Читать книгу Der Fall - Amos Cappelmeyer - John Marten Tailor - Страница 10

Kapitel Fünf Observierung

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Achte auf deine Gedanken, sie sind der Anfang deiner Taten. China

Eine kleine Gruppe von fünf Geschäftsreisenden stand am Abflugschalter für Privatmaschinen. Unweigerlich blieb deren Blick an der Amerikanerin haften, die am Nebenschalter vergebens versuchte, einen Flug nach München zu ergattern. Ihre hilflose Mimik stellte sie mädchenhaft zur Schau. Audrette besaß eine Begabung Männer in fünf Sekunden um den kleinen Finger zu wickeln. Das Ende vom Lied; die Geschäftsleute brachten es nicht übers Herz, die zarte, hilflose Frau mit dem süßen amerikanischen Akzent stehen zu lassen, zumal der Flieger nicht vollbesetzt war. Sie erklärte sich bereit, einhundert Euro Benzingeld zu leisten, doch ihr Angebot wurde mit lautstarkem Gelächter quittiert, so hörte man seriöse Businessmänner selten lachen. Die Herren kamen aus der Maschinenbaubranche und hatten zusammen mit einem österreichischen Kooperationspartner einen bedeutsamen Deal ausgeheckt. Da war Man(n) schon mal spendabel und Audrette war eine fabelhafte Schauspielerin, wenn es darum ging, ein Ziel schnellstmöglich zu erreichen.

Beim Landeanflug auf das knapp vierhundert Kilometer entfernte München brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Bei Herrn Janus Keilbart, der sie federführend zum Flug eingeladen hatte, bedankte Audrette sich aufrichtig mit einem Kuss auf die Wange.

»Auf Wiedersehen, schöne Frau. Ich hoffe, es trifft zu, dass man sich immer zweimal im Leben über den Weg läuft.«

Der Weg zum Autoverleiher hingegen war kurz, nur einmal um die Ecke, ENTER EUROPA. Der einzig anwesende Serviceangestellte erklärte verlegen mit tomatenfarbenen Kopf, dass nur noch ein Fahrzeugtyp zu haben sei, ein Oberklasse-SUV, Automatik-Diesel.

»Ist ziemlich groß, wissen Sie«, sagte der junge Mann zweifelnd mit einem Blick auf die zierliche Kundin.

»Ja, weiß ich. Das ist genau, was ich suche. Der ist perfekt.« Sie hielt ihm ihre Kreditkarte unter die fettig glänzende Nase. Max, so hieß der Knabe mit der schlechten Haut, der ihr das Auto samt dem unterschriebenen Mietvertrag schnell aushändigte, gewährte ihr einen Rabatt von fünf Prozent, führte dann seine Kundin zum Wagen, erklärte kurz alle relevanten Funktionen und brachte sie zum Lächeln, weil er die Route zu Kniebrecht ins Navi einprogrammierte. Die Fahrt dürfte keine dreißig Minuten dauern.

Das war ein Wort.

Gegenüber dem Verlagshaus erstreckte sich ein Parkstreifen mit Blick auf den Eingangsbereich. Ein anderer schwarzer SUV mit abgedunkelten Fenstern räumte soeben einen Parkplatz, den Audrette für ihr Vehikel beanspruchte.

War ein scheußlicher Klotz, dieses Verlagsgebäude, mindestens fünf Stockwerke hoch. Erwartungsgemäß würde dort eine Menge Aktivität herrschen. Observieren war mühselige Kleinarbeit und einschläfernd, aber ein notwendiges Übel. Sie pochte darauf, zu erfahren, wer im Verlagspalast Kniebrecht verkehrte. Idealerweise ohne die ganze Zeit bei kaltem Kaffee und Donuts im Auto zu hocken. Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, beschloss Audrette, eine dieser ultramodernen Kameras mit Wifi-Funktion zu kaufen, um das Signal über einen Hotspot weiterzuleiten. Den Verkäufer im Elektronikfachmarkt quatschte sie derart schwindelig, dass er ihr Handy direkt und völlig kostenlos als Empfangsquelle einrichtete.

Auf der Hinfahrt war sie an einem Fünfsterne-Hotel vorbeigekommen, wenige Minuten vom Zielobjekt entfernt. Dort fuhr sie direkt vor dem Haupteingang vor, wo ein Page galant den Wagenschlag öffnete und der Dame beim Ausstieg aus ihrem Dickschiff half.

»Willkommen im Mayfair-Hotel.«

»Herzlichen Dank.« Hier zählte der perfekte Auftritt. Sie löste auf dem Weg zu Tür den Dutt, um ihre wallende Mähne für sich sprechen zu lassen. Das gerissene Luder besaß viele Facetten und egal wie, es galt, das Ziel um jeden Preis zu erreichen. Nach einem freundlichen Empfang wurde allerdings rasch klar, dass es hier und heute zu keinem Einvernehmen kommen würde.

»Sie haben keine Reservierung? Dann tut es mir leid. Es ist Messezeit. Ich kann nichts für Sie tun.« Ob es nun stimmte oder nicht, der Rezeptionist saß am längeren Hebel.

