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Kapitel Vier Begräbnis

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Die Morgensonne riss uns aus Morpheus' Armen. Unsere Bettdecke hatte sich längst auf den Fußboden verabschiedet. Audrette lag nackt, alle viere von sich gestreckt, mit offenem Mund, die Augenlider auf halbmast. Ein Bild für die Götter.

Glücklich, einander gefunden zu haben, nahmen wir eine gemeinsame Dusche. Behutsam mit unserer frischen Zuneigung trockneten wir uns gegenseitig ab. Ungern hatten wir uns angezogen, aber in ein paar Stunden sollten wir uns auf dem Wiener Zentralfriedhof, Karl Barromäus, einfinden.

Nach einem reichhaltigen Frühstück drängte die Zeit, die Verstorbene mit unserer Anwesenheit zu beehren, obwohl ich glaubte, dass es den Überresten herzlich egal war, wer oder ob überhaupt jemand dort erschien. Arm in Arm betraten wir das nächstgelegene Bekleidungsgeschäft, mit dem verheißungsvollen Namen Coppers & Schmith.

»Hier sind wir richtig. Schlicht, aber nicht zu billig soll es sein.« Audrette wählte einen schwarzen Anzug für mich, passend dazu glänzende Lederschuhe. »Ist das deine Größe?« Hundertprozentig. Alles passte, so machte Shoppen sogar spaß. Ein bestimmendes Heranwinken an ihre Kabine sollte einen unvergänglichen Eindruck vermitteln. Sie öffnete den Vorhang, um sich zu präsentieren. »Tada!« Da stand meine Angebetete, die Hüfte eingeknickt. Der aufreizende Panty umschmeichelte ihr zartes Becken, Strapse sollten später dazu auffordern, sie zu entkleiden. Ein dunkles, beinahe durchsichtiges Hemdchen unterstrich ihr Vorhaben. Sie war gerüstet, mich für immer einzufangen. Aber in Wahrheit war ich bereit, sie auf der Stelle zu vernaschen - noch in der Umkleidekabine.

»Hättest du gern, wie? Aber vergiss nicht, was du dir vorgenommen hast«, dabei zwinkerte sie mir vielsagend zu.

»Auf keinen Fall, Kleines.« Ich war zu leicht zu durchschauen, daran musste ich noch arbeiten. Zu guter Letzt streifte sie ein schwarzweißes Kleid über.

»Wow!«, entfuhr es mir. »Mega!« Die waghalsigen High Heels rundeten ihr Erscheinungsbild perfekt ab und zauberten Beine bis zum Himmel.

»Ist es nicht etwas too much

»Tu was? Ich finde es herausragend.«

»Gut, gekauft.« Ihre Platinkreditkarte beglich die stolze Summe von sechshunderteins Euro, dabei überschlug sich die Verkäuferin förmlich vor Höflichkeit. Audrette gab zwanzig Euro Trinkgeld, wobei das aufgesetzte Grinsen im pickligen Angesicht der Verkäuferin beinahe die Eiterbombe platzen ließ. Zum Schluss rückte ich meinen alten Stetson zurecht, somit war ich vorzüglich gekleidet, nur die Verfärbungen im Gesicht störten noch das Erscheinungsbild. Die Dame in der Boutique hatte uns ein Taxi bestellt. Türaufhaltend half ich der schönsten Frau der Welt, damit sie sich auf der Rückbank platzieren konnte. Hastig umrundete ich das Heck des Autos und rutschte neben sie.

»Zur Friedhofskirche zum Heiligen Karl Borromäus. Zügig, bitte«, wies Audrette an. Der imposante Friedhof am Rande Wiens beherbergte die Ehrengräber vieler bekannter Persönlichkeiten: Beethoven, Brahms, Mozart, Strauß (Vater und Sohn) und sollte bei keiner Städtetour ausgelassen werden.

Unser Fahrer schaltete den Taxameter ein, um gemächlich loszutuckern. Seine Augen klebten mehr am Rückspiegel, wie am fließenden Verkehr, was der emanzipierten Audrette ein Dorn im Auge war, daher dauerte es nicht lange, bis er ihre Ungeduld demonstriert bekam. Sie spreizte ihre Schenkel, so weit es der Schnitt des Kleides zuließ, dabei hielt sie die Neunmillimeter in der Hand, verdeckt von der Tasche. Sie erkundigte sich fürsorglich, ob er denn auch genug sehen würde. Ein kurzes Kopfnicken, mit geöffnetem Mundwinkel, mehr war von dem Stoffel nicht zu erwarten. Die Eier des Taxifahrers versperrten ihm scheinbar die Sicht. Audrette war es leid, rammte die Knarre in seine speckigen Rippen, flüsterten dem sabbernden Etwas den zu erreichenden Ort ins Ohr. Zur Erinnerung. Ein Raketenstart war die Folge, rote Ampeln existierten nicht mehr. Kein Verkehrszeichen hatte noch Gültigkeit. Acht Minuten später hielten wir am Ziel. Der Fahrer sah mitgenommen aus. Audrette warf ihm einen Zwanziger rüber und meinte großzügig:

»Passt so.« Dabei zeigte die Uhr eine Summe von 29,90 Euro, doch er widersprach nicht. Vor der Fahrertür bückte Audrette sich weit vorn über, um ihre Schuhe vom imaginären Staub zu befreien. Der bedauernswerte Taxifahrer konnte gar nicht anders und gaffte ihr verblendet in den Schoß. Hinter dem Wagen hatte sich ein kleiner Stau gebildet. Einer von den Wartenden wagte es, entnervt zu hupen, worauf der Kutscher erschrocken sein Fahrzeug in Bewegung setzte, ohne auf den Verkehr vor sich zu achten. Taxi und Streifenwagen kollidierten. Lächelnd hakte sich Audrette bei mir ein und wir spazierten zur Kirche.

Dieser beeindruckende Ort strotzte vor Geschichte. Der Himmel strahlte in makellosem Blau. Wenn der Anlass nicht so traurig gewesen wäre, müsste ich als Schriftsteller und Liebhaber der schönen Künste, fasziniert von der Schönheit des weitläufigen Areals Kenntnis nehmen. Jugendstilbauten, Alleen und über 330.000 Grabstellen. Das hätte ihrer Schwester gefallen, wusste Audrette besser als jeder andere zu beurteilen. Deshalb fiel die Wahl auf diesen speziellen Ort für die Gedenkfeier. Sozusagen Himmel und Hölle hatte sie in Bewegung gesetzt, dass alles vonstattenging, wie sie es sich vorstellte. Mehr war es nicht, nur eine Gedenkfeier mit einem leeren Sarg, schließlich blieb wenig für eine Beisetzung. Die sterblichen Überreste der stattlichen Hellen fanden in jedem handelsüblichen Schuhkarton platz. Ich schauderte und konzentrierte mich lieber auf den Weg, der vor meinen Füßen lag.

»Alles in Ordnung mir dir?« Audrette küsste mich zärtlich. Sie hatte schöne kleine Augen, braun, Wimpern dicht und lang zugleich. Erst jetzt fiel mir auf, sie hatte ihre Augenbrauen in Form gezupft. Vor der Kirche packte mich das Bedürfnis, sie im Arm zu halten, warnte sie eindringlich vor der nächsten Vereinigung. Sie schnitt eine Grimasse:

»Träum weiter, Kleiner. Das nächste Mal kommst du mir so leicht nicht davon!« Sollte mir das Angst einjagen? War sie eine von denen, die ihr wahres Gesicht nach dem dritten Treffen voll auslebte? Darüber hatte ich gelesen. »Amos, eine Sache noch, bevor wir da rein gehen.«

»Ja, was denn?«

»Würdest du mich heiraten?«

»Wie bitte?« Ich traute meinem Hörvermögen nicht und geriet ins Stolpern. »Heiraten? Jetzt schon? Du bist ja eine ganz Schnelle.«

»Frag nicht nach dem Warum.« Nein, ich fragte nicht, sondern ging mutig auf den Handel ein. Da das geklärt war, schien Audrette erleichtert und wir flanierten andächtig ins Innere der Kirche. Den Stetson setzte ich aus Respekt vor den Toten ab. Und die Hände hatten Beschäftigung, kneteten die Hutkrempe. Der Pfarrer diskutierte angestrengt mit Audrette. Scheinbar gab es ein Problem. Sie winkte mich heran, küsste mich sanft.

»Das ist mein Verlobter. Herr Pfarrer, ich bürge nicht nur mit meinem Namen. Herr Cappelmeyer ist ein erfolgreicher Autor in Deutschland und noch nie einer Seele etwas schuldig geblieben.«

»So ist es«, steuerte ich bei, ohne einen Schimmer, worum es ging. Audrettes Ausdruck hatte sich verändert. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Was ist denn los?«, doch sie war nicht bereit zu antworten.

Das Licht wurde heruntergedimmt. Für ein paar Minuten verharrten wir schweigend, Hand in Hand, trauerten, untermalt von Orgelmusik vom Band; sie um ihre Schwester und ich um meine schöne Unbekannte, die den Namen Hellen trug. In diesem Moment traf mich die Erinnerung an diesen gammeligen Zettel, den ich beim Anziehen des neuen Anzuges in dessen Innentasche gesteckt und bisher ignoriert hatte. Ich holte ihn hervor, entfaltete ihn und kniff die Augen zusammen. Der Text war kurz, hastig geschrieben und besagte:

»Mein lieber Traumpartner, bitte vergiss mich nicht. Kümmer dich um meine Schwester, sie ist stark, aber auch sehr zerbrechlich. In Liebe, deine Hellen.«

Ich heulte auf. Ein Wolf war ein Waisenknabe dagegen. Wie konnte Hellen ihren Tod vorhersehen? Unheimlich. Ich stupste Audrette an, reichte den Zettel an sie weiter. Sie las und schaute mich dann mit feuchten Augen an.

»Sag Amos, bist du sicher, dass du mich heiraten willst?«

»Ja, aber natürlich! Keine Frage, egal was geschieht.« Ein ziemlich intimer Moment, den zu genießen mir nicht vergönnt war, als die Kirchentür aufschwang, eine Kugel mich rücklings durchbohrte und mich Richtung Altar katapultierte. Das Projektil durchlöcherte meinen rechten Lungenflügel wie eine Dartscheibe. Beim Austritt erwischte es noch eine Rippe, riss drei pfeilartige Knochensplitter mit, die in den Altarkerzen zum Stecken kamen. Ein letzter Blick sollte Audrette aufmuntern, doch sie war völlig in ihrem Element. Geschosse flogen umher, denkmalgeschützter Putz rieselte. Nach etwa fünfzehn Sekunden herrschte Grabesstille. Der Pfarrer lugte hinter dem Altarstein hervor und bekreuzigte sich. Mit letzter Kraft rief ich meine Geliebte herbei, hauchte:

»Ja, ich Amos Cappelmeyer, will dich, Audrette Miller, zu meiner Ehefrau nehmen.« Dann verlor ich das Bewusstsein.

Der geschockte Pfarrer, ein Krankenwagen sowie Polizei waren prompt zur Stelle, um Erste Hilfe zu leisten. Der Rettungswagen beförderte Amos auf Wunsch von Audrette in das beste Krankenhaus der Stadt. Voraussetzung, Herr Cappelmeyer würde anonym eingeliefert werden. Sie hielt den verdutzten Ärzten ihren Secret–Service-Ausweis unter die Nase. Dass sie eine ruhende Agentin war, wusste offiziell niemand in Europa. Im Krankenhaus wirbelten die Götter in Weiß um den Patienten herum, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass er in Begleitung einer amerikanischen Geheimagentin war. Die ersten Bilder der Untersuchung zeigten, welches Glück das Opfer gehabt hatte. Ein Kinderspiel für die Ärzte, nach lediglich drei Stunden konnte der Patient den OP verlassen. Für die Heilung versetzte man ihn für ein paar Tage in ein künstliches Koma.

Audrette nutze ihre Beziehungen und postierte vor dem Krankenzimmer ranghohe Ex-Agenten, die, genau wie sie, deaktiviert, also im Ruhestand waren. Sie selbst ging auf die Jagd, ihr Blut brodelte. Sie war äußerst gründlich in dem, was sie tat, und sie wollte wissen, was es mit dem Vertrag, geschlossen zwischen dem Verlagshaus Kniebrecht und Herrn Cappelmeyer, auf sich hatte. Leider konnte sie das obskure Dokument bisher nicht persönlich lesen, würde das aber nachholen, wenn sie in München fertig war. Es war äußerst suspekt, dass ein namhaftes Haus wie Kniebrecht, solch zwielichtige Verträge ausgestaltete.

Sie forderte bei einem alten Freund einen Gefallen ein. Dieser Freund, nennen wir ihn Joe, hatte weniger als achtundvierzig Stunden Zeit, einen spannenden Roman unter der Mailadresse: Lektoren@Kniebrecht.de einzureichen. Unmöglich? Joe kannte Audrette viele Jahre und wenn sie anrief, brannte der Baum. Trotzdem erlaubte er sich die Frage: »Wer hat sich diesen Schwachsinn denn ausgedacht?«

»Frag nicht. Fang besser an zu schreiben.«

»So haben wir aber nicht gewettet«, beschwerte sich das Opfer. »Das kostet dich was extra, mein liebes Fräulein.«

»Stell dich nicht so an. Du brauchst nur die Rohfassung abliefern, den Rest übernimmt anschließend das Lektorat.«

»Wie großzügig. Ich glaube, du hast nicht den leisesten Schimmer, wovon du überhaupt sprichst, mein Engel.«

»Ich hab dich auch lieb«, dann legte Audrette auf. Auf Joe war verlass. Kein Zweifel, er würde sich den Arsch für sie aufreißen.

Sie nahm sich die Zeit innezuhalten und gedachte mit einem Gebet ihrer Schwester, danach galt die Hatz auf die Drahtzieher des Anschlags als eröffnet.

Die Spur wies, wie sollte es anders sein, auf das deutsche Verlagshaus. Audrette entschied, nach München zu fliegen, wo Kniebrecht seinen Stammsitz hatte. Sie beauftragte noch ihre Kollegen, die restliche Habe von Herrn Cappelmeyer aus dem »Hotel zur Schwalbe« abzuholen. Ein schriller Pfiff plus ihr gutes Aussehen sollte sicherstellen, dass ein Taxi zügig den Weg zu ihr fand. Ihre Laune sank weiter. Unfassbar! Wieder dieser schmierige Taxifahrer. Hatte Wien nicht mehr zu bieten?

»Sie schon wieder«, stöhnte der Chauffeur im gleichen Atemzug. Sein Namensschild lautete auf Harry Stöbsl. Er roch, als hätte er vor kurzem noch im Auto gequalmt.

»Ja, ich. Und ich bin in Eile.« Sie stieg genervt auf der Beifahrerseite ein. »Flughafen! Zügig und unfallfrei, wenn Sie dazu in der Lage sind.« Stöbsl war kein abergläubischer Mensch, aber er sah in ihr einen Fluch, bekreuzigte sich, schaltete den Taxameter ein und raste los, wie auf dem Formel Eins Kurs in Spielberg. Im Nu stoppten sie vor dem Abflugterminal. Heile, unversehrt und pünktlich. Audrette warf ihm einen Fünfziger zu. Erleichtert fuhr Harry los, starrte aber dummerweise mit einem Auge auf den Hüftschwung seiner Passagierin.

Diesmal schob er drei weitere Taxis zusammen.

Der Fall - Amos Cappelmeyer

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