Читать книгу Factory Town - Jon Bassoff - Страница 8
Prolog
ОглавлениеAn dem Haus war nichts auffällig, nichts unterschied es von anderen Häusern in der Straße, von anderen in der Stadt. Zweistöckig, beige gestrichen, Doppelgarage, der Rasen davor ordentlich gemäht. In einem Zimmer im oberen Stockwerk brannte ein einziges trübes Licht, der Rest des Hauses lag im Dunkeln. Auf der anderen Straßenseite saß ein Mann in einem klapprigen alten Buick. Seine schwarzen Haare waren ungekämmt und zottelig, sein Gesicht war bleich und eingefallen. Schon eine Weile saß er da und starrte durch die regenschlierige Windschutzscheibe das Haus an. Außer seiner Abgaswölkchen hustenden Klapperkiste standen keine Fahrzeuge auf der Straße, gab es nicht das geringste Anzeichen von menschlichem Leben. Fast konnte man glauben, die Welt sei friedlich im Schlaf gestorben.
Schließlich machte der Mann den Motor aus, ließ aber den Schlüssel im Zündschloss. Er zog einen Flachmann aus dem Handschuhfach, nahm einen großen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann griff er in seine Jackentasche, fischte eine Zigarette heraus und steckte sie zwischen die Lippen. Er hielt den Zigarettenanzünder daran und zog so fest, dass der Tabak hellrot aufglühte. Gierig rauchte er, und nach wenigen Minuten war die Zigarette bis zum Filter heruntergebrannt. Er öffnete die Autotür und warf die Kippe auf den Gehweg. Dann saß er wieder lange Zeit nur da und sah dem Regen zu. Endlich stieg er aus und trat auf die stille Straße mit den stillen Häusern.
Langsam humpelte er durch den Vorgarten und mühte sich die Stufen zur Veranda hinauf, wo er fröstelnd und mit unstetem Blick stehen blieb. Mit zitternder Hand drückte er die Klingel, und das Läuten hallte durch das Haus. Als sich nichts rührte, schlug er mit der flachen Hand gegen die Tür.
Nach und nach gingen überall im Haus Lichter an. Schritte waren zu hören, dann ging die Tür auf. Hinter der Fliegentür stand eine alte Frau im Bademantel, einige Büschel ihrer vom Liegen platt gedrückten grauen Haare standen ihr vom Kopf ab. Als sie den Fremden auf der Veranda sah, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Ich … ich dachte, Sie wären mein Sohn, sagte sie. Er kommt manchmal, wenn –
Der Mann trat einen Schritt nach vorne, sodass er den Türrahmen ausfüllte. Die Frau stolperte nach hinten, dabei öffnete sich ihr Bademantel, Entsetzen trat in ihren Blick.
Wo ist das Mädchen?, fragte er.
Was für ein Mädchen? Ich weiß nicht. Ich –
Der Mann drängte sich an der Frau vorbei ins Haus. Einen Moment blieb er mit schlaff herabhängenden Armen stehen und wiegte den Oberkörper vor und zurück, dann ging er weiter. Wo ist das Mädchen?, wiederholte er. Wo ist sie, verdammt noch mal?
Sie schüttelte den Kopf und sagte: Hier ist kein Mädchen. Sie müssen sich irren. Das ist die falsche Adresse.
Halten Sie den Mund, sagte er. Sie ist hier irgendwo. Das ist mein Haus. Ich wohne hier. Wo haben Sie sie versteckt?
In den nächsten paar Minuten durchsuchte der Mann das Haus, ging in jedes Zimmer, riss Bettdecken und Laken weg, zerrte Schreibtisch- und Kommodenschubladen heraus und öffnete Schranktüren. Dabei murmelte er die ganze Zeit vor sich hin, ein unverständliches Gebrabbel, nur gelegentlich hielt er inne, um wütend aufzustampfen.
Aber das Mädchen war nicht im Haus. Niemand außer der alten Frau war da.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf einen Stuhl. Seine Unterlippe zitterte, sein linkes Auge zuckte. Immer wieder rieb er mit beiden Händen über sein bleiches Gesicht.
