Читать книгу Factory Town - Jon Bassoff - Страница 10

2. Kapitel

Оглавление

Weil mich niemand zu bemerken schien und niemand etwas sagte, zog ich die Tür auf und begann, auf einer langen Treppe in die Tiefe hinabzusteigen. Alles war dunkel, und die Stufen liefen hin und her, hin und her, immer weiter unter die Erde. Von den Betonmauern hallten das Fiepen von Ratten und das Knirschen meiner Sohlen wider. Ich hielt die Flamme eines billigen Plastikfeuerzeugs vor mich, aber der eisige Luftzug blies sie immer wieder aus. Vorsichtig trat ich auf die bröckeligen Stufen und hielt mich vorsichtshalber an dem Metallgeländer fest, das aber nach einer Weile im Nichts endete. Als mir das Feuerzeug runterfiel, glich ich einem Blinden, der mit jedem Schritt von einer Betonklippe stürzen konnte.

Beklommen setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg langsam tiefer in den Schacht. Stundenlang ging ich so dahin, meinte ich, war mir jedoch nicht sicher, doch als ich endgültig von Angst und Verzweiflung befallen war, sah ich ein Stückchen vor mir Licht glimmen.

Ich beschleunigte meine Schritte, und kurz darauf war die Treppe zu Ende, und ich stand vor einer morschen, schief in ihren Angeln hängenden Holztür. Ich trat dagegen, und die Tür flog krachend auf. Sie führte in einen Gang, dessen Wände erneut mit wilden Graffiti bedeckt waren und dessen Boden mit Sägespänen, Glasscherben, toten Nagern und Patronenhülsen übersät war. Das Atmen fiel mir schwer, die Luft war muffig, faulig.

Ein Stück weiter mündete der Gang in einen großen Raum, der von einer Reihe Taschenlampen erhellt wurde, die angeschaltet an mehreren Stellen auf dem Boden platziert waren. Die Wände waren verputzt, doch blätterte der Putz großflächig ab und legte die Ziegel frei. In der Raummitte standen fünfundzwanzig bis dreißig Reihen zersplitterter Holzstühle. Der Gang zwischen den Sitzreihen war mit rotem Teppich belegt. Die Kuppeldecke war aufwendig mit Mosaiken verziert, die zwar ausgebleicht, aber noch zu erkennen waren. Am Ende des Raums befand sich ein halb eingestürzter Balkon, der von fünf bis zum Boden reichenden Metallrohren gestützt wurde. Der Raum musste einmal ein Theater oder Kinosaal gewesen sein, aber jetzt gab es weder Bühne noch Leinwand, nur Schutt und Dreck.

Verwirrt und orientierungslos stand ich lange Zeit einfach da. Dann tat ich ein paar Schritte nach vorne. Sobald ich mich vom ersten Schock dieses Anblicks erholt hatte, erkannte ich in dem Verfall eine gewisse Schönheit. Ich atmete langsamer, tiefer, entspannte mich.

Ich ging weiter bis zu den Sitzreihen und nahm Platz. Während ich einfach vor mich hin starrte, zogen die Geister vergangener Tage vor meinem Gesicht vorbei. Sie lächelten fröhlich, nicht traurig. Ich schloss die Augen. Und bald nickte ich ein …

Es war ein traumloser Schlaf. Vielleicht schlief ich auch gar nicht. Ich spürte, wie mir jemand auf die Schulter tippte. Dann hörte ich eine seltsam vertraute Stimme. Was tun Sie hier, Mister? Wie haben Sie das hier überhaupt gefunden?

Ich drehte mich um und sah einen Jungen, höchstens acht oder neun Jahre alt. Er war als Superheld verkleidet, mit enger schwarzer Hose, rotem Oberteil, gelbem Cape. Auf dem Cape ein großes rotes A aus Klebeband, das sich stellenweise löste. Über dem Gesicht trug er eine schwarze Maske, ein billiges schwarzes Plastikding, das mit einem Gummiband an seinem Kopf befestigt war.

Ich … ich hab dich im Gang gesehen. Da bin ich neugierig geworden und bin dir gefolgt.

Das hätten Sie nicht tun dürfen. Ich hätte Sie töten können. Warum haben Sie das überhaupt getan?

Weil … weil ich mit dir reden wollte.

Dann arbeiten Sie nicht für den Cowboy?

Cowboy? Wer ist denn der Cowboy?

Sie dürfen keinem was von dem Versteck hier sagen, sagte er. Sonst wäre alles kaputt. Unser ganzer Plan.

Nein. Natürlich nicht.

Ohne Anzeichen von Angst setzte sich der Junge auf den Sitz neben mir. Er hatte pechschwarze Haare und einen traurigen Mund. Eins seiner Augen zuckte von Zeit zu Zeit.

Bestimmt bist du der Annullator, sagte ich.

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: Ja.

