Читать книгу Dracula junior - Jonathan Cole - Страница 7
Zweites Kapitel, in dem Merlin mit der Großen Weisen Ratte spricht und Dorian keinen Reißzahn darauf gibt
Оглавление»Das war ein ganz erbärmlicher Abgang, Dorian«, sagte Dorian zu sich selbst. Er saß auf der Kante seines Schlafsargs und versuchte, seiner Gefühle Herr zu werden. Im Nachhinein konnte er nicht mehr genau sagen, was da über ihn gekommen war. Er hatte ja schon immer geahnt, dass seine Mutter noch am Leben war – wobei die Menschen den Vampiren ja verächtlich jegliches Leben absprachen. Für die Menschen waren sie einfach Untote – und gehörten damit in denselben Topf wie Zombies. Zombies! Dorian schüttelte sich. Diese gierigen, ekelhaft verfaulten Geschöpfe, die ständig irgendwelche Körperteile im Bus verloren, konnte man nun wirklich nicht mit den Vampiren vergleichen!
»Na, wieder mal großer Weltschmerz?«, fragte eine schrille Quäkstimme, die entfernte Ähnlichkeit mit einer schlecht geölten Türangel hatte. Etwas krabbelte an Dorians Bein herauf, und wenig später saