dass ihr Zusammenhang jeweils synthetisch erfasst wird. Dabei legt Littlejohn Wert darauf nachzuweisen, dass die einzelnen Elemente von sich aus auf diesen Zusammenhang angewiesen sind. Dies versucht er in aller Ruhe an den durch äußere Stimuli der »Organe am Ende der Nervenbahn« (terminal organs) erregten »Sinnesempfindungen« (sensations) nachzuweisen. Diese besitzen zwar eine gewisse physiologisch erzeugte Tendenz zur raumzeitlichen Vereinheitlichung, aber diese ist tatsächlich nur durch eine psychische Interpretation möglich, sodass die Orientierung des einzelnen Menschen im Blick auf die eigene Situation in der Wirklichkeit letztlich »psychisch« bestimmt wird. Sowohl die physiologischen als auch die psychischen Aspekte sind also stets aufeinander und wechselseitig bezogen – und darauf beruht die Möglichkeit einer wissenschaftlich gerechtfertigten »ganzheitlichen« Osteopathie.
Littlejohns Ansatz ist hierbei optimistisch. Weil es keine unter ernsthaften Bedingungen kontrollierbaren Theorien des Unbewussten geben kann, da diese Theorien nur in bewusstem Zustand entwickelt werden können, setzt er auf die Verbesserung des bewussten Zustandes im Sinne der durchdachten und willensbestimmten Selbstkontrolle. Die irritierenden Phänomene demgegenüber schreibt er nicht dem Unbewussten zu (dass uns ja nur in hypothetischen Theorien erschlossen sein kann), sondern den Affektionen und insbesondere den Leidenschaften. Sofern vor allem letztere auf Dauer gestellt sind, haben sie eine Verwirrung des Geistes zur Folge, die schließlich auch körperlich wirksam wird. Mit Wundt u. a. hält er daher auch eine kritische Rekonstruktion der alten Temperamententheorie für möglich, in der es um sanguinische, cholerische, phlegmatische und melancholische Stimmungen geht, die das gesamte psychische und körperliche Leben prägen.
Den Leser/innen liegt ein Werk vor, das sowohl zu seiner Zeit als auch heute Anregungen zu geben vermag. Der Originaltext ist weitestgehend sicher, obgleich eine Reihe von Druckfehlern vorliegen, die aber nicht ins Gewicht fallen. Wer mit den neueren anatomischen und physiologischen Auffassungen vertraut ist, wird sehen, dass die Geschichte weitergegangen ist und z. T. auch Fortschritte erzielt worden sind. Das ist insbesondere bei der Erfassung der elementaren Prozesse im Gehirn der Fall. Doch man wird gewiss fair sein: Die neuere »naturwissenschaftliche« Sicht der Sachverhalte ist zwar im Detail genauer, in der Gesamtsicht aber zweifellos nicht. Viele Probleme sind seit über 100 Jahren schlicht gleich geblieben.
Zur Terminologie »Nerv(en)«
Häufig stand im Originaltext lediglich nerve(s), obgleich es sich im Kontext um definierte Bestandteile einer Nervenzelle handelt. Bei der Übersetzung und dem anschließenden Lektorat wurde darauf geachtet, hier eine klare Unterscheidung zu treffen, um auch histologisch nicht so versierten Behandlern ein besseres Verständnis des ohnehin schon äußerst komplexen Textes zu ermöglichen. Folgende Terminologie wurde festgelegt:
Nervenelemente = Zellkörper, Axon und/oder Dendriten
Nervenausläufer = Axone oder Dendriten
Nervenzellen = Gesamtheit aus Zellkörper, Axon und Dendriten
Nervenfaser = Bündel einzelner Axonen
Nervenbahn = Bündel einzelner Nervenfasern
Nervensystem = Vegetatives und/oder Zentrales Nervensystem (kontextbezogen)
»Es liegt eine ganz eigene Heiligkeit in der Wissenschaft und Kunst der Heilung. Sie müssen sich den erschütterndsten Szenen stellen, die Sterbliche jemals zu sehen bekommen, und das große Vertrauen empfangen, das Menschen geben können.
Können Sie sagen, woher das Leben kommt, wohin es geht und welchem Zweck es dient? Wenn Sie Ihre Hände auf einen Kranken legen, dann tun Sie das so ehrfürchtig, als würden Sie den Urmechanismus von Erde und Himmel berühren, den Körper des Menschen, die vollkommenste Verkörperung göttlicher Weisheit.«
John Martin Littlejohn3