Читать книгу Psychophysiologie (1899) - John M Littlejohn - Страница 8
Einleitung
ОглавлениеDass wir heute zum ersten Mal in unserer Institution mit einem Kurs über Psychologie beginnen, markiert einen bedeutenden Aufbruch im Studienplan medizinischer Schulen. Obgleich man sich nur in sehr wenigen medizinischen Ausbildungsstätten hierzulande oder anderswo mit diesem Lehrfach befasst, handelt es sich um ein äußerst wichtiges Wissensgebiet. Seine Einführung steht für die Anerkennung der Einheit des Menschen als dreifach differenziertes Wesen aus Körper, Seele und Geist4. Wenn die Medizin – ich benutze diesen Begriff in jenem weiten Sinn, wie er in den Anfängen der Physiologie festgelegt wurde – es als ihre Aufgabe sieht, Gesundheit und Leben des Menschen zu bewahren und krankhafte Zustände zu heilen, die sein Leben und seine Gesundheit zu zerstören drohen, dann muss sie begreifen, dass die Materia medica der medizinischen Wissenschaft nicht nur auf die rein körperlichen und materiellen Elemente des Lebens anzuwenden ist, sondern auch auf jenen anderen, nicht weniger bedeutenden Teil des menschlichen Systems: das psychische Wesen. Aus der Erkenntnis heraus, dass die Osteopathie eine ebenso vollkommene wie exakte Wissenschaft sein will, führen wir in unseren Lehrplan nun auch das Studium des Geistes, der mentalen Zustände, Vorgänge und Phänomene ein, weil diese eine erhebliche Auswirkung auf Gesundheit und Lebensfreude haben.
Die moderne Psychologie wurde hauptsächlich in Großbritannien, Deutschland und den Vereinigten Staaten entwickelt. Diese Entwicklung verlief auf drei Linien:
– auf der empirischen Linie, die sich auf die sogenannte Erfahrung stützt,
– auf der vorwiegend in Deutschland verfolgten spekulativen Linie, deren Ursprung in der Philosophie Kants liegt, der die Vernunft zum zentralen Element der Psychologie erklärte und dessen Vernunftkonzept sein Zentrum im dem von der Vernunft gesetzten kategorischen Imperativ hat – der Basis aller intellektuellen und moralischen Entwicklung,
– auf der die neue Bewegung in der Psychologie repräsentierenden wissenschaftlichen Linie, die ihren ersten und hauptsächlichen Anstoß von der Schule der Evolutionsphilosophie erhielt.
Die englische Psychologie bestand zumeist in einer analytischen Betrachtung des Bewusstseins, wie dessen Phänomene sich in der Erfahrung zeigen. Dagegen war die deutsche Psychologie vor Herbart hauptsächlich eine Analyse spekulativer Zustände, verbunden mit einer semimythischen Vernunft. Sie gipfelte im Hegelianismus, dem Höhepunkt der Spekulation. Kant erörterte die Fähigkeit zur Vernunft in Bezug auf Erkenntnisse, die von Erfahrung unabhängig sind. Hegel zufolge ist das Selbst-Bewusstsein die ideale Einheit, auf die bezogen die gesamte Welt erklärt werden muss, wobei Gedanken wie Dinge Teile eines Ganzen sind und Stufen in einem Prozess repräsentieren. Tatsächlich ist das Denken selbst dieser Prozess.
Herbart, dessen Werk jeder Wissenschaftler kannte, löste eine Revolution im deutschen Denken aus, weil er die Spekulation beiseite ließ und das erfahrungsbezogene Denken einführte. Damit legte er in der wissenschaftlichen Schule das Fundament für die Vereinigung des englischen und des deutschen Denkens. Er repräsentierte den Geist der erfahrungsbezogenen Forschung, der die deutsche Philosophie in diesem Jahrhundert belebt hat. Dabei versuchte er selbst, eine Geistespsychologie aufzubauen, die auf mechanischen und statischen Betrachtungsweisen beruhte. Deshalb gebührt Deutschland die Ehre, den Geist erstmals aus einer wahrhaft experimentellen Sicht betrachtet zu haben.
In Amerika wurde die Psychologie bis in die jüngste Zeit durch zwei Strömungen des Denkens bestimmt: die theologische und die bildungsbezogene.
Nachdem der Kampf um Selbstbestimmung schließlich zur politischen Unabhängigkeit Amerikas geführt hatte, begann sich die Philosophie zu behaupten, war jedoch mit der Theologie vermählt. John Edwards Idee vom freien Willen bestimmte lange Zeit die Psychologie ebenso wie die Theologie. Zunächst war der pädagogische Einfluss ganz einfach eine Hilfe für die Theologie, hauptsächlich wegen der konfessionellen Arbeit in der Erziehung, vor allem im puritanischen Konzept der engen Beziehung von Kirche und Schule. Dass die Philosophie, die diese Zustände erzeugte, sehr der schottischen Schule des Realismus ähnelte, war auf den religiösen Einfluss und vor allem auf die herausragende Position des Princeton College zurückzuführen, das immerhin zwei seiner Präsidenten, Witherspoon und McCosh, aus Schottland berief. Die von Reid und Hamilton in Schottland gelehrte realistische Philosophie basierte auf dem Beobachten der Zustände des Bewusstseins. Durch die aposteriorische, also verfahrende Methode, werden apriorische Prinzipien entdeckt, wobei Beobachtung den Bereich des Bewusstseins ebenso einnimmt wie den der Sinneswahrnehmung und die Tatsachen der Erfahrung in beiden Bereichen koordiniert. Der Realismus, wie er in Amerika übernommen wurde, führte zur Anerkennung der mentalen Realität und baute das Bewusstsein auf, indem er den Geist mit einer realistischen Konzeption versah, die dem Bewusstsein einen Stellenwert verschaffte, der fast dem einer Gottheit gleichkam. Dies führte zu Hamiltons Idee des Absoluten als dem Unbekannten und dem Unerkennbaren. Die deutsche Philosophie nahm dann hauptsächlich durch die Schriften von Coleridge und Emerson ihren Weg nach Amerika. Im Religiösen legte Channing, im Philosophischen aber Emerson das Fundament mentaler Aktivität tief im Bewusstsein. »Der Geist ist die einzige Realität, die der Mensch und andere Wesen besser oder schlechter reflektieren.«5 Die Welt wird in das Bewusstsein übertragen, denn »Natur, Literatur, Geschichte sind ausschließlich subjektive Phänomene«. Alle Dinge werden im Geist geschaut, denn sie sind alle im Intellekt. Emerson machte den Geist real und war darin der Vorläufer der modernen Psychologie. Damit half er, die Psychologie von Theologie und Erziehung zu befreien und sie unabhängig zu machen.
Seit 1880 ist die Psychologie von Metaphysik, Theologie und Pädagogik getrennt und diese Scheidung hatte – soweit es die psychologische Entwicklung betrifft – erfreuliche Auswirkungen. Nach Herbart erkannte man, dass neben anderen Fragen des Seins, der Unsterblichkeit und der Erziehung auch die Gegebenheiten des Bewusstseinslebens von Bedeutung waren. In Deutschland begann man nun, eine Frage zu erörtern, die Locke, Descartes und Reid schon vorweggenommen hatten: die nach dem Zusammenhang von Geist und Gehirn nämlich. Man stellte die Frage, ob sich Geist und Gehirn einer Modifikation unterwerfen lassen. Die Modifikation des Gehirns, so schlossen die Deutschen, führe zu einer Modifikation des Geistes. Sie sahen hier die Möglichkeit, beim Erforschen des Geistes die wissenschaftliche Methode, das Experiment, anzuwenden. Es war Lotze, der sich in seinem Werk Medizinische Psychologie oder Physiologie der Seele (1852) als Erster mit dieser Frage beschäftigte, indem er einen experimentellen Plan entwarf. Und es war Wundt, der ihm als Erster eine bestimmte Form gab, indem er intensiv experimentierte und für alle Zeiten den Zusammenhang von Geist und Gehirn festlegte, einen Standpunkt, den er in seiner Schrift Grundzüge der Physiologischen Psychologie (1874) geschickt verteidigte. Kurz nach Lotze verschaffte Fechner in seinem Buch Elemente der Psychophysik (1860) der neuen wissenschaftlichen Methode und den Ergebnissen umfangreicher Experimente in Bezug auf Zustände der Sinnesempfindung6 öffentliche Aufmerksamkeit. Das war die erste große Revolution in der Psychologie. Sie brachte ihr eine feste Basis in der Physiologie und bereitete den Weg für ihre Anwendung im Bereich der medizinischen Ausbildung und Praxis. Die gesamte Basis der Psychologie hat sich damit verändert, sodass sie jetzt den Begriff wissenschaftlich verdient. Ihre zweite große Revolutionierung kam aus England, der Heimat der evolutionären Philosophie, wo Spencer ihr in seinen psychologischen Arbeiten eine neue Richtung gab.
Beide Strömungen wurden in Amerika übernommen. So wie in der Bevölkerung von Amerika aus ethnischer Sicht die Mischung der besten Elemente Europas repräsentiert ist, finden wir auf dem Gebiet der Psychologie eine klare Verbreitung dieser zwei Revolutionslinien. Die in Amerika heute angewandte Psychologie lässt sich – verglichen mit der, die vor zehn Jahren aktuell war – anhand zweier Besonderheiten umreißen:
(1) Sie ist funktional, das heißt, sie betrachtet die mentalen Funktionen und nicht mehr wie früher die mentalen Fähigkeiten.
(2) Unter dem Einfluss der Evolutionstheorie hält man diese Geistesfunktionen für etwas, das sich entwickelt hat und sich weiterhin entwickelt und nicht, wie man früher glaubte, vorgefertigt existiert.
Anstelle eines intuitiven Bewusstseins bilden sich die Funktionen des Geistes heraus. Solange man jeden mentalen Vorgang als eine mentale Fähigkeit betrachtete, war jede Fähigkeit unabhängig von allen anderen, sodass im alten System das Gedächtnis ebenso eine Fähigkeit oder Kraft des Geistes war wie die Einbildungskraft, das Denken usf. Jetzt gilt der Geist als Einheit und man versteht ihn so, dass er innerhalb des Leistungsvermögens dieser Einheit agiert, indem er sich durch Anpassung an die ihm vorliegende Materie an funktionale Aktivität anpasst. Der Geist ist Eines. Ein geistiger Akt ist ein psychophysischer bzw. physiologischer Prozess. Es gibt keine getrennten und verschiedenartigen Fähigkeiten mehr, denn der Geist ist ungeteilt und unteilbar. Im Zusammenhang mit seiner Anpassung an die wechselnden Bedingungen, unter denen er arbeitet, hat der einzelne Geist jedoch verschiedene Funktionen. Außerdem hat er sich in zweierlei Hinsicht zu seinem jetzigen Zustand entwickelt: individuell gesehen von der Kindheit zur Reife und zivilisationsgeschichtlich gesehen vom Niedrigeren zum Höheren. Um mentale Gegebenheiten zu verstehen, müssen stets beide Aspekte im Auge behalten werden. Dieser Standpunkt der Psychologie geht auf Lotze zurück, denn er war es, der zuerst von »den neuronalen Gegebenheiten der mentalen Prozesse« sprach. Fechner setzte diesen Gedanken um, indem er die funktionale Idee psychologisch und physiologisch angewandt in Übereinstimmung brachte. Wundt arbeitete diese Ideen durch Anwendung auf die mentalen Phänomene weiter aus und gründete 1879 in Leipzig ein psychologisches Labor, um solche Phänomene experimentell besser erforschen zu können.
In Amerika wurde die Evolutionsphilosophie hauptsächlich durch die Arbeiten von Spencer eingeführt. Einer der ersten und fähigsten Interpreten der Evolutionstheorie war Fiske. Er vertrat die Anschauung, der kosmische Prozess bilde die Grundlage des intellektuellen, sittlichen und religiösen Seins des Menschen, wobei er jedoch Weismanns Idee der Selektion und der Präformation für die Umwelt sowie die u. a. von Spencer vertretene Epigenese bevorzugte. Die amerikanische Schule der Biologie unterstützte dies unter Führung von Edward Cope, demzufolge alle modifizierten Formen des animalischen Lebens durch das Wachstumsprinzip und die ererbten Auswirkungen von Gewohnheit und Anstrengung zu erklären sind. Seiner Ansicht nach gibt es eine Entwicklungskraft, die die Entwicklungslinie bestimmt. Dadurch erhält das Psychische, das sich im dem universalen animalischen Begehren und Bemühen zu leben zeigt, Vorrang vor dem rein Physischen. Zu den Vorreitern und originellsten amerikanischen Denkern gehört George T. Ladd. Er war in Amerika der Erste, der auf dem Gebiet der experimentellen und physiologischen Psychologie forschte und lehrte. Ihm zufolge bildet die Wissenschaft vom mentalen Leben die einzige mögliche Erklärung für alle Probleme des Lebens. Mit dieser neuen Psychologie sind auch Cattel, Baldwin und Sanford verbunden, deren Laborarbeit der Psychologie eine ganz neue Form gegeben hat, die wir in den folgenden Vorlesungen erörtern werden.
Die Trennlinie in der modernen Psychologie entsteht im Zusammenhang mit der Bedeutung der mentalen Funktion – wobei eine Seite behauptet, sie sei schlicht eine Form des kosmischen Prozesses, während die andere meint, sie entspräche dem Spiel der Kräfte in der physischen Welt. Bei der Lösung dieses Problems und anderer Fragen der Psychologie hat der Physiologe ebenso viel beizutragen wie der Psychologe. Zu den herausragenden Ideen gehört das Anwenden von Messungen auf den Geist, soweit es um das Bestimmen von Zeit und Quantität geht. Dies impliziert selbstverständlich Experimente am Nervensystem und an den Veränderungen, die das Bewusstsein betreffen. Descartes unternahm schon vor Langem Experimente in Bezug auf die Emotionen, um zu beweisen, dass man sich dem Geist durch den Körper nähern kann. Doch dies erwies sich so lange als unmöglich, bis die Physiologie das Nervensystem und dessen über das Gehirn laufende Verbindungen zum Geist erschlossen hatte. Im Zuge dieses Fortschritts in der Physiologie des Nervensystems nahm die Psychologie an, dass die mentalen Phänomene stets von Nervenveränderungen begleitet sind. Die Beziehung zwischen Geist und Körper hängt von dieser Annahme ab. Die physischen und mentalen Veränderungen, die stets Hand in Hand gehen, werden mit Hilfe von Messwerten interpretiert. Man geht davon aus, dass diese zwischen Geist und Körper unzweifelhaft bestehende Verbindung einheitlich ist, womit man eine Grundlage hat, um Experimente in Bezug auf das mentale Leben durchzuführen.
Da wir diese Beziehung also festgestellt haben und von ihrer Einheitlichkeit ausgehen, können wir die Gegebenheiten des Bewusstseins analysieren, die Gegebenheiten bei neuronalen Veränderungen messen und die Modifikationen wahrnehmen, die sich in den Gegebenheiten des Bewusstseins korrelativ zu den Veränderungen in der Nervenstimulation vollziehen. Mit Hilfe des Experiments können wir den Unterschied zwischen natürlichen und willkürlichen Zuständen ebenso entdecken, wie wir herausfinden, dass die Modifikation der Nervenzellen äußerlicher Stimulation des Nervensystems oder anormalen Zuständen im Organismus zuzuschreiben ist. So stoßen wir auf jene Krankheitszustände des Nervensystems, die charakteristisch sind für bestimmte zerebrale Zustände und mentale Veränderungen, die mit organischen Veränderungen der Nervenzellen einhergehen. Und genau hier kommen mentale Krankheiten in Betracht. Das ist physiologische Psychologie und Pathologie. Die experimentelle Psychologie zeigt die Ergebnisse von Experimenten im Zusammenhang mit der Stimulation jener Organe, die das Nervensystem als das Medium mentaler Aktivität beeinflussen, [und bestimmt,] ob sie sich auf die normalen oder anormalen Zustände von Geist und Nervensystem beziehen. In diesem Semester werden wir die Psychophysiologie erörtern und im nächsten die Psychopathologie und die Psychiatrie.7
Um Psychologie zu verstehen, müssen wir tief in die Biologie graben, und um das Fachgebiet zu umfassen, müssen wir Physiologie, Neurologie, Physik und Chemie erforschen. Die Methode, die wir dabei verwenden, ist Beobachtung, unterstützt durch Experimente. Auf diese Weise hoffen wir, eine Wissenschaft zu entdecken und aufzubauen, die aus bestimmten Prinzipien besteht und bestimmte Probleme betrachtet. Sie findet ihre Grundlage oder ihr Wirkungsfeld im menschlichen Körper, insbesondere im Nervensystem. Eine Aktivität erzeugt über die Sinnesorgane einen Eindruck im Gehirn. Die Impulse werden durch den motorischen Apparat in Verbindung mit den Muskeln und Knochen ausgeführt. Die Psychologie legt zwei Axiome fest:
– Jedes mentale Phänomen beruht auf einer Aktivität des Gehirns.
– Der Geist besitzt von Natur aus keinerlei Begriff von Zahl, Qualität oder Raum.
