Читать книгу Factory Town - Jon Bassoff - Страница 11

3. Kapitel

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Ich lief so hastig die Treppe hinauf, dass ich vor Anstrengung außer Atem geriet. Durchs Treppenhaus hallten die merkwürdigsten Geräusche: eine Arien singende Frauenstimme, die Lachkonserve einer Fernsehserie, eine klappernde Schreibmaschine. Zu guter Letzt kam ich an eine Tür, die ich aufstieß, aber sobald ich in den Gang getreten war, merkte ich, dass ich auf einer anderen Etage war. Mit dem vertrauten Gefühl von Angst ging ich ziellos durch den dunklen Gang. Auf der Suche nach einem Ausgang aus dem Gebäude geriet ich in immer neue Sackgassen und an falsche Türen, und ich wurde immer niedergeschlagener. Mehr als einmal kam ich sogar an eine Tür, die sich öffnen ließ, aber nur um jedes Mal vor einem Vorratsraum oder einer Haustechnikkammer zu stehen.

Auf diese Weise verging viel Zeit, bis ich zu meiner großen Erleichterung den unverkennbaren Schimmer von Licht mit den gespenstergleich aufstiebenden Staubpartikeln sah. Ich drückte die schwere Stahltür auf und trat ins Freie.

Ich atmete auf. Als ich mich umsah, begriff ich, dass ich wieder in der Stadtmitte war, doch jetzt sah alles irgendwie anders aus. Wieder fühlte ich mich wie ein Fremder.

Von außen ähnelte das Gebäude, aus dem ich gekommen war, jetzt einem aufgegebenen Krankenhaus. Drei Stockwerke, grauer Backstein, an jedem Giebelende ein hoher Schornstein. Vom Hauptgebäude gingen Flügel ab, die von absterbendem Efeu überwuchert waren. Viele Fensterscheiben waren zerbrochen, alle vergittert. Hinter dem Komplex erhob sich die Fabrik, ein turmhoher Koloss aus verzogenem Stahl, Laufgittern, gebogenen Rohren und Schloten.

Lange stand ich einfach da und starrte wie gebannt auf die Fabrik. Allem Anschein nach war sie verlassen, aufgegeben, doch dann bemerkte ich im trüben Licht der Mondsichel und der wenigen Sterne dünne Rauchfahnen, die aus den Schloten aufstiegen. Innerlich erschauerte ich, und im nächsten Moment wusste ich, dass mich diese Kälte nie wieder verlassen würde. Je länger ich die Fabrik anstarrte, desto klarer wurde mir, dass darin etwas geschah. Etwas Schreckliches geschah. Alle Geheimnisse der Welt waren hinter diesen Fabrikmauern verborgen, und ich, ich musste herausfinden, was …

Es war spätnachts oder frühmorgens, und ich war hungrig und müde. Ich ging über Straßen voll Schlaglöchern und Gehwege, die übersät waren mit Glasscherben, ausländischen Zeitungen, toten Vögeln und abgetragenen Schuhen. Mein Blick blieb stets auf die Fabrik gerichtet, aber egal wie lange ich ging, immer schien sie außer Reichweite zu bleiben, in weiter Ferne zu liegen.

Ich lenkte meine Gedanken auf mich und dachte an meine Aufgabe, die Suche nach dem Mädchen. Sofort befiel mich die Sorge, man könnte sie in ein Abraumbecken geworfen oder, noch schlimmer, unter Beton begraben haben. In meinen Ängsten gefangen, ging ich gefühlt immer im Kreis durch die Stadt, doch als ich aufsah, war die Fabrik aus meinem Blick verschwunden. Nicht einmal das Stadtzentrum war noch zu sehen. Ich riss mich zusammen und stellte fest, dass ich in einem alten, verkommenen Wohnviertel angelangt war. Es wehte ein kalter Wind, in dem ein paar sterbenskranke Schwarzpappeln träge schwankten. Ich sah eine Reihe dunkler einstöckiger Ranchhäuser mit Vorgärten, die aus nichts als Dreck und Unkraut bestanden. Irgendwo kämpften Katzen auf Leben und Tod. Eine Blechbüchse kollerte über den Gehweg. Sie blieb kurz vor meinen Füßen liegen, dann rollte sie weiter.