»Das darf doch nicht wahr sein! Ich habe bereits allen meinen Geschäftspartnern Ihr Haus genannt!« Aber da half dann weder Empörung noch ein Schmollmund. Doch wie aus dem Nichts tauchte einer jener Geschäftsmänner auf, die sie großzügigerweise mitgenommen hatten. Er wollte seinen Schlüssel bei der Rezeptionistin abgeben, als er seine bezaubernde Mitreisende erkannte.

»Ach, sieh an. Die Welt ist wahrhaftig klein. Haben Sie etwa auch ein Zimmer hier?«»Nein, nein, eben nicht.« Wie auf Kommando schüttete sie ihr Herz bei ihm aus, verfiel wieder in ihren breiten Akzent; Hotel ausgebucht, sie fremd in der Stadt, allein, schnief.

»Bedaure, aber ich muss wirklich los. Zeitdruck, Sie verstehen?« Bevor er von dannen eilte, bedachte er das Personal mit einem extra eindringlichen Blick. Audrette hatte alle Hoffnung sinken lassen, war kurz davor zu kapitulieren, als sie angesprochen wurde.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden, gnädige Frau?« Ein eifriger Page führte sie zu einem Zimmer. Die Formalitäten ließen sich dort über ein modernes Touchpanel erledigen.

»Das ist ja wunderbar! Sie sind mein Held für heute.« Der Page räusperte sich.

»Das ist meine Aufgabe, Frau Miller. Die Zufriedenheit all unserer Gäste zu garantieren. Allerdings mit einer Einschränkung. Länger als vier Nächte können wir diese Räumlichkeit nicht zur Verfügung stellen.«

»Vier Tage? Klasse, das genügt völlig.«

Nach wenigen Stunden Schlaf, es war beinahe Nacht, schlich sie in bequemer Kleidung aus dem Mayfaire, um die Kamera auf dem Dach gegenüber dem Verlag zu platzieren. Eingeschaltet, ausgerichtet, die Beschattung konnte beginnen.

Die Aufzeichnung startete, da trat einer der allgegenwärtigen Maschinenbauer aus dem Gebäude. Audrette stieß einen leisen Pfiff aus.

»Unglaublich. Die Kerle sind überall! Die Welt ist verdammt klein. Hallo, Herr Keilbart.« Könnte der, oder einer der anderen, mit der Angelegenheit ihres Zukünftigen etwas zu schaffen haben? Quatsch, das macht keinen Sinn. Andererseits, ein Ingenieur und ein Verleger zu nachtschlafender Zeit, welchen Sinn ergab das?

Eine alternde Jungfer in altmodischen, unförmigen Klamotten verabschiedete Keilbart übertrieben höflich. Fast hätte die Frau einen Kniefall auf dem Gehweg hingelegt. Flink spurtete Audrette runter auf die Straße. Doch zu spät, die Olle war schon weg.

Die Jungfer hatte die vermeintliche Joggerin durch das Fenster beobachtet, wie sie auf dem Gehsteig um Luft rang.

»Kann ich Ihnen helfen? Ich habe Sie zufällig durch das Fenster gesehen. Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser, Teuerste?« Hilfsbereit stellte sie sich als Fräulein Annemarie Seeling vor. Dabei legte sie eine besondere Betonung auf die altertümliche Anredeform und ihre Hände waren überall, an unaussprechlichen Orten, nur nicht wirklich hilfreich. Das Fräulein entpuppte sich als eine unersättliche liebestolle Lesbe. Und jünger als aus der Entfernung angenommen.

»Danke, nein. Es geht schon wieder«, keuchte die Joggerin.

»Was machen Sie nur hier draußen um diese Zeit?«

»Schlaflosigkeit. Dann gehe ich laufen.«

»Verstehe. Sie sollten sich vorsehen. Es ist gefährlich hier im Dunkeln.« Immer wieder suchten dreiste Finger Erfüllung. Die eher konservative Audrette wurde von Gefühlen dieser Art überrumpelt.

»Wo wohnen Sie denn? Ich kann Sie hinbringen.«

»Oh nein. Nicht nötig.« Fräulein Seeling besaß eine generalstabsmäßige Art, ganz so, als wäre jedermann ihr persönliches Besitztum. Wer äußerlich so hart wirkte, musste einen weichen Kern haben, mutmaßte jedenfalls Audrette, schüttelte aber den Kopf.

»Ich bringe Sie nach Hause! Es macht mir nichts aus.«

»Das brauchen Sie nicht, ich komme schon klar.«

»Ich möchte es aber.« Da sie ihre Fälle schwimmen sah, setzte Annemarie alles auf eine Karte und presste mit Leidenschaft ihre Lippen auf die der Fremden. Audrette blieb die Luft weg. Ein strafender Blick, der in der Vergangenheit so manchen Feind erzittern lassen hatte, hatte das Ziel Frau Seeling in ihre Schranken zu weisen, in diesem Fall törnte er nur noch mehr an.

»Herrgott noch eins! Was ist los mit Ihnen? Sind Sie nicht ganz dicht?« Urplötzlichbrach Audrette in Tränen aus. Bitterliches Weinen nach ihrem geliebten, kranken Ehegatten sollte hoffentlich die Lesbe dazu bewegen, von ihr zu lassen.

Ach, wie sie ihn vermisste.

Enttäuscht zog das Fräulein von dannen.