Es ist also nicht so, dass mit der mentalen Existenz zugleich auch eine Vorstellung von diesen Phänomenen existiert. Doch markieren alle Vorstellungen, Einschätzungen und Unterscheidungen das mentale Wachstum. Das Gehirn entwickelt sich und ebenso der Geist und beide Entwicklungen sind untrennbar miteinander verbunden. Um den gegenwärtigen mentalen Status zu verstehen, müssen wir seinen Entstehungsprozess von der einfachsten Form an nachverfolgen. Wir müssen das Wachstum studieren, um an die Ordnung der mentalen Entwicklung heranzukommen, an diese Gesetze, die den mentalen Fortschritt darstellen, der sich im Einklang mit der gesamten natürlichen Evolution befindet. Vom Tier an aufwärts finden wir diese fortschreitende Entwicklung. Der Instinkt des Kükens zeigt sich am dritten Lebenstag, sodass das Küken instinktiv jedem sich bewegenden Objekt folgt und danach an seinem Führer festhält, wer oder was immer das auch sein mag, während jedes andere sich bewegende Objekt Beunruhigung hervorruft und Furcht erzeugt. Wird diese Phase instinktiver Entwicklung unterdrückt oder versäumt, kann sie sich später nie mehr entfalten. Dass es für die angemessene Entwicklung des psychischen Wesens eine Reihenfolge und einen bestimmten Zeitraum gibt, ist ein wichtiges psychisches Prinzip. Beim Menschen finden wir mehr Instinkte als bei jedem anderen Tier und sie entwickeln sich alle in richtiger Reihenfolge. Diese Instinkte und die mit ihnen verbundenen Emotionen stellen die mächtigsten Einflüsse der Natur dar.
Es gibt verschiedene Typen menschlichen Denkens und Assoziierens. Die Menschen denken und bilden auf unterschiedliche Arten mentale Erinnerungsbilder. Dabei sind die Typen individuell, die Fähigkeit aber ist allgemein. Veranschaulicht wird dies durch die Art und Weise des visuellen Beobachtens, der stimmlichen Äußerung und des inneren Sprechens. Manche Menschen visualisieren, andere drücken sich verbal aus, während wieder andere all ihren Gedanken mittels innerer Äußerungen Ausdruck verleihen. Das sind die drei Typen mentaler Verkörperung in der Geistestätigkeit. Offenbar basiert dies auf Nachahmung, die beim Menschen ebenso instinktiv ist wie bei den niederen Tieren. Um nachzuahmen, muss im Geist ein bestimmtes Konzept gebildet werden und es muss eine Antriebskraft geben, um das Konzept auszuführen. Auf diese Weise entwirft der Geist seine Pläne und mit Hilfe des Gehirns, des Nervensystems und des Körpers bringt er sie zur Ausführung.
Dieselbe Idee von der Verbindung zwischen Gehirn und Geist finden wir auch in einer anderen Richtung, nämlich im Sprechen. Im Gehirn gibt es zwei Lappen, wovon jeder die jeweils entgegengesetzte Hälfte des Körpers reguliert. Die rechte Hand wird vom linken Bereich des Gehirns gesteuert und dort finden wir nahe an dem für die Hand zuständigen Bereich das Sprechzentrum. Anthropologie und die Philologie früher Zeugen haben bewiesen, dass die Hand-Sprache bzw. die Zeichensprache vor der stimmlich geäußerten Sprache existiert hat. Bei der Hand-Sprache dient die rechte Hand als Hauptinstrument. Das stimmt mit der Feststellung überein, dass Rechtshändigkeit und Sprechen bei im Vergleich zum Menschen niedereren Lebewesen nicht vorkommen.
Dementsprechend ist die Entwicklung des tierischen Gehirns bestimmungsgemäß und die beiden Gehirnlappen weichen nicht voneinander ab. Das zeigt, dass die Sprechorgane, die überwiegende Verwendung der rechten Hand und das, wofür sie stehen (nämlich die Gehirnzentren im selben Bereich und Lappen des Gehirns), in enger Beziehung zueinander stehen. Die Frage, ob diese Beziehung natürlich ist oder erworben, also ererbt, wurde im Licht der Entwicklung von Geist und Gehirn erörtert. Dies weist zumindest darauf hin, dass es im menschlichen Gehirn eine feste und klar umrissene Grundlage für Geist und mentale Aktivität gibt und dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Geist und Körper, die sich beide voneinander abhängig entwickeln und sich dabei gegenseitig beeinflussen.