Die suchen nach mir, sagte er mit kaum hörbarer Stimme. Alle, jeder von denen. Und wenn sie mich finden, geht’s mir an den Kragen, das weiß ich. Die werden mich foltern. Und bei lebendigem Leib begraben. Da wär ich auch nicht der Erste. Aber sie werden mich nicht finden. Oh nein. Dafür werde ich schon sorgen.
Der Mann hob den Kopf und sah die Frau an, die jetzt mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Ihre Beine zitterten heftig.
Ich könnte einen Drink vertragen. Haben Sie was?
Nur … nur Wein.
Ist in Ordnung. Bringen Sie mir die Flasche.
Einen Moment später kehrte sie mit einer Flasche Rotwein zurück, von der höchstens ein Glas getrunken worden war, und reichte sie ihm. Er zog den Korken heraus und setzte die Flasche an. Er trank und trank, bis sie fast leer war. Dann stierte er vor sich hin, und der Ausdruck auf seinem abgehärmten Gesicht wurde immer trüber. Draußen prasselte der Regen auf den Asphalt, und es blitzte, ohne zu donnern.
Ich habe schreckliche Dinge getan, sagte er. Dinge, auf die ich nicht stolz bin, die anderen wehgetan haben.
Die Frau nickte. Das ist in Ordnung, sagte sie leise. Wir alle haben Fehler gemacht.
Der Mann starrte zu Boden und ballte die Fäuste. Das Haus hier. Ich wohne hier gar nicht mehr, oder? Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.
Sie schüttelte den Kopf. Nein, Mister. Ich glaube nicht. Ich wohne hier schon sechs Jahre.
Als er langsam nickte, huschte ein dünnes, trauriges Lächeln über sein Gesicht. Wirklich, sechs Jahre? So lange ist das her?
Ja. Mein Mann und ich sind aus Pennsylvania hergezogen. Das war, bevor er –
Aber der Mann hörte nicht zu, sondern sah sich plötzlich mit panischem Blick um. Er stand vom Stuhl auf, ließ sich auf die Knie nieder und legte sich auf den Bauch, um ein Ohr auf den Boden zu pressen. Lange verharrte er so, das Grauen stand ihm im Gesicht. Hören Sie sie auch? Na, hören Sie sie? Die sind schon um die Ecke.
Doch zu hören war nur das leise Pfeifen eines Zugs in der Ferne. Er sprang wieder auf und rannte zum Fenster. Riss die Vorhänge zurück und starrte durch die dunklen Scheiben. Machen Sie alle Lichter aus, sagte er. Schnell!
Die Frau gehorchte. Sie kommen, sagte er. Und sie haben Fackeln, Säcke und Gewehre dabei. Eins ist sicher: Am Ende kommt doch keiner davon.
Nach einem kurzen Blick auf die Frau spähte er erneut aus dem Fenster. Dann zog er die Vorhänge wieder zu und fing an, im Zimmer auf und ab zu laufen. Dabei rieb er sich die Hände und brabbelte leise vor sich hin. Ohne Vorwarnung griff er unter sein Hemd und holte eine Pistole hervor. Die Frau schnappte nach Luft. Er warf das Magazin aus und prüfte es, dann schob er es zurück in den Griff, bis es einrastete.
Ich möchte Sie was fragen, sagte er. Wissen Sie, wer ich bin? Was ich getan habe?
Sie schüttelte den Kopf. Nein. Ich –
Wissen Sie, was ich getan habe? Jetzt schrie er es.
Ich … ich weiß überhaupt nichts.
Darauf nickte er sehr, sehr lange. Schließlich setzte er sich die Pistole an die Schläfe. Im Diesseits und im Jenseits, sagte er, bevor er abdrückte. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, und er sackte zu Boden. Das Blut aus dem Loch in seiner Schläfe spritzte über den Teppich, die Vorhänge und die Wand.
Plötzlich war alles still. Nur die Uhr tickte. Als sie den Kopf drehte, um auf die Uhr zu sehen, hielt die Frau noch immer die Hand über den Mund. Erst da nahm sie sie langsam weg. Es ist elf Uhr siebenundfünfzig, sagte sie zu niemandem. Kurz vor Mitternacht. Dann wandte sie sich wieder dem Mann zu. Sein Gesicht war in einer grotesken Fratze erstarrt. Unfähig den Blick von ihm zu wenden, starrte sie ihn an. Und dann sah sie ihn einmal blinzeln. Und noch einmal …