Ich hatte mich verlaufen. Ich überlegte, ob ich zu einem Haus gehen und anklopfen sollte, aber ich hatte zu viel Angst, dass jemand die Tür öffnete, der mit einem Gewehr oder einer Pistole bewaffnet war, während ich nichts hatte.

Plötzlich hörte ich leise Musik. Zuerst hielt ich es für Einbildung, doch als ich weiterging, wurde die Musik lauter, klarer. Es klang wie Doo Wop aus den Fünfzigern, untermalt von Gelächter.

Ich ging schneller. Immer der Musik nach lief ich über einen Rasen, auf dem Bierdosen und Werkzeuge herumlagen. In der Dunkelheit begann ein Pitbull zu bellen und zu knurren. Er stürzte immer wieder auf mich zu und hätte mich am liebsten zerfleischt, aber weil er an einen Pfahl gekettet war, konnte er nichts weiter tun, als sich fast zu erdrosseln. Ich sprang über den Zaun und lief über ein gefrorenes Feld und einen kleinen Graben entlang, bis ich ein großes Farmhaus mit hell erleuchteten Fenstern sah. Von dort stieg die Musik in den Nachthimmel auf.

Mit großen Augen und offenem Mund tat ich einen weiteren Schritt nach vorne, stolperte jedoch und wäre beinahe mit dem Gesicht voran auf das gefrorene Feld gefallen. Als ich mich auf die Knie hochrappelte und umdrehte, sah ich, dass ich über die Beine eines Mannes gestolpert war. Gegen einen Baumstamm gelehnt dasitzend, der Kopf auf die Brust gesunken, sah er aus wie tot.

Er trug einen Overall, aber trotz der Eiseskälte keine Jacke. Es hatte bestimmt einige Minusgrade. Sein Gesicht war bleich und wächsern. Ich robbte neben ihn und sagte: Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Keine Antwort. Ich rutschte näher und tippte an sein Knie. Mister? Nichts. Ich starrte auf seine Brust, seine Schultern, seinen Mund, prüfte, ob er atmete. Nichts.

Ich setzte mich auf, holte mehrmals tief Luft und überlegte. An dieser Stadt war alles merkwürdig, nichts ergab Sinn. Was würde geschehen, wenn ich zu diesem Haus ginge und sagte, dass auf dem Feld ein Toter lag? Würde man womöglich mich für den Mörder halten? In so einer Stadt waren Fremde sicher nicht willkommen, davon konnte man ausgehen. Würde man die Polizei rufen? Einen Krankenwagen? Gab es in dieser Stadt überhaupt eine Polizei?

Mit zitternden Knien stand ich auf. Und genau in diesem Moment fuhr der Kopf des Toten hoch, seine Augenlider klappten auf, und die Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.

Meine Güte, Russell, sagte er. Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.

Zu Tode erschrocken sprang ich zurück. Ein paar Sekunden geschah gar nichts. Der Mann grinste bloß. Endlich erkannte ich ihn. Charlie Gardner, ein Freund aus Kindertagen, den ich jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Ich seufzte erleichtert.

Charlie, sagte ich. Was machst du denn hier?

Er grinste weiter, dann schüttelte er den Kopf. Ach, ich hab nur einen Jux gemacht. Ich wollte ein bisschen frische Luft schnappen, und als ich gesehen hab, dass du hier rumläufst, dachte ich, ha, ich erschreck dich mal. Hat ja auch geklappt, was?

Das kann man wohl sagen. Aber ich meinte eigentlich, was machst du hier in Factory Town?

Charlies Augen verengten sich zu Schlitzen, und er schüttelte den Kopf. Wovon redest du da, Russell? Ich bin nie weg aus Factory Town. Na ja, abgesehen von den paar Jahren in der Army. Das war vielleicht ein Höllenritt. Ich sag’s dir, ein echter Höllenritt. Ich hab einen Menschen getötet. Kannst du dir das vorstellen? Mitten in die Brust hab ich ihn geschossen. Ich hätt nie gedacht, dass ich mal einen umbring …

Ich deutete auf das hell erleuchtete Haus. Die Musik und das Lachen waren lauter als zuvor. Was ist da drin los?, fragte ich. Eine Feier?