Genau das macht die Psychologie im medizinischen Bereich so wertvoll. In der Vergangenheit haben Physiologie und Medizin unterstellt, der Körper sei etwas ganz Anderes als der Geist. Und auch die Psychologie vertrat diese Anschauung. Moderne Psychologie und Physiologie betrachten den Menschen dagegen als Einheit von Geist und Körper. Der Körper gilt als Instrument und Medium der mentalen Offenbarung8, sodass eine der Grundbedingungen für Gesundheit in einem Geist und einem Bewusstsein besteht, die den Körperzustand bestimmen. Der Körper ist zwar eine Maschine, jedoch keine die, einmal aufgezogen, über Jahre hinweg gänzlich unter äußerem Einfluss funktionieren kann. Seine Formung und Gestaltung geschehen vielmehr von innen. Mentale Funktion ist die Basis jeder physischen Funktion. Hinter den physischen Vorgängen Verdauung, Atmung und Blutkreislauf gibt es einen mentalen Zustand, der den Körperzustand bestimmt. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Zivilisation Krankheit und Körperschwäche Vorschub leistet, weil mit ihr eine mentale Erregung einhergeht, die der körperlichen Gesundheit nicht förderlich ist. Sie bringt eine stärkere mentale Anstrengung und einen größeren Selbstbehauptungskampf mit sich, die dazu führen, dass die normale Entwicklung von Geist und Körper vernachlässigt wird. Daraus resultieren zahllose gestörte Zustände und Krankheiten. Wir stimmen nicht den Ruf an: Zurück zum Leben der Wilden! Doch wir sagen: Zurück zu dem Zustand, der eine niedrigere Ebene repräsentiert – nämlich: die Abwesenheit mental störender Zustände, die körperliche Wracks erzeugen, neuronale Verwirrung verstärken und Krankheit oder Tod bewirken. Indem wir das osteopathische Prinzip anerkennen, dass Medikamente unnatürlich und alle Heilmittel der Natur im menschlichen System gespeichert sind, haben wir das psychische Gesetz der Vorherrschaft des Geistes. Und will man es zum Beseitigen jener krankhaften Zustände anwenden, muss im Innern begonnen werden. Die Anpassung muss durch den Geist geschehen und der mentale Zustand muss zunächst an die Körperzustände vollkommener Gesundheit angepasst werden. Da gibt es nur ein Rezept: Pflege und ständige Aufrechterhaltung des mentalen Gleichgewichts. Wie wir wissen, beeinflussen plötzliche Emotionen den Blutkreislauf, den Herzrhythmus, die Atmung, sie zerstören die Sekretionen, beeinträchtigen die Verdauung und verursachen sogar den Tod. Werden solche Emotionen chronisch, wie ist es dann möglich, das System nutritiv vollständig zu versorgen? Die physiologische Chemie hat belegt, dass ein derartiger chronischer Zustand toxische Substanzen produziert, die jeden normalen körperlichen Prozess beeinträchtigen. Solange diese Substanzen da sind, ist Gesundheit unmöglich. Und es kann keine physische Immunität gegen Krankheit geben, weil das System für alle Arten von Keimen offen steht. Derartige vererbte oder erworbene Zustände bilden die Grundlage für jede Art von physischer und mentaler Erkrankung bzw. Schwäche. Von diesem Standpunkt aus dringt Krankheit in ein physisches und mentales Lebewesen ein, das immun sein sollte, dies aber nur sein kann, wenn es gut ausbalanciert bzw. ausgeglichen ist. Den Geist zu heilen und ihm im menschlichen System jene günstige Ausgangsposition zu verschaffen, von der aus er den Körper erhebt, statt ihn niederzudrücken, ihn kräftiger macht, statt ihn zu erschöpfen, ihn vor allen möglichen verheerenden Auswirkungen von Krankheit bewahrt, statt ihn schutzlos preiszugeben – das ist die Absicht der Psychologie, sobald sie den Bereich der Medizin betritt.
Die moderne Psychologie ist in hohem Maße anderen Wissenschaften verpflichtet. Ebenso wie die Physiologie dadurch revolutioniert wurde, dass man sie im Lichte physischer und chemischer Prozesse erklärte, schuldet die Psychologie der Physiologie, der Physik und sogar der Astronomie Dank. Helmholtz hat vor nahezu einem halben Jahrhundert die Geschwindigkeit der Nervenimpulse gemessen. Die peripheren Nervenzellen stellen jedoch nur einen Teil des Nervensystems dar, während das Gehirn das besondere Medium mentaler Manifestation bildet. Mit der mentalen Aktivität gehen bestimmte Prozesse im Gehirn einher. Und weil das Individuum seine Erfahrung im Zusammenhang mit bestimmten Stimuli kennt, hat man verschiedene Körperteile stimuliert, sodass die für eine Muskelreaktion erforderliche Zeit gemessen werden konnte. Eng verbunden mit diesen Untersuchungen waren Forschungen zu den Nervenfunktionen im Zusammenhang mit den Endorganen, sodass heute die Beziehungen zwischen sensorischen Funktionen und mentalen Aktionen klar verstanden werden. Jede Erfahrung basiert auf irgendeiner physischen Grundlage, und hier zeigt die Physik, dass es möglich ist, Sinnesempfindung, Emotion und Volition9 mit äußeren, den physikalischen Gesetzen unterliegenden Objekten zu verbinden. Diese physikalischen Wissenschaften haben also den Weg für die psychische Betrachtung des Geistes aus einer physiologischen Perspektive eröffnet. Psychologie beginnt mit dem Nervensystem, stellt Korrelationen zwischen Geist und Gehirn her und öffnet einen Weg, um psychologische Gesetzmäßigkeiten wahrzunehmen. Das Gehirn erfordert Differenzierung, die Nervenbahnen müssen verfolgt werden und die molekulare Aktion und Interaktion der Nervenelemente müssen eindeutig bekannt sein. Das Studium des Zentralen Nervensystems ist hier von großer Bedeutung, denn nur hier kann Psychologie ihre Vervollkommnung finden.
Platon war der Ansicht, die Gottheit habe aus dem göttlichen Wesen sublunare Geschöpfe gebildet, die wiederum den animalischen Körper geschaffen und ihm diesen göttlichen Anteil als unsterbliches Element weitergegeben hätten. In der Seele finden wir Platon zufolge den Geist als Sitz der Intelligenz sowie den animalischen und materiellen Anteil als Sitz der Leidenschaft einschließlich Mut und auch als Sitz des Triebs. Der Geist wohnt im Gehirn, die Leidenschaft im Herzen und die Triebe samt Begierden in den unteren Körperteilen. Bei Aristoteles werden die psychischen Vorgänge als Einbildungskraft, Urteil und Sinnesempfindung klassifiziert. Bei ihm sitzt der mentale Aspekt im Herzen, das Gehirn übernimmt die Aufgabe, das Herz zu kühlen. Erasistratos identifizierte als Erster das Nervensystem als klar umrissenes System, auf das er das Funktionieren mentaler Phänomene zurückführte. Er betrachtete die Luft als die Lebenskraft und verfolgte ihren Weg in die Lungen, durch das Herz und schließlich zum Gehirn, wo sie ihm zufolge zum vitalen bzw. animalischen Geist wird. Auf diese Weise wurden Geist und Körper eng verbunden, die mentalen Phänomene hingen untrennbar mit den Nervenfunktionen zusammen. Galen wiederum sagte, nachdem er entdeckt hatte, dass das Blut essenziell für das Leben ist, der animalische Geist müsse im Blut sein. Und doch betrachtete er das Gehirn als die grundlegende Nervenstruktur sowie als Sitz von Volition und Sinnesempfindung, das rein physische Körpersystem mit seinem muskulären Mechanismus hingegen als völlig abhängig vom Nervensystem. Damit ist der Wissensstand bis in neuere Zeiten markiert. Dem Engländer Willis gebührt die Ehre, vor mehr als 200 Jahren die modernen Ideen hervorgebracht zu haben. Er hielt das Gehirn für den Sitz der menschlichen Seele, für die Haupt-Antriebskraft im animalischen Mechanismus, für die Quelle aller Bewegung und allen begrifflichen Erfassens. Die Gehirnwindungen waren für ihn Zellen oder Speicher, die die Grenzen der Bewegungen des animalischen Geistes markieren. Der Kortex galt ihm als Sitz der Gedanken und als zentrales Organ10 für Bewegung und Vorstellungskraft. Newton ergänzte diese Entdeckung aus physikalischer Sicht, indem er erklärte, dass die Reize entlang der Nervenbahnen als Schwingungen verbreitet werden. Dazu kommt die Tatsache, auf die schon Willis hingewiesen hat: dass nämlich das Nervensystem die Grundlage der Reflexhandlung darstellt. Mit dieser Ergänzung der Neurologie bezüglich der Differenzierung und Lokalisierung der Funktion haben wir dank der Forschungen von Männern wie Bell oder Ferrier die Basis psychologischer Aktivität im Zusammenhang mit dem Gehirn und dem Nervensystem. So sind wir im Verlauf der Geschichte also schrittweise zu unserem gegenwärtigen Wissensstand gelangt.