Audrette schnaufte auf dem Rückweg erst einmal durch. So eine Unverfrorenheit war ihr noch nie untergekommen. Sie war weder ein Mauerblümchen und gewiss kein Kind von Traurigkeit, aber diese Person toppte alles, was sie in ihrer bisherigen Laufbahn erlebt hatte. Ihre frisch entfachte Sexlust hatte unbekannte Dimensionen erreicht.

Jetzt ein Amos! Sie vermisste ihn tatsächlich. Mit zusammengekniffenen Schenkeln versuchte sie, dagegen anzukämpfen. Jeder Schritt war eine Qual. Im Hotel angekommen, entledigte sie sich ihrer Kleider. Mit dem Vorsatz, eine Dusche würde Linderung verschaffen, schob sie den Duschkopf an den Lustgarten heran, den Strahl auf harte Massage umgestellt. Im Nu stöhnte sie auf. Mit allem hatte sie bei dieser Mission gerechnet, aber dass ihr eine Lesbe, gekleidet wie Großtante Irmgard, zusetzen könnte, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen.

Halbwegs befriedigt, aber noch tief in Gedanken versunken, trat sie aus der Dusche, erstarrte erschrocken und fluchte: »Das schlägt doch dem Fass den Boden aus!«

Die Lesbe hatte auf irgendwelchen verwundenen Pfaden herausgefunden, wo die Amerikanerin nächtigte. Sie stand da, durchtrainiert, ohne ein überflüssiges Härchen am Körper, mit vollen Brüsten und einem Blick der Begehrlichkeit.

»Das ist ja unglaublich! Sind Sie mir etwa gefolgt? Wie ... Wie kommen Sie hier herein?« Eine Antwort blieb die Frau schuldig und offerierte stattdessen eine ihrer Spezialmassagen.

»Nettes Angebot, aber ich glaube ich verzichte«, reagierte Audrette angewidert.

»Ach kommen Sie, nur eine Massage. Die wird Ihnen guttun. Sie sehen ziemlich gestresst aus.« Dagegen gab es nichts einzuwenden, wenn nicht die Frage im Raum stände, warum die Masseuse nackig war.

»Ich könnte die Polizei rufen«, versuchte es Audrette.

»Gewiss, das könnten Sie. Aber ich schätze, Sie werden es nicht tun.«

Ein Knistern lag in der Luft. Audrette biss sich auf die Lippen. Wo lag das Problem? Sie war alleine, vorübergehend zumindest, und ihre verspannten Muskeln würden es ihr danken. Wenn sie nicht so verdammt konservativ wäre ... Für diese Woche hatte sie ihr Pensum an spontanen Freizügigkeiten längst ausgeschöpft. Sie war im Evakostüm vor dem Hotelguru herumgetänzelt, hatte sich mit einem völlig Fremden ein Stelldichein geliefert, ihm mal eben nebenbei einen Heiratsantrag gemacht und nun - ließ sie das Handtuch sinken.

Ehe Audrette sich versah, hockte die Frau, mit einer Flasche neutralem Öl bewaffnet, auf deren Beinen und hinterließ mit weichen Händen auf ihrem Rücken einen wohligen Eindruck. Schon nach kurzer Zeit verfiel sie in eine tiefe Entspannung. Annemarie beließ es keinesfalls beim Rücken, arbeitete sich vor zu Po und Schenkeln.

»Vielleicht könnten Sie dort etwas zurückhaltender sein?«

»Nenn mich Annemarie, Schätzchen.«

»Oh Gott!« Jetzt gab es kein Entrinnen mehr. Flinke Finger massierten verbotenes Terrain, stießen zu jenem mystischen Punkt, der Schätzchens Haut zu einer erogenen Zone mutierte. Die hochbegabte Masseurin nahm sich ihren Anteil, dabei liebkoste sie die Früchte eines fremden Gartens. Völlig erledigt lagen die bebenden Leiber nebeneinander. Annemarie war von Audrettes femininen Körper angetan und endlich ließ sie von ihrer Beute ab, nahm noch eine Dusche und verwandelte sich indes in einen eiskalten Engel. Sie kleidete sich an, ohne die Andere noch eines Blickes zu würdigen. Sie hatte ihre Eroberung. Die berühmte Kerbe in der Bettkante.

Audrette verstand die Welt nicht mehr, fühlte sich gedemütigt, beraubt ihrer Seele. Tränen kullerten, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. So hatte sie sich das nicht vorgestellt mit der Observierung. Mit dem Gedanken an Amos weinte sie unter der Dusche vor sich hin, körperlich tief befriedigt aber weggeworfen wie ein dreckiger Lappen.

Dabei liebte sie den spleenigen Thüringer uneingeschränkt, die Angst verlassen zu werden, verdrängte sie. Der Fall Cappelmeyer verlangte geklärt zu werden, dafür wertete sie die gespeicherten Bilder auf dem Handy aus. Im Schnelldurchlauf durchsuchte sie die Fotos nach möglichen Verdächtigen. Da waren die alten Gesichter wieder, die Geschäftsreisenden vom Flug. Na, wenn das kein Zufall war. Maschinenbau ...?