Gibt’s in der Stadt hier viele schlechte Menschen?

Er nickte.

Aber es gibt auch ein paar gute, oder? Diejenigen, die du beschützt.

Er überlegte kurz. Ein paar schon, sagte er. Aber nicht viele. Jedenfalls mehr schlechte als gute.

Ja, sagte ich. Das scheint überall auf der Welt so zu sein.

Wir saßen lange nebeneinander. Für mich war es sehr seltsam, in einem alten, verfallenden Theater inmitten eines alten, verfallenden Gebäudekomplexes mit dem Annullator zu sprechen. Er war der erste Superheld, dem ich begegnet war.

Wie sieht’s mit Waffen aus?, fragte ich. Hast du welche? Ich meine, du musst doch bestimmt gegen die Bösen kämpfen.

Er nickte. Ja, klar hab ich welche. Ich hab sogar viele Waffen.

Sofort ging er ein paar Sitzreihen nach hinten, griff unter einen Sitz und zog einen Pappkarton hervor, der mit seinem Erkennungs-A verziert war. Darin waren Schilde, Schwerter, Pistolen und Dolche, alle aus Plastik. Ich nickte. Du bist gut ausgerüstet. Jetzt verstehe ich, warum du der Beschützer bist.

Die Waffen sind schon okay, sagte er, aber ich hätte gern eine richtige Pistole und ein richtiges Schwert. Damit würde ich mich sicherer fühlen.

Was ist mit deinen Eltern? Wo sind sie? Wissen sie, dass du hier unten bist? So ein richtig guter Spielplatz ist das hier ja nicht, oder? Schau nur. Überall liegen Glasscherben. Tote Tiere. Patronenhülsen.

Der Junge schüttelte den Kopf. Hier verstecken wir uns nur. Es gibt nämlich nicht nur mich. Wir sind mindestens hundert. Hier unten haben wir unsere eigene kleine Welt. Das ist super. Hier können wir spielen. Murmeln. Räuber und Gendarm. Cowboy und Indianer. Und kein Erwachsener weiß, was wir tun. Das ist unsere eigene kleine Welt, verstehen Sie?

Hundert Kinder, sagst du? Aber wo sind die alle hin? Außer dir seh ich niemand.

Lächelnd schüttelte er den Kopf. Ach, hier gibt’s ganz viele Verstecke.

Wirklich? Warum verstecken sie sich denn?

Er schwieg längere Zeit. Weil sie Angst vor Ihnen haben.

Angst vor mir? Aber dafür gibt’s doch keinen Grund. Ich bin ja grad erst gekommen. Ich bin fremd hier. Die kennen mich gar nicht.

Klar haben sie Angst vor Ihnen. Wieso auch nicht? Wieso sollten sie keine Angst vor Ihnen haben? Sie machen schreckliche Sachen. Sie sind genau wie mein Vater. Sie sehen sogar aus wie er. Sie haben denselben Blick. Mein Vater ist schrecklich. Das sagt jeder. Wissen Sie, was mein Vater gemacht hat?

Ich bin fremd hier, sagte ich. Du kennst mich gar nicht. Und die anderen Kinder kennen mich auch nicht.

Er hat mich an die Heizung gekettet. Weil ich ihm auf die Nerven gegangen bin. Nur weil ich ihm auf die Nerven gegangen bin. Nichts als eine Schüssel Wasser hat er mir hingestellt, wie einem Hund. Die anderen Kinder sagen alle, dass das gemein war. Aber noch schlimmer war, was er mit meiner Mutter gemacht hat. Mir hat er wenigstens Murmeln geschenkt. Das war nett. Andere Väter tun nicht mal das.

Im selben Moment bemerkte er das zerknitterte Foto in meiner Hand. Was haben Sie da, Mister? Von wem ist das Foto?

Ich öffnete die Faust und reichte dem Jungen das Bild. Er betrachtete es aufmerksam.

Sie heißt Alana, sagte ich. Sie ist schon vor Jahren verschwunden. Das Bild zeigt, wie sie heute aussehen könnte. Es hat nicht viele Hinweise gegeben. Die Polizei hat die Suche mehr oder weniger eingestellt. Eine Schande ist das. Aber es gibt einfach immer mehr Verbrechen auf der Welt. Jetzt muss ich sie suchen. Schon seit mehr als sechs Jahren such ich nach ihr. Laut meinen Quellen ist sie hier in Factory Town.

Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, sagte der Junge. Ich glaube, ich hab schon mal mit ihr gespielt.

Ich ging in die Knie, sodass ich mit dem Jungen auf Augenhöhe war. Erzähl mir davon. Hast du wirklich schon mit ihr gespielt?

