Читать книгу Factory Town - Jon Bassoff - Страница 13

5. Kapitel

Оглавление

Der Gang war jetzt mit Menschen gefüllt, aber sie alle waren still, standen an die Wand gelehnt da und blickten in dieselbe Richtung. Es waren unverkennbar die Schreie einer Frau, aber sie schrie vor Schmerz, nicht vor Lust. Keiner der im Gang Herumstehenden machte Anstalten, dem Aufruhr nachzugehen. Vielmehr schüttelten sie missbilligend den Kopf, als ich durch den Gang rannte, sahen sich an und begannen zu murren. Bei einem Blick über meine Schulter sah ich, dass der Sheriff und seine Spielkumpane aus dem Kartenzimmer gekommen waren. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte mir nach, ohne die Miene zu verziehen oder etwas zu meiner Unterstützung zu unternehmen.

Dann hörten die Schreie auf. Plötzlich war es vollkommen still. Ich verlangsamte meine Schritte, ging aber weiter, um die bedrohte Frau zu finden. War sie so übel zugerichtet worden, dass sie nicht mehr schreien konnte? Ich drehte mich wieder um. Die vielen Leute, die eben noch an der Wand gelehnt hatten, waren auf einmal verschwunden, entweder ein Stockwerk tiefer oder in eines der angrenzenden Zimmer gegangen. Ich war allein. Als ich weiterging, bemerkte ich aus dem Augenwinkel ein Foto an der Wand. Ein Junge, sechs oder sieben Jahre alt, der ein verächtliches Gesicht schnitt. Hinter dem Jungen waren eine Schaukel aus Metall und ein Meer aus Gras zu sehen, ein unendliches Meer aus Gras. Und der Junge auf dem Bild war ich.

Ich konnte mich nicht erinnern, wo und wann dieses Foto aufgenommen worden war, aber das Foto selbst kannte ich. Mein Blick glitt über die restliche Wand. Weitere Bilder von mir und meiner Familie. Als ich den Kopf in den Nacken legte, sah ich an der Decke die wohlvertrauten Fliesen mit Blumenmuster. Jetzt wurde mir klar, dass ich im Haus meiner Kindheit war. Ich hatte es nicht erkannt, weil es in einem so desolaten Zustand war, aber inzwischen sah ich immer klarer, und weitere Erinnerungen stellten sich ein. Wie ich stundenlang mit meinen heiß geliebten Superheldenfiguren spielte, die ich die Wände hochklettern ließ, um alles Böse um uns zu vernichten. Wie ich in der Kinderzimmerecke saß und Abenteuergeschichten schrieb und mit meinen Buntstiftstummeln illustrierte. Wie ich meine geliebten Comics las: Spiderman, Batman, Superman, die Fantastischen Vier und … So viele Stunden allein. Weil meine Mutter krank war. Weil mein Vater … Neuerliche Schreie rissen mich aus meinen Gedanken.

Sie kamen aus dem Zimmer direkt vor mir. Lauter als zuvor. Und zwischen den Schreien und dem Japsen nach Luft Rufe um Hilfe, Hilfe. Ich wollte den Türknauf drehen, aber die Tür war abgesperrt. Ich klopfte dagegen, immer fester und lauter, bis meine Hände schmerzten. Keine Antwort, nur weitere Schreie. Eines war klar: Außer mir würde niemand dieser Frau helfen. Sie würden sie sogar sterben lassen. Ich begann, gegen die Tür zu treten, doch sie war massiv und gab nicht nach. Ich fühlte mich hilflos. Wieder trat ich gegen die Tür, schlug mit den Fäusten dagegen und schrie: Ist da drin alles okay? Halten Sie durch, verstehen Sie?

Die Zeit verstrich, ich wurde heiser und meine Hände bluteten, aber das Schreien hörte nicht auf. Sie würden sie sterben lassen. So war das in Factory Town.

Nach einem weiteren Tritt flog die Tür auf und knallte gegen die Zimmerwand. Ich trat in einen Raum, dessen Boden mit Kleidungsstücken, Flaschen und Ampullen übersät war. Auf zerschlagenen Möbelstücken lagen Spieldosen, Zeitschriften und alte Puppen, die mich mit toten Augen ansahen. An der Wand Gemälde mit einer Wüstenszenerie und ein alter Kalender mit Kitschlandschaften. Das Fenster stand offen, und der weiße Vorhang flatterte panisch im Wind.