Audrette legte sich einen Schlachtplan zurecht, auch unter der Prämisse, noch mal von Miss-schlimmer-Finger rangenommen zu werden. Sie plante, sich um eine Praktikumsstelle im Verlag zu bewerben, um näher an die Quelle des Geschehens heranzurücken. Ihr schwarzweißes Kleid drängte sich dazu gerade auf. Mit weichen Hüftschwüngen verdrehte sie Männlein und Weiblein im Nu den Kopf, sie wurde sofort vorgelassen. Bei der Personalreferentin spielte sie ihre Traumrolle als ehemalige persönliche Lektorin eines Bestseller-Autors.

»Was für ein Zufall, genau so jemanden suchen wir! Wir hatten vor, diesen Samstag eine Anzeige zu schalten. Sie schickt der Himmel, meine Gute. Sie können unserer Frau Seeling etwas unter die Arme greifen. Willkommen bei Kniebrecht.« Nach dem Handschlag folgte Audrettes großer Auftritt. Ihr wurde genau neben Frau Seeling ein eigenes schuhkartongroßes Büro zugewiesen mit einem Desktop-PC und einem antiquarischen Telefon. Wenigstens der Stuhl sah recht bequem aus.

»Die Kollegin ist zur Mittagspause. Sie wird sich nachher um Sie kümmern und Ihnen alles erklären.« Annemarie war um diese Zeit im Sportstudio, wo sie exzessiv Kickboxen und Crossfit betrieb.

»Das ist super. Ich freue mich schon, sie kennen zu lernen«, heuchelte sie.

»Der Kaffeeautomat steht gleich um die Ecke!«

»Prima, danke. Damit wäre mein Tag gerettet.« Audrette sollte einen der prestigeträchtigsten Autoren, die Kniebrecht unter Vertrag hatte, unterstützen. Zwei dicke Manuskripte türmten sich auf ihrem Schreibtisch, die sich beide vom Umfang nichts nahmen. Ein Manuskript von Herrn Amos Cappelmeyer, welch ein Zufall, und eins vom weltberühmten Autor Arvid Mattsson! Mattsson produzierte hochspannende Thriller am laufenden Band, jedes Jahr mindestens einen, und eroberte die Bestsellerlisten im Sturm. Im Gegensatz zu Amos, den es Mühe und Schweiß kostete, und der sich gerade so über Wasser halten konnte. Auf dem Manuskript von Amos klebte eine gelbe Haftnotiz mit handschriftlicher Bemerkung:

»Bitte den Eingang nicht bestätigen, A. Seeling!«

Was? Das konnte doch nur ein schlechter Witz sein, einem Autor den Eingang seines Manuskripts nicht zu bestätigen, obwohl vertragliche Vereinbarungen das klar regelten. Sie schoss ein Beweisfoto mit ihrem Handy. Dann ihre erst Amtshandlung heute: Der Eingang vom Manuskript »Schwerenot« wurde von Audrette per E-Mail bestätigt, und zwar an Herrn Cappelmeyer persönlich und seinem Anwalt/Notar in Thüringen. Dann widmete sie sich gespannt dem Manuskript Mattsson, fünfhundertundfünfzig Seiten geballte Energie, ein Thriller der Extraklasse. Die Handlung spielte in Norwegen und Dänemark. Es las sich mühelos, mit den Beinen auf der Schreibtischplatte und einer Tasse Mokkachino aus dem Automaten. Audrette war ein Feind von Süßigkeiten und Naschereien, sonst hätte sich eine Tüte Chips, die gab es in dem Kasten auch, sicher gut gemacht. Unbemerkt lehnte Frau Seeling in der Tür, das Gesicht spiegelte eine tickende Zeitbombe wieder.

»Was, zum Henker, tust du hier?«

Audrette knallte Frau Seeling die Tür vor der Nase zu.

»Arbeiten! Schätzchen, arbeiten.« Audrette vergewisserte sich, dass niemand sonst auf diesem Flur stand, und provozierte Frau Seeling bis zum Äußersten. Die war fassungslos, dass die Eroberung der letzten Nacht eine Entlastungskraft im Hause Kniebrecht sein sollte. Annemarie, die den Rausschmiss nicht verknusen konnte, zerrte ihre Mitstreiterin an den Haaren.

»Du Miststück! Was machst du mit dem Manuskript von Mattson? Das ist mein Projekt!«

»Jetzt wohl nicht mehr, schätze ich.« Audrette schlug ihre Knie gegen die Kniekehlen Annemaries, die daraufhin zusammensackte und mit dem Kinn auf die Schreibtischkante knallte. Autsch! Klassisches Knock-out. So, jetzt war Ruhe. PC aus und ein Anruf an einen alten Kollegen vom Secret Service, der bereits nach wenigen Minuten als Ersthelfer im Flur stand. Eine Spritze chemischen Inhalts würde Annemaries Erwachen hinauszögern.

»Bring sie raus. Wenn du angesprochen wirst, sag, ihr ist unwohl. Du bist der Bruder. Nicht weit von hier gibt es einen verlassenen Schrottplatz. Bereitet sie für ein Verhör vor - und keiner fasst sie an. Diese Frau gehört mir, verstanden! Wir treffen uns dort.«

Doch vorher wollte Sie unbedingt mit Arvid Mattsson telefonieren, diese Chance bot sich nicht wieder. Audrette blickte Mike nach, wie er mit Frau Seeling unter dem Arm verschwand. Ihre Füße schleiften über den Teppichboden. Audrette griff zum Hörer, führte das Ferngespräch.