Obgleich das Nervensystem Basis und Medium für mentale Vorgänge ist, dürfen wir nicht vergessen, dass im höheren Bereich der Psychophysiologie der Geist die bestimmende Kraft darstellt und dass in einem physiologisch gesunden Leben kaum etwas anderes als ein gesunder Geist den von allen so erwünschten kräftigen Körperzustand sowie Gesundheit, Lebensfreude und Glück sicherstellen kann. Die Physiologen haben ihre Forschungen im Wesentlichen auf die einzelnen Teile des Zentralen Nervensystems begrenzt, ohne zu versuchen, Modelle einer systematischen Aktivität des Gesamtsystems zu entwerfen. Das hat in der Physiologie zu der Tendenz geführt, die Bedeutung der Funktionsspezialisierung zu überschätzen. Dabei wird jedoch die Tatsache übersehen, dass es in der Aktivität des Gesamtsystems einen Zusammenhalt und eine Einigkeit gibt. Es ist wahrscheinlich, dass jeder aktive Vorgang im Nervensystem das gesamte menschliche System beeinflusst. Demnach muss es eine ständige Aktivität seitens der Nervenzellen geben, begleitet von kontinuierlichen Impulsen, die in die Zellen eindringen und sie verlassen. Dies bildet die Basis für »die Kontinuität bewusster Erfahrung«. Hinter dem Bewusstsein liegt – zumindest aus morphologischer Sicht – die anatomische Struktur des Nervensystems. Allerdings ist es bisher noch keinem gelungen, das Problem ihrer Zusammenhänge zu lösen. Der Bereich des Bewusstseins wanderte mit der Entwicklung der physiologischen Theorien allmählich nach oben, bis er – wie ein Physiologe es ausdrückte – seine letzte Zuflucht in dem nach der Lokalisierung der sensorischen und motorischen Bereiche einzig noch verbleibenden Bereich nehmen musste: im anterioren Anteil der grauen Substanz des Kortex nämlich.
Die antiken Philosophen begrenzten den Geist nicht auf das Gehirn. Mit dem Beginn der modernen Psychologie wurde das Zentrum der bewussten mentalen, emotionalen und volitionalen Phänomene mit der Medulla verbunden, in jüngerer Zeit lokalisierte man es im frontalen Bereich des Kortex, und zwar hauptsächlich deswegen, weil dies der einzige noch freie Ort im Gehirn war. Sogar dann, wenn wir alle Veränderungen, die in diesem Bereich stattfinden, verstehen könnten, würde es uns wohl nicht gelingen, die Kluft zwischen dem rein Subjektiven und dem Objektiven zu überbrücken. Noch weniger dürften wir dazu in der Lage sein, mentale Phänomene in die ihnen vorausgehenden Ursachen aufzulösen.
Die Physiologie hat sich hauptsächlich in zwei Schulen gespalten, wovon die eine die mentalen Phänomene verkörperlicht, indem sie sie ausschließlich auf physiologische und physische Ursachen zurückführt, während die andere sie idealisiert, indem sie ihnen bildhafte Namen gibt, die aber eigentlich keine Erklärung der Phänomene liefern. Durch die Kombination beider Anschauungen haben wir eine grundlegende physische und physiologische Basis für die ideale Interpretation dieser Phänomene. Sobald wir den Bereich des Transzendenten betreten und hinter all diesen physischen oder mentalen Phänomenen die Existenz einer metaphysischen Essenz voraussetzen, wird die Erklärung deutlicher, denn dann erweisen sich diese geistigen und körperlichen Phänomene schlicht als Offenbarungen jener inneren, tieferen und wahreren Existenz. Die Schwierigkeit dabei ist aber, dass ein derartiges Wesen, das die Metaphysiker als Seele identifizieren würden, in keiner Weise durch die Wissenschaft bewiesen werden kann. Im besten Fall handelt es sich einfach um eine metaphysische Konzeption.