Ja. Na ja, ganz sicher weiß ich’s nicht, aber ich glaube …

Wo? Wann? Das ist sehr wichtig für mich, verstehst du? Jede Information, die ich von dir kriege, hilft mir weiter. Und wenn’s nur ganz wenig ist. Ich hab zwar ein paar Hinweise, aber …

Es war Räuber und Gendarm. Genau, das war’s. Sie war die Neue. Sie wollte eine Prinzessin sein. Aber dann hätten wir nicht spielen können. Die Neuen müssen immer die Räuber sein. Das ist die Regel. Wir haben’s ihr dauernd gesagt. Sie hätte auf uns hören sollen. Wir sind schon länger hier. Wir haben uns das aufgebaut.

Ich drängte ihn weiterzusprechen, aber er konnte oder wollte nicht mehr sagen.

Tu mir bitte einen Gefallen, sagte ich. Wenn du sie wiedersiehst, sag ihr, dass ich nach ihr suche. Ich heiße Russell Carver. Sie kennt meinen Namen.

Er nickte, aber sein Blick war jetzt leer, sein Mund stand offen.

Na gut, ich glaube, ich muss los. Es gibt noch ein paar Hinweise, denen ich nachgehen will …

Inzwischen war der Junge in seiner eigenen Welt. Er stierte vor sich hin, dann erhob er sich langsam von seinem Sitz und ging in den hinteren Teil des Saals. In einer Hand hielt er ein Schwert, in der anderen einen Schild. Er ging noch ein paar Schritte, dann begann er, wild mit dem Schwert herumzufuchteln. Offenbar war er mit einem der Bösen, von denen er gesprochen hatte, in einen Kampf verwickelt …

Dieser Böse hieß Dr. Devil und gehörte dem Führungszirkel der Roten Allianz an. Er war brutal und ein Bär von einem Mann mit kräftigen, tätowierten Armen, ledriger Haut, üblen Narben im Gesicht, und aus seinem Schädel wuchsen rote Hörner. Er war durch und durch böse – wer könnte je vergessen, auf welch grausame Art er den Leopardenmann umgebracht oder wie er der Blauen Patrone das schlagende Herz aus der Brust gerissen hatte? Nichts wäre ihm lieber, als auch den Annullator in die Liste seiner Opfer einzutragen.

Jetzt ging er mit wildem, ungezügeltem Hass auf unseren Helden los und bombardierte ihn mit Speeren, Dolchen und Feuerkugeln. Aber der Annullator war zu flink für ihn. Mit großer Gewandtheit wich er den Wurfgeschossen aus, schlug Rad und machte Handstandüberschläge, um der Gefahr auszuweichen. Im Hintergrund lief dramatische Orchestermusik. Und dann stürzte sich der Annullator mit der Kraft von einer Million Männern auf Dr. Devil, hämmerte ihm die Faust gegen das Kinn, und der Böse knallte auf den Betonboden. Ohne zu zögern, zog der Annullator, Beschützer von Factory Town, sein Schwert (ein Geschenk von Sir Lancelot höchstpersönlich), drückte dem Feind die Schwertspitze gegen die Kehle und sagte leise, beinahe flüsternd: Zeit zu sterben, Ausgeburt der Hölle.

Aber Dr. Devil lachte nur. Sterben?, sagte er. Dazu hast du doch nicht den Mumm. Verdammt, du konntest nicht mal deine eigene Mutter beschützen. Deine eigene Mutter! Ja, genau, ich war bei euch zu Hause, als sie geschlagen und getreten und gequält und verstümmelt wurde, bis sie nur noch ein Klumpen blutiges Fleisch war. Und du bist bloß danebengestanden und hast geglotzt und dir in die Hose gepisst! Ich war bei euch zu Hause, als sie aufgehört hat zu essen, gehungert hat, bis sie nur noch Haut und Knochen war und gestorben ist. Du bist ein verdammter Feigling, hörst du? Du warst zu feig, dich mit deinem Vater anzulegen, und jetzt bist zu feig, Dr. Devil fertigzumachen.

Aber da lag Dr. Devil falsch.

In einem Ausbruch wilden Zorns rammte der Annullator dem Monster das Schwert in den Hals, ließ es für einen langen Augenblick stecken und riss es dann heraus. Leidenschaftslos sah er zu, wie das Leben aus Dr. Devil herausspritzte. Noch hatte Dr. Devil die Kraft, sich an den Hals zu fassen und die Wunde zuzudrücken, aber es war vergeblich. Nach einer Weile zuckte er heftig, die geschwollene Zunge fiel ihm aus dem Mund, und er lag still da, während seine Seele in die Feuerschlünde gesaugt wurde.

Der Annullator hob sein blutrotes Schwert und schob es zurück in die Scheide. Er wischte sich die Stirn ab und blickte zum Himmel. Lieber Gott, er hat es nicht anders gewollt.

Von dem Schauspiel schockiert, ging ich langsam an dem Jungen vorbei zum Treppenhaus. Er hat mein Gehen gar nicht bemerkt, und wenn doch, sagte er nichts.

Factory Town

Подняться наверх