Der Vorstand durchschritt nervös die Abteilungen, scheute sich aber, das wichtige Telefonat mit ihrem besonderen Schützling zu stören.

Sie verstand sich prima mit Arvid, die Chemie passte auf Anhieb. Sie lachte viel am Telefon, seiner Einladung gedachte sie aber nicht zu folgen. Energisch klopfte der Vorstand erneut.

»Wo steckt denn Frau Seeling? Sie müsste doch hier sein.«

»Frau Seeling? Ach, die gute Frau hat an ihrem Schreibtisch einen Schwächeanfall erlitten und ist nach Hause gegangen. Sie lässt sich entschuldigen.«

»Na so was. Sieht ihr gar nicht ähnlich. – Verzeihen Sie, mein Name ist Dr. Dietmar Klotzig. Ich bin dann wohl auch Ihr Boss für die nächste Zeit, Frau ...« Er zeichnete sich durch starkes Transpirieren aus und knetete pausenlos ein Stofftaschentuch, welches sicherlich schon triefte, wenn man seinen schwammigen Händedruck berücksichtigte.

»So wird es sein.«

»Das Manuskript von diesem Cappelmeyer. Ist es hier?«

»Ja, das liegt hier. Soll ich es nicht parallel bearbeiten?«

»Nein, nein. Geben Sie es mir.«

»Wie Sie meinen. Es klingt jedenfalls spannend.«

»Mag sein.« Klotzig winkte belanglos ab und verschwand mit dem Manuskript. Vorher beauftragte er sie, persönlich nach dem Wohlergehen der hochgeschätzten Frau Seeling zu sehen und händigte ihr die Adresse seiner Angestellten aus. Wie merkwürdig.

Wie befohlen ging sie zu Annemarie. Jedoch nicht zu ihr nach Hause.

Auf dem Schrottplatz traf Audrette ihre Agenten. Sämtliche Vorbereitungen waren abgeschlossen, nun warteten sie auf weitere Instruktionen. Ein zufriedenes Nicken der Chefin war der Dank.

»Raucherpause, Jungs. Verzieht euch.« Dabei schweifte ihr kalter Blick bereits über den makellosen Körper. Stählern war er, jeder Muskel darin dezent ausgeprägt, unterstrichen die athletische Figur. Der Anblick fesselte die Texanerin auf ungewöhnliche Weise, doch als sie sprach, war davon nichts zu spüren: »Na Honey? Wie sieht es aus? Leider muss ich dir jetzt ein kleines bisschen wehtun, aber ich werde vorsichtig mit dir umgehen. Versprochen.«

»Das brauchst du nicht. Mach nur deinen Job, Flittchen. Ich bin harte Sachen gewohnt, also tu dir keinen Abbruch!« Audrette trat noch einen Schritt näher an die Gefesselte heran, so dass sie ihren Atem spüren konnte. Sie hing fest in den Seilen, in Unterwäsche wie gewünscht, die Arme nach hinten gebunden, dadurch stachen ihre ansehnlichen Brüste hervor. Unter ihr stand ein altes Maschinenbecken, randvoll mit einer Brühe, welche unappetitlich grünbräunlich schimmerte.

»Also, was geht hier vor?«, hauchte die Gefangene. »Worauf sind Sie aus? Wollen Sie Geld?«

»Pah!« Die Texanerin streichelte Annemaries Gesicht, befreite sie von der überproportionalen Fensterglas-Nurd-Brille. »Die brauchst du nicht.« Die Haare wallten lose herunter. Audrette küsste zärtlich die spröden Lippen. »Nein, dein Geld will ich nicht. Antworten möchte ich haben.« Audrettes Hände glitten über Brust und Bauch von Annemarie, die sich bei der Berührung verkrampfte. Sie umschritt die hängende Schönheit. »Zier dich nicht. Alles was ich will, bekomme ich sowieso, Teuerste.«

Sie löste das Seil ohne Vorwarnung. Annemarie, die gerade protestieren wollte, kreischte kurz auf und tauchte in das Becken ein. Audrette zog in Zeitlupentempo den zappelnden Corpus in die Höhe. Die Gefangene hob ihren Oberkörper mit schierer Muskelkraft aus dem stinkenden Wasser, spuckte aus und keifte die Ermittlerin an:

»Du Schlampe, ich wäre beinahe ertrunken! Sei froh, dass ich gefesselt bin, sonst ...«

»Sonst was? Wendest du dann erneut deine Verführungskünste an?«

»Nein, du bist wertlos für mich, ich hatte dich schon. Ein zweites Mal kommst du nicht in Frage, so einfach ist das. Ich spucke dich aus, wie ein ausgelutschtes Kaugummi!« Doch ihre Körpersprache signalisierte Angst, die Muskeln zitterten. Große Klappe, nichts dahinter. Wie schade. Audrette erwischte sich dabei, verbotene Regungen für die Gefangene zu entwickeln.

»Wirklich schön, einfach perfekt.« Verdammt! Audrette verfluchte sich, ihre Gedanken laut ausgesprochen zu haben. Zehn Vaterunser! Nachdem sie bis zwanzig gezählt hatte, hievte sie Annemarie am Seilzug hoch, damit sie einander in die Augen sehen konnten. Die gequälten Lungen rangen noch verzweifelt nach Sauerstoff, doch Audrette stellte ihr ein unmissverständliches Ultimatum.