Wir versuchen nicht, diese Frage zu lösen. Doch es bleibt eine bedeutende physiologische Frage: Hat die Physiologie irgendeine Begründung dafür, dass sie das Bewusstsein und die gesamten psychischen Phänomene im frontalen Bereich des Gehirns lokalisiert? Sofern wir die Fakten der vergleichenden Physiologie richtig interpretieren, gründet diese Theorie nicht auf Tatsachen. Die Physiologen lokalisieren im Gehirn die Sinnesempfindungen, womit gemeint ist, dass dort all jene Impulse enden, die in Bewusstsein resultieren. Doch die anderen Anteile des Nervensystems, die die Impulse zu diesem Sensorium übertragen, können ebenso viel mit Bewusstsein zu tun haben wie das Sensorium selbst. Auch bei den niederen Tieren, deren Gehirnentwicklung relativ einfach ist und die keine der charakteristischen kortikalen Gehirnwindungen besitzen, die man beim Menschen mit mentalen Phänomenen in Verbindung bringt, finden wir Bewusstsein. Diese auf der vollkommenen Einheit des Körpers und insbesondere des Nervensystems basierende Sichtweise überwindet die von der modernen Physiologie betonte Schwierigkeit einer perfekten Lokalisierung der verschiedenen Funktionen.
In den frühesten Zuständen der Zellentwicklung erkennen wir, dass die einzelne Zelle der Stimulation unterliegt und bestimmte molekulare Veränderungen durchmacht. Diese Veränderungen senden Impulse an andere Zellen und ebenso entlang der Nervenbahnen bis zur Oberfläche des Körpers. Wird die erste Zelle, die aufgrund ihrer Fähigkeit, Impulse zu empfangen und zu übermitteln, funktionell mehr oder weniger differenziert ist, durch kontinuierliche Stimulation stärker spezialisiert, sodass ihre Veränderungen an diese besondere Art der Stimulation angepasst werden und auf derartige äußere Stimuli gewohnheitsmäßig reagieren, dann sind das die ersten Anfänge von Bewusstsein und Gedächtnis. Sogar hier ist aber Bewusstsein nicht das Produkt von Veränderungen, die in den Zellen stattfinden, denn selbst eine Kenntnis aller inneren Veränderungen würde kein Bewusstsein zur Folge haben, weil das Bewusstsein nur in Verbindung mit äußeren Manifestationen entsteht. Einige haben dies mit der Vermutung zu erklären versucht, dass mit Materie ein Bewusstsein verbunden ist. Das kann jedoch nicht der Fall sein, denn wir finden keine Verbindungslinie zwischen physischer Materie und psychischem Bewusstsein. Folglich finden wir zwei anscheinende Gegensätze, die einander nicht verursachen. Manche haben diese Verbindung dadurch vervollständigt, dass sie irgendeine Art von Energie mit dem Verursachen von Bewusstsein gleichsetzen. Energie ist aber eine physische Eigenschaft, aufgrund derer eine bestimmte Materie oder bestimmte Materien die Fähigkeit zu agieren besitzen. Dieses Agieren hängt von den aktiven Veränderungen ab, die in den einzelnen Elementen stattfinden. Bilden diese Veränderungen, die in den Zellen vermutlich auf der Basis molekularer Aktivität geschehen, die Grundlage des Bewusstseins, dann muss Bewusstsein eine materielle und keine psychische Qualität sein. Denn das Ergebnis kann nicht mehr enthalten als die Ursache. Bewusstsein lässt sich also nicht anhand einfacher Substanzveränderungen oder Materiebewegungen erklären und ist daher unerklärbar – es sei denn, wir stellen für das Psychische wie für das Physiologische die Hypothese auf, dass jedes in seiner eigenen Sphäre die Basis seiner eigenen charakteristischen Aktivität bildet. Betrachten wir das Nervensystem als komplexes Gebilde aus Nervenmechanismen, wobei jeder Mechanismus in seiner einfachen Form eine Aktivität erzeugt, in der es Bewusstsein gibt, dann ist das gesamte Nervensystem aus psychischer Sicht eine komplexe Serie bewusster Zustände. Bewusstsein kann dann nicht nur im ganzen Gehirn existieren, sondern auch in allen Zellen, die das komplexe Gehirn konstituieren. Wird ein sensorischer Teil des Körpers stimuliert, kommt es zur Übertragung des Eindrucks in das Zentrale Nervensystem und löst irgendeine Reflexbewegung aus. Dies bezeichnet eine Reflexhandlung, die, zumindest vom Gehirnzentrum her, ohne Volition vor sich geht. Und doch gibt es ein Bewusstsein der Veränderungen, die im Zusammenhang mit dem Empfangen und Verteilen der Impulse stattfinden. Das Zentrum der Reflexreaktion außerhalb des Gehirns besitzt eine enge Verbindung mit den Zellen der grauen Substanz im Gehirn, sodass jeder sensorische Bereich des Körpers eine Verbindung mit einem Gehirnbereich besitzt. Eindrücke können von diesen zerebralen Zentren reflektorisch nach außen zu anderen Zentren verlaufen, woraus unwillkürliche Bewegungen entstehen. Es können aber auch Impulse von den sensorischen Zentren im Kortex zu den Zentren der volitionalen Impulse passieren, woraus willkürliche Bewegungen entstehen. Jeder willkürliche Vorgang ist jedoch im Wesentlichen eine Reflexreaktion, abhängig von einer afferenten Stimulation, die beim Hervorrufen des Vorgangs oder schon zu einem früheren Zeitpunkt erfolgt.