Eine Feier? Nein, nicht ganz. Unser Kartenabend. Den veranstalten wir jeden Dienstag. Da kommt die halbe Stadt. Sogar die Aasgeier.

Die Aasgeier?

Wir spielen nur um kleine Einsätze, Russell. Schon mit zwanzig Dollar ist man dabei. Sag mal, warum kommst du nicht mit? Ist echt lustig. Gibt hier ja nicht viele Gelegenheiten zum Feiern. Und ich kann dich mit ein paar wichtigen Leuten bekannt machen.

Ich weiß nicht, sagte ich. Vielleicht sollte ich lieber wieder in die Stadt und mir was suchen, wo ich mich aufs Ohr hauen kann. Ich hab seit Ewigkeiten nicht mehr richtig geschlafen. Ich muss mich ein bisschen ausruhen und dann mit meinen Ermittlungen weitermachen.

Charlie strich seine fettigen blonden Haare zurück und sinnierte eine Weile. Du brauchst einen Schlafplatz? Zum Teufel, Russell, bei mir ist Platz genug, und ich wohn sogar hier in der Gegend. Du kennst doch mein Haus, oder?

Ich wusste nicht, wovon er sprach, aber das wollte ich mir nicht anmerken lassen. Klar, sagte ich, das kenn ich gut.

Na, dann abgemacht. Wir zocken ein paar Runden und trinken ein paar Gläser White Whiskey, und dann hauen wir uns bei mir aufs Ohr. Jetzt fällt mir ein, du könntest ja bei meiner Mom im Zimmer schlafen. Du erinnerst dich doch an sie, Kumpel?

Na klar.

Sie hat sich ziemlich verändert. Sie ist nicht mehr die Frau, die du kanntest. Sie ist krank, sehr krank.

Das tut mir leid.

Es ist eine Geisteskrankheit. Da kann man nichts machen. Das macht einen völlig hilflos. Ein gebrochenes Bein kriegt man wieder hin, aber wenn was im Kopf nicht mehr stimmt …

Wir gingen langsam auf das Haus zu. Alle paar Minuten blieb Charlie stehen und nahm einen winzigen Schluck aus einem Flachmann aus Metall. Ich sah den Mond hinter Dunst und Nebel verschwinden. Der Kies knirschte unter unseren Schuhen. Als Charlie erneut das Wort ergriff, sprach er verschwörerisch leise. Sag mal, Russell, bist du je solide geworden? So mit Frau und so?

Ja, Charlie, eine Zeit lang war ich sogar verheiratet.

Aber?

Es hat nicht gehalten. Aber was ist schon für ewig?

Nur die Verdammnis.

Wir erreichten das Haus. Ein halb zusammengebrochener Lattenzaun, von dem die weiße Farbe blätterte, umgab das Grundstück. Die umlaufende Veranda hing durch und war stellenweise verrottet. Die alte Farm war seit Langem sich selbst überlassen und hatte den Widerstand aufgegeben. Aber heute war Hochbetrieb, alles war hell erleuchtet und von Musik und Lachen erfüllt.

Ich folgte Charlie über den Rasen zur Veranda. Dort saßen fünf Männer und eine Frau – sie war zahnlos, und die Haare gingen ihr aus –, tranken Whiskey und sprachen über Autos. Als sie mich sahen, erstarb das Gespräch. Argwöhnisch beäugten sie mich, den Außenseiter.

Charlie sagte: Leute, das ist Russell Carver, ein alter Kumpel von mir. Wir hatten schon viel Spaß miteinander, richtig viel Spaß, das kann ich euch sagen. Er ist eine Weile in Factory Town zu Besuch, und es wäre echt nett von euch, wenn ihr ihn bei uns freundlich aufnehmt. Wie gesagt, er ist ein alter Kumpel von mir.

Freut mich, sagte ich, während sie mir alle gleichzeitig zunickten. Kurz standen wir verlegen da, und keiner sagte etwas, bis einer der Männer, ein klapperdürres Gestell mit nur einem Auge und einem Bein, aber Gott sei Dank zwei Armen, sagte: Und was führt Sie zu uns nach Factory Town, Mister?