»Ab sofort hast du zu tun, was ich fordere, ansonsten bedeutet es dein Ende!« Um ihren Wünschen Nachdruck zu verleihen, ließ sie Annemarie erneut kopfüber in die stinkende Brühe hinab und zählte bis dreißig. Jetzt sollte sie bereit sein, das zu tun, was man von ihr verlangte. Mit Bibbern und Stottern sprengte sie die harte Schale entzwei.

»Antworten! Ich will Antworten.« Die Agentin brachte ihre wenigen Forderungen klar zum Ausdruck. Wildes Kopfnicken ihres Gegenübers bewertete sie als ja. »Also, du wirst das Manuskript von Amos Cappelmeyer abgestempelt an seine Adresse und eine Kopie an seinen Anwalt senden. Dein Chef hat es mitgenommen. Sieh zu, dass du es zurückbekommst. Wie, ist mir egal. Wenn du damit fertig bist, kommst du heute Abend in mein Hotel, hübsch angezogen, dann gehen wir essen. Du weißt ja, wo ich wohne. Danach bekomme ich eine Massage. Dein Körper gehört mir, Frau Seeling, kapiert! Gehst du fremd, schneide ich dir eigenhändig die Finger ab.« Die arme Frau wurde immer blasser, nickte. »Wäre wirklich äußerst bedauerlich.« Audrette hielt Annemarie ihre Kleidung entgegen. »Da, zieh dich an! Und dann kannst du mir noch eine Frage beantworten: Spät abends, du weißt, von welchem Abend ich rede, war ein angeblicher Ingenieur im Verlag. Du hast ihn hinaus begleitet. Was wollte der bei euch?«

»Was? Wer? Ich weiß nicht, wen du meinst«, heuchelte Annemarie, während sie sich die Sachen überzog.

»Tu nicht so. Ich habe dir doch was gesagt.«

»Ich weiß nichts darüber. Es war ein wichtiger Besuch, das ist alles. Der Chef hat alleine mit ihm gesprochen hinter verschlossenen Türen. Ehrlich.«

»Gut, ich glaube dir.« Arm in Arm gingen sie zum Auto, ganz wie alte Freundinnen, die sich nach langer Zeit wiedergefunden hatten. Im Verlauf der Fahrt folgte eine weitere Anweisung:

»Zu niemanden ein Sterbenswort! Ich werde dich finden, egal wo, zu jeder Zeit.« Dabei hielt sie ihrer Mitfahrerin die Dienstmarke unter die Nase. Die erbleichte eine weitere Nuance. »Und ich meine, was ich sage. Ab heute gehört dein Arsch mir, Annemarie, für immer. Pack nachher noch Schlafzeug zusammen. Du übernachtest bei mir im Hotel, ich will dich verwöhnen!« Die Angesprochene wurde rot, dann wieder blass und starrte auf ihre Hände.

»In Ordnung.«

»Wirklich?«

»Ja, alles klar. Wir machen es, wie du gesagt hast.« Audrette verlangte noch einen weiteren Kuss, dabei knetete sie ihren Schoß.

»Ach, Fräulein: Überall im Büro sind Wanzen platziert.«

So kehrte die Seeling an ihrem Arbeitsplatz zurück. Bis Feierabend blieben noch zwei Stunden Arbeitszeit. Über das Handydisplay beobachtete die Agentin die Komplizin aus dem Verlagshaus kommend, mit dem Manuskript unter dem rechten Arm.

»Braves Mädchen.« Die Frau steuerte direkt auf das nahegelegene Hotel zu.

Bei einsetzender Abenddämmerung fiel eine verängstigte Annemarie weinend ihrer Peinigerin in den Arm.

»Was ist denn passiert? Du hast doch das Manuskript, oder?«

»Ja, hab ich. Es ist hier in der Tasche. Nein, es geht um etwas ganz anderes.«

»Da bin ich gespannt. Dann setzten wir uns mal.« Audrette hatte unwissentlich eine Lawine losgetreten. Annemarie berichtete unter Tränen, ihr Freund Lukas habe sie vor eineinhalb Jahren verlassen.

»Für einen Kerl! Ist das zu fassen? - Wir waren verlobt! Er war meine große Liebe. Und seither, na ja, ...«, ... sei sie auf Frauenfang, legte jede ein einziges Mal flach und behandelt sie anschließend wie Dreck. »Das ist so falsch, ich weiß. Ich bin ein fürchterlicher Mensch.«

»Sag das nicht.« Ein Kuss sollte trösten, Audrette streifte ihr die Sachen ab und legten den vorzüglich gestählten Körper frei. »Vergiss den Kerl. Er ist es nicht wert.« Bedächtig streichelte sie die erregten Brustwarzen, touchierte ihren Beckenkamm, der danach erbarmungslos bebte. »Bist du immer so leicht erregbar?« Annemarie nickte heftig. »Fein. Dann zieh dich komplett aus.«