Auf dem Bett war ein Mann von gewaltiger Leibesfülle, mit einer riesigen Wampe und langen, schütteren schwarzen Haaren, die er zu einer seltsamen Resttolle aufgetürmt hatte. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen. Unter ihm lag eine Frau, die nichts anderes anhatte als Wintersocken. Ihr Gesicht blutete stark, ihre Nase war eingeschlagen, und ihre Augen waren so tot wie die ihrer Puppen.

Sie war in einem erbärmlichen Zustand und stöhnte und weinte, während der Mann sie gleichzeitig fickte, schlug und würgte. Wenn ich nicht dazwischenging und ihr half, würde sie zweifellos sterben. Ich musste den Mann von ihr ziehen, aber urplötzlich war ich wie gelähmt. Ich konnte mich überhaupt nicht rühren. Seltsamerweise nahm mich keiner der beiden wahr. Ich wollte rufen, brachte aber nichts als ein Gurgeln heraus, das in dem Stöhnen, Weinen und Schreien unterging. Ich hatte keine Gewalt über meinen Körper, und zuletzt fiel ich sogar zu Boden. Der Mann drehte die Frau um und drückte ihr Gesicht ins Kissen. Auf ihrem Rücken war eine riesige Tätowierung: ein wunderbarer Phönix, der sich vor einer strahlenden Sonne aus der Asche erhob. Die Frau rang nach Luft, und als sie mit den Armen wild um sich schlug, griff er auf den Nachttisch, nahm eine brennende Zigarette und drückte sie auf ihren unteren Rücken. Sie bäumte sich vor Schmerz auf, aber er presste sie wieder nach unten und brannte sie noch drei- oder viermal, ehe er die Zigarette an der Wand auslöschte und auf den Boden warf.

Ich lag auf dem Bauch, und weil ich in den Beinen kein Gefühl mehr hatte, begann ich, wie ein verwundeter Soldat auf die Arme gestützt zu robben, kam aber nur langsam vorwärts. Der Mann setzte sich im Bett auf, strich sich mit einer Handvoll Dixie-Peach-Pomade die Haare zurück und stülpte einen verknautschten Cowboyhut darüber. Dann packte er eine Wodkaflasche am Hals und nahm mit auf und ab hüpfendem Adamsapfel einen großen Schluck. Die Frau rollte sich klein zusammen. Das Kissen war von Blut und Tränen feucht.

Eine ganze Weile blieben beide so, wie sie waren, er auf dem Bett sitzend, Wodka trinkend und Zigaretten rauchend, sie in Fötusstellung auf den Laken eingerollt. Allmählich schwoll ihr Gesicht zu.

Schließlich begann er, mit tiefer, rauer, heiserer Stimme zu sprechen: Mir macht das ja auch keinen Spaß, sagte er, aber manchmal kann ich einfach nicht anders.

Die Frau gab keine Antwort, schluchzte weiter.

Er rückte seinen Cowboyhut zurecht und nickte. Ed hat mir erzählt, dass du mit dem Jungen von der Tankstelle rummachst. Dass du dich von ihm befummeln und küssen lässt. Aber du bist meine Frau, verdammt noch mal. Du hast was geschworen, ein Versprechen gegeben. Mir macht’s keinen Spaß, dir wehzutun. Aber in diesem Haus ist kein Platz für Huren. Für Huren setzt’s Prügel. Das ist nur gerecht.

Damit erhob er sich vom Bett und ging zum Waschbecken. Er drehte den Wasserhahn auf und begann, sich mit einem Stück schwarzer Seife die Hände zu schrubben. Er schrubbte und schrubbte, bis ich sah, wie seine Hände rot und wund wurden. Diese gottverdammte Stadt, sagte er. Diese gottverdammte Fabrik. Man kriegt den Gestank überhaupt nicht mehr von den Händen …

Ich lag noch am Boden und bemühte mich verzweifelt weiterzukriechen, aber jetzt wurden auch meine Arme und mein Rückgrat taub. Es war teuflisch.

Das kommt nur von der Chemie, die diese Fabrik ausspuckt, sagte der Mann. Garantiert. Die macht uns alle verrückt, die lässt uns diese schrecklichen Dinge tun. Eigentlich will ich dir überhaupt nicht wehtun. Das glaubst du mir doch, Nicole, oder? Verzeihst du mir?