Ich untersuche einen Vermisstenfall, sagte ich. Ein Mädchen namens Alana. Sie ist schon eine ganze Weile verschwunden. Ich hab zuverlässige Informationen, dass sie hier ist, in Factory Town. Aber bisher habe ich sie noch nicht gefunden.

Dann sind Sie ein Detektiv?

Eigentlich nicht. Ich –

Ich hab noch nie von ’nem Mädchen gehört, das Alana heißt, sagte ein anderer Mann. Er hatte eine Maiskolbenpfeife im Mund und war bleich wie ein Gespenst. Und so ’nen Namen hätt ich mir gemerkt, drauf können Sie einen lassen.

Ich hab ein Foto, sagte ich. Vielmehr ein Computerbild. So wie sie heute aussehen würde. Wollen Sie’s mal ansehen?

Ich zog das knittrige Foto heraus und reichte es dem dürren Mann, der es an die anderen weiterreichte. Jeder von ihnen nahm es in die Hand, aber niemand sah es an.

Nee, sagte das Gespenst. Keiner von uns hat die gesehen, das ist mal sicher. Besser, Sie suchen woanders weiter. Wie gesagt, ich würd mich erinnern, wenn ich sie gesehen hätt. Hab ich aber nicht. Hat keiner von uns.

Sie haben doch nicht mal einen Blick auf das Foto geworfen, sagte ich. Kein Einziger von Ihnen.

Also, das ist nicht richtig, sagte der Dürre. Wir haben’s alle angesehen, selbstverständlich haben wir das.

Sie ist in Gefahr, sagte ich, in großer Gefahr, und ich kann sie nicht retten, wenn hier alle etwas vor mir verbergen oder jemanden schützen.

Es herrschte längeres Schweigen, ehe die Frau das Wort ergriff: Mr. Carver, wir verbergen gar nichts. Hier gibt’s nichts zu verbergen. Im Gegenteil, Sie sind’s doch, der was verbirgt. Halten Sie sich nicht für oberschlau. Wir haben Sie längst durchschaut. Jeder mit ein bisschen Grips kann das.

Ich riss der Frau das Foto aus der Hand und steckte es zurück in meine Jackentasche. Ich war wütend, aber ich beherrschte mich.

Wir haben alle unsere Geheimnisse, sagte ich, und das schien dieses Pack zu besänftigen. Charlie nahm mich an der Schulter, und wir gingen über die Veranda zur Fliegentür, die schlaff in ihren Angeln hing und auf und zu schlug, und dann traten wir ins Haus.

Drinnen waren unzählige Menschen, die herumstanden und Bier und Whiskey tranken, sich gegenseitig auf den Rücken klopften oder ungelenk tanzten. Die Musik, von der ich gedacht hatte, sie käme aus dem Radio, stammte von vier a cappella singenden Schwarzen in identischen lila Anzügen auf einer improvisierten Bühne.

Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass es weder Möbel noch Teppiche oder Fotos gab. Mehrere Fenster waren eingeschlagen. Kühlschrank und Herd in der Küche waren irreparabel kaputt. Beide hatten keine Türen mehr, Drähte und Kabel lagen offen und standen in alle Richtungen ab.

Charlie führte mich herum und stellte mich Leuten vor, deren Namen ich im selben Moment, in dem er sie sagte, wieder vergaß. Ich holte mir eine Coca-Cola aus einem Schrank und mischte mich unter die Menge. Ohne zu wissen, was ich tun sollte, stand ich unschlüssig herum.

Schließlich setzte ich mich erschöpft in eine Ecke, hörte der Musik zu und trank meine Cola. Leute gingen an mir vorbei oder stiegen über mich drüber. Ich zog das Foto heraus und betrachtete es erneut. Auf einmal bemerkte ich, dass sich das Foto verändert hatte. In Alanas Gesicht, auf dem lange Zeit ein Ausdruck unschuldiger Freude gelegen hatte, war blankes Entsetzen getreten, ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihr Mund hatte sich zu einem stummen Schrei geöffnet. Und wenn man genau hinsah und das Foto lange anstarrte, erkannte man direkt hinter dem Mädchen die unscharfe Silhouette eines Mannes.

Factory Town

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