Heute war es anders, angenehm, aber längst nicht so befreiend wie beim ersten Mal. Annemarie hatte sich hingelegt, ihre Liebste folgte ihrer wohlgeformten Silhouette. Sie schmiegte sich an sie, beide ließen sich treiben mit der Massage. Funkelnde Blicke trafen sich, alles in dem Bewusstsein, dass es nicht für ewig sein sollte. Audrette fragte nur:

»Willst du Leben und glücklich sein oder unglücklich sein und kein Leben haben?« Annemarie hauchte mit sehr femininer Stimme:

»Leben und glücklich sein, natürlich. Was für eine Frage.«

»Na siehst du. Mit Sicherheit gibt es den perfekten Partner für dich und wahrscheinlich kenne ich den sogar. Ein Mann, total zärtlich, dabei sehr bodenständig. Keine klassische Augenweide, aber interessant. Ich beschütze ihn, weißt du.« Audrette streichelte ihr Gesicht, bewunderte ihr Haar, das einen herrlichen Glanz besaß, den sie selber nie hinbekam, allenfalls nach teuren, aufwendigen Friseurbesuchen. »Dieser Mann hat eine absolut gutherzige Frau verdient, die nicht auf Äußerlichkeiten achtet, sondern weiß, was Ehe bedeutet.« Ein tiefer Seufzer, dann brachte sie es auf den Punkt: »Sein kleiner Amos bewirkt Wunder.« Ein Lachanfall Annemaries sprengte die Ketten endgültig. Der Knoten war geplatzt.

»Das ist nicht dein Ernst! Willst du mich verschachern oder den Kerl um jeden Preis loswerden?«

»Weder noch. Ich möchte nur für die Zukunft vorsorgen.«

»Deine Sorgen will ich nicht haben«, murmelte Annemarie verständnislos, zurückverwandelt in die Person von einst, einer gutaussehenden Frau, die den Sinn für eine Partnerschaft zwischen Mann und Frau neu entdeckt hatte. Ihre Augen strahlten den Glanz vergangener Zeiten. Sie war bereit, sich selbst zu verzeihen, zu warten auf den Einen.

Die Sonne erkämpfte sich Platz zwischen den Wolken. Beide Frauen zogen sich an, betrachteten ihre femininen Körper. Unterschiedlich wie Tag und Nacht, doch jede auf ihre Weise perfekt. Nach einer Umarmung teilte Audrette ihre geheime Handynummer mit. Ein letzter Kuss:

»Warte, bis ich dich kontaktiere.«

»Ey ey, Captain.«

So kehrte Annemarie befreit von allen Lasten zurück an ihre Arbeit. Audrettes Laune vermieste der Anruf eines alten Kollegen vom BND.

»Du wolltest doch was über die Besucher bei Kniebrecht wissen?«

»Ja, und? Spann mich nicht auf die Folter.«

»Die ungewöhnlichsten Gäste waren eindeutig Landvermesser und Geologen, die sich mit der Geschäftsführung von Kniebrecht getroffen haben.«

»Interessant. Danke für die Info! Vortreffliche Arbeit.« Nur was sollte das mit Amos oder gar ihrer Schwester zutun haben? Immer mehr Fragen. Begierig durchforstete sie das Netz nach Antworten, ohne neue Erkenntnisse. Es war schwierig, weil sie nicht wusste, was sie eigentlich suchte. Stochern im Dunkeln nannte man das. Sie hatte selbstredend Herrn Cappelmeyer persönlich überprüft, mit ernüchterndem Resultat, wobei es zu berücksichtigen galt, dass er in der ehemaligen DDR aufgewachsen war. Es gab noch die berühmten Stasi-Akten ... Sie glaubte, den Faden verloren zu haben, da überschlugen sich die Ereignisse. Ein Anruf auf der geheimen Nummer:

»Süße, du musst aus dem Hotel verschwinden, sofort!«

»Aber, ...« Dann riss die Verbindung ab. Die Agentin fluchte ausgiebig, dann suchte sie eilig ihre paar Kleider zusammen und schlich aus dem Hintereingang. Annemarie rief erneut an, als Audrette an ihrem Wagen ankam. Sie benahm sich merkwürdig. Flüsterte. »Hörzu, ich kann nicht reden.« Dubiose Gestalten bedrohten ihren Chef, Dr. Klotzig, dabei ging es wieder um diesen drittklassigen Schriftsteller Cappelmeyer. Der Roman war nie ernsthaft gewünscht. Ein Bluff.

»Ich hab`s geahnt«, fauchte die Amerikanerin. »Diese miesen Ratten!« Soeben rutschte ein Puzzleteilchen auf seinen Platz.

»Das abgelieferte Skript ist brillant, ich hab es gelesen, doch das spielt keine Rolle. Denen geht es nur um ein Haus und Grundstück von dem, du weißt schon ...« Audrette schnaufte. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn für mich!«

»Eigenartig, ja. – Anni, denk mal ernsthaft über ein paar Tage Urlaub nach. Was hältst du von Ostdeutschland? Präziser, der wunderschönen Stadt Dresden? Weltkulturerbe, immer eine Reise wert?« Annemarie protestierte schwach, sah aber ein, dass an ihrem Arbeitsplatz etwas gehörig aus der Bahn geraten war. Besser, nicht dort zu sein, wenn die Eskalation den Höhepunkt erreichte.

Aufgewühlt grübelte Audrette über den Fall nach. Der schien irreal wie nur was. Es wurde Zeit, den Übeltätern das Handwerk zu legen. Sie war es leid, mit anzusehen, wie Menschen alles Erdenkliche anstellten, um ihre dubiosen Ziele zu erreichen. Meistens Macht und Geld. Geld und Macht. Welches Ziel hier verfolgt wurde? Audrette hatte eine Ahnung, doch wem konnte sie in dieser Sache trauen? Hinter Annemarie Seeling stand ein fettes Fragezeichen. Ihrer derzeitigen Einschätzung nach war die Frau nur unsagbar einsam und auf der Suche nach einem aufrichtigen Partner.

Audrettes Instinkte hatten ihr bislang gute Dienste geleistet. Diesmal signalisierten sie Verstärkung im großen Maßstab zu organisieren, bestehend aus ehemaligen Mitarbeitern des Service (CIA), der Agency (NSA) und anderen Diensten (MI 5, BND, Heeresnachrichtendienst HNA), die nichts mehr zu verlieren hatten, aber zumindest an das Gute glaubten. Agenten, gewohnt zu improvisieren und in der Lage, eine lückenlose Observierung ohne Aufsehen zu erledigen. Schließlich ging es um eine bedeutende Sache. Audrette hatte vor, sich mit der Stasi anzulegen. Ein Rundruf an die Ex-Kollegen/ - Konkurrenten war von Erfolg gekrönt. Binnen kurzer Zeit standen vierzehn Freiwillige parat, erfreut über eine kleine Abwechslung im Rentnerdasein. Der Begriff war irreführend. Nicht, dass alle das entsprechende Alter erreicht hatten, es gab unterschiedliche Gründe, den Dienst zu quittieren, siehe Audrette als bestes Beispiel. Nur durch eine kleine Flunkerei hatte sie ihre Dienstmarke behalten können, die sie auch heute noch gern einsetzte, wenn es hilfreich erschien. Es handelte sich bei den Kollegen, die ihr zur Seite standen, zu 90% um Männer im besten Alter, die alle, bis auf eine Ausnahme, in Europa weilten, teilweise in Deutschland, Österreich oder der Schweiz, was die Sache ungemein erleichterte. Allgemeiner Treffpunkt: Dresden.

Audrette benachrichtigte Annemarie: »Dein Urlaub. Dresden. Jetzt. Buch ein Doppelzimmer, ich komme bald möglichst nach.« Die packte ihre Arbeitstasche, kritzelte schnell noch etwas auf den Urlaubsantrag und verließ das Haus Kniebrecht, wie es ihr aufgetragen worden war, mit dem dumpfen Gefühl, dass es ein Abschied für immer werden könnte.

Aus den Kollegen Henry James aus den Staaten und Daniel Hufnagel, ein Ex-BND-ler, die beide schon in München eingetroffen waren, bildete Audrette ein Team. Den Männern fiel die Aufgabe zu, das Haus Kniebrecht rund um die Uhr zu überwachen. Jens Kühl´s Auftrag bestand darin, Audrette am Stadtrand Münchens aufzugabeln und nach Dresden zu bringen. Jens war ein Enddreißiger mit schütterem Haar, das er militärisch kurz trug, was ihm aber nicht schlecht stand. Auf der mehrstündigen Fahrt teilte sie ihre Erkenntnisse mit ihrem alten Weggefährten, berichtete vom plötzlichen Tod der geliebten Schwester, dem Vertrag mit Amos Cappelmeyer, von Frau Seeling. Jens nickte verständnisvoll und sein Hirn ratterte los. In diesem Moment rief der Sicherheitsmann aus dem Krankenhaus an. Zwei Personen hätten Erkundigungen über Cappelmeyers Gesundheitszustand einziehen wollen, ohne sich legitimieren zu können, weshalb die Ärzte die Unbefugten rauswarfen.

»Ich werd noch verrückt!« Audrette rieb sich die Augen. Jetzt mussten sie handeln, denn die wussten, wo er ist. »Wie geht es Amos denn?« Der Zustand des Patienten sei den Umständen entsprechend gut, er könne problemlos in ein anderes Krankenhaus verlegt werden.

»Super, so machen wir das. Lasst ihn nach Dresden bringen.«

Kurz darauf rief Annemarie an, sie habe im »La Tusch« eingecheckt, Zimmer 412. Audrette klappte die Kinnlade runter, als sie das hörte.

»La Tusch? Holy Shit! Bist du wahnsinnig? Den Schuppen kann ich mir nicht leisten!«

»Keine Panik auf der Titanic. Ich habe meine Kontakte, daher erlaube ich mir, dich einzuladen. – Und natürlich die komplette Mannschaft dazu.«

»Sicher? Ich meine, ...«

»Ich bin sicher. Nenn mir eine Zahl. Wie viele Zimmer brauchst du?«

»Keine Ahnung.« Für den Moment herrschte Sprachlosigkeit. Audrette sendete per SMS die Zahl 18. Achtzehn Leute, nicht achtzehn Zimmer. Eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Ok!«

Audrette brüllte: »Leck mich doch einer am Arsch!« Sie gab die Adresse in das Navi ein, Jens folgte der Route, anerkennend nickend.

»Gefällt mir, deine Freundin.«

Der Fall - Amos Cappelmeyer

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