Die Frau, Nicole also, streckte sich wieder aus und rollte sich auf den Rücken. Ihr Gesicht war ein grauenhafter Anblick, geschwollen und blutig. Ich verzeih dir, sagte sie. Es war nur ein Flüstern. Natürlich verzeih ich dir. Du bist ausgerastet. Wir rasten alle mal aus. Aber glaub mir, Cory Packer. Ich hab nie mit diesem Jungen rumgemacht. Ich war dir immer treu. Wenn Ed was anderes gesagt hat, dann hat er gelogen.

Cory schüttelte den Kopf. Das überrascht mich nicht. Der Kerl ist einfach ein Sprücheklopfer. Der denkt sich so Zeug aus. Ich hätte nicht auf ihn hören dürfen.

Ich hab nie mit dem Jungen rumgemacht, sagte sie noch einmal.

Cory lief zurück zum Bett, wobei er über meine ausgestreckten Arme stieg, und setzte sich darauf. Er zog seine Frau hoch und umarmte sie, streichelte ihre blonden Haare und küsste die blutige Stirn. Ich tu’s nie wieder, sagte er. Ich schlag dich nie wieder. Nie, nie mehr. Hörst du? Glaubst du mir das?

Lange Zeit saßen sie einfach da. Alles war still, nur der Vorhang wehte, und wenn man das Blut und die Schwellungen auf dem Gesicht der Frau ignorierte, die ihr Mann zu verantworten hatte, waren sie ein Sinnbild häuslichen Friedens.

Jetzt kehrte auch das Leben in meinen Körper zurück, die Lähmung verschwand. Ich ging auf alle viere und fing an, zur Tür zu krabbeln. Allerdings übersah ich eine zerbrochene Bierflasche auf dem Boden, und eine Scherbe bohrte sich tief in meine Handfläche. Ich stöhnte. Cory fuhr auf. Wer zum Teufel ist da?, rief er. Junge, bist du das? Schnüffelst du schon wieder hier rum, du rotznasiger kleiner Nichtsnutz?

In einem Anfall von Panik drückte ich mich erneut flach auf den Boden, rollte unters Bett und hielt den Atem an.

Cory stand vom Bett auf, und ich sah ihn im Zimmer auf und ab gehen. Wo bist du, Junge? Ich weiß, dass du hier bist. Komm raus, damit ich dir deinen verdammten Hintern versohle. Fluchend zerrte er den Vorhang weg und riss die Schranktür auf. Dann ging er auf die Knie und spähte unter das Bett. Sein Gesicht war rot angelaufen und wutverzerrt, aber ich hatte mich gut unter den mottenzerfressenen Decken versteckt.

Nicoles Stimme: Bitte, Cory. Lass ihn in Ruhe. Er hat doch nichts getan.

Von wegen nichts getan! Wir alle haben was getan! Vor Gott sind wir alle Sünder! Und vor mir sind auch alle Sünder! Komm raus, Junge! Wo versteckst du dich? Ich weiß, dass du hier bist, du Schwachkopf. Den ganzen Tag rennst du mit diesem Cape rum. Und mit dieser dämlichen Maske. Wen, meinst du, kannst du retten, he? Wen willst du retten? Du kleiner Mistkerl. Du jämmerlicher kleiner Mistkerl.

Aber nach einer Weile wurde er müde und verlor die Lust, mich zu suchen. Stattdessen kroch er zurück ins Bett, das unter seinem Gewicht durchhing. Dann lachte er, laut und dreckig.

Was lachst du jetzt?, fragte Nicole. Was ist denn auf einmal so lustig?

Ach, nur wegen einem Witz, den ich gehört habe, sagte er.

Ich blieb lang unter dem Bett, vielleicht sogar stundenlang, bis ich den Alten schnarchen hörte, laut und dröhnend. Erst dann kroch ich darunter hervor und stand auf. Mein Kopf war benebelt, und meine Hände zitterten.

Cory schlief wie tot. Seine Augen waren nach hinten in die Höhlen gerollt, sein schlaffer Mund stand offen. Aber Nicole war wach. Unsere Blicke trafen sich, und sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann schüttelte sie bloß den Kopf und schloss die Augen. Mit einer Hand rieb sie sich dort, wo sich eine kleine Wölbung befand, sanft über den Bauch. Ich fühlte mich zugleich gut und schlecht. Schließlich schlich ich aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter mir.

Factory Town

Подняться наверх