Die Eindrücke in den Zellen oder Zellen-Kombinationen bleiben erhalten und bilden das Gedächtnis, sodass die Volition bei einer Erregung der Impulse eine Basis hat, auf der sie agieren kann. Hinzu kommt, dass beim Sehvorgang ein auf der Retina geformtes Bild vom Nervus opticus zu den koordinierenden Corpora quadrigemina11 und von dort weiter zum optischen Bereich im Kortex übermittelt wird. Dieses Bild erzeugt, wenn es sich den Zellen einprägt, ein Erinnerungsbild, das unter dem Einfluss von Impulsen im Bewusstsein geweckt werden kann, um eine Aktivität hervorzurufen. Solche sensorischen Eindrücke können jedoch nicht nur Bewusstsein im Zerebrum erregen, sondern auch im Zerebellum, in welchem die Koordination stattfindet. Es ist wahrscheinlich, dass es sensorische Bereiche sowohl im Zerebrum als auch im Zerebellum gibt. Verhält es sich so, dann stellen die Gehirnwindungen des Zerebrums und den Sitz der regulären rhythmischen, von Volition unabhängigen Bewegungen dar und die des Zerebellums das willkürliche Element in allen Bewegungen. Werden aufgrund der Aktivität eines Objekts bzw. von Objekten verschiedene Sinnesempfindungen als Stimuli auf verschiedene Teile der sensorischen Fläche hervorgerufen, beginnen in verschiedenen kortikalen Bereichen molekulare Veränderungen. Diese Bereiche sind durch die Assoziationsfasern so miteinander verbunden, dass das Bewusstsein, sobald es die verschiedenen Eindrücke empfängt, sie zu einer einzigen Anschauung kombinieren kann. Anstatt zu einem mentalen Bild zusammengefasst zu werden, können diese kombinierten Impulse jedoch auch Muskelbewegungen hervorrufen, wobei die Bewegungen weitestgehend von den stimulierenden Ursachen abhängen. Sind die Stimuli stark, laufen die Impulse zu den Nervenzellen im Gehirn, wo sie aufgrund ihrer Stärke einen lebhaften Eindruck hinterlassen, der auch bei abgeblasster Stimulation verbleibt und sich durch eine leichte äußere oder innere Stimulation wieder abrufen lässt.
Hier haben wir die physiologische Basis der Gedankenassoziation, die in der Psychologie einen herausragenden Platz einnimmt, und ebenso die Basis von Gedächtnis und Erinnerung. Durch andauernde Wiederholung dieser Prozesse werden die Eindrücke so eng mit dem Zellkörper verbunden, dass sie schließlich inhärenter Teil des Zelllebens sind, somit durch Vererbung von Generation zu Generation weitergegeben werden und die physiologische Grundlage mentaler Intuitionen bilden. Derartige Intuitionen repräsentieren Modifikationen des Gehirns unter dem Einfluss der mentalen Entwicklung, wobei jedes Gehirn seine eigene Entwicklungsstufe in der Evolution darstellt. Wo es eine große Anzahl und Vielfalt von Eindrücken gibt, finden wir auch große Variationen in den Zellveränderungen und auch eine entsprechende Vielfalt bei den mentalen Phänomenen. Sind diese Eindrücke im Gehirn derart festgelegt, dass ein Stimulus aus einem anderen Bereich des Gehirns eine Reaktion hervorrufen kann, dann liegt ein voll entwickelter Geisteszustand vor. Auf diese Weise lassen sich Bilder von Szenen, die vom Sehsinn erfasst werden, oder Objekte, die in Kontakt mit dem Tastsinn kommen, in den Gehirnzellen speichern, um dann durch einen mentalen Stimulus wachgerufen zu werden.
Manche Physiologen behaupten, sie ließen sich spontan erwecken, was aber vermutlich nicht richtig ist, weil die dem Anschein nach spontanen Aufrufe eben doch von einer schwachen, oft indirekten Stimulation abhängen. Der Anblick eines Objekts kann Eindrücke abrufen, die zuvor mit einem derartigen oder einem analogen Objekt verbunden waren. Ein einfacher Abruf genügt, um schlummernde Eindrücke zu wecken. Phänomene, die zunächst rein willkürlich zu sein scheinen, werden dann zu reinen Reflexen oder sind zumindest nicht mehr mit bewusstem Wollen verbunden. Ein Kind etwa wird durch beharrliches Bemühen fähig, willentlich zu laufen. Nach der Kindheit können diese Bewegungen aber auch gänzlich unbewusst ausgeführt werden. Auf dieselbe Weise können mentale Phänomene so vollständig unbewusst werden, dass man bestimmte Handlungen oft als rein instinktiv bezeichnet.
Man stimmt allgemein darin überein, dass es unbewusste mentale Aktivität geben kann, deren Ergebnis später bewusst wird. Geistige Entwicklung setzt einen aufnahmefähigen Zustand der Nervenzellen ebenso voraus wie ein aktives Mitarbeiten dieser Zellen bei den zur molekularen Entwicklung gehörenden Veränderungen. Reguliert wird dies gewissermaßen durch die Selektionsfähigkeit, die im Falle verschiedener Eindrücke eine Konzentration auf bestimmte Eindrücke bei gleichzeitigem Ausschließen anderer erlaubt, sowie durch die Zellenaktivität im Zusammenhang mit speziellen Eindrücken und durch die Fähigkeit, diese Eindrücke zu assoziieren. Jedes dieser Elemente hat eine physiologische Grundlage im Zentralen Nervensystem und kann durch Übung stabiler werden, denn die Gehirnentwicklung hängt weitestgehend von geeignetem Training ab. Das bedeutet, dass sich Individuen in Bezug auf die Grundbeschaffenheit ihres Nervensystems voneinander unterscheiden, was wiederum die Grundlage für graduell unterschiedliche Intelligenz und Entschlusskraft bildet. Allerdings basieren diese primär auf erblich Erworbenem, das zusammen mit dem System selbst von den Vorfahren weitergegeben wurde.
So erhält jeder durch die Geburt nicht nur einen Körper, sondern auch einen Geist – die Basis mentaler Eigenart und Entwicklung. Während der Mensch nun von diesem Anfangspunkt seiner geistigen Entwicklung ausgehend beginnt, wird diese Entwicklung hauptsächlich durch Umweltgegebenheiten und Erziehungsprozesse bestimmt. Die Willensstärke lässt sich ebenfalls durch Übung steigern, sodass die hemmende Kraft weitestgehend von denselben Erziehungseinflüssen abhängt. Das meinen wir, wenn wir vom Geist als einer Einheit sprechen, die aus bestimmten, die Stufe der mentalen Entwicklung kennzeichnenden Handlungsfunktionen besteht. Die Fähigkeit zu weiterer Entwicklung ist das Charakteristikum jedes normalen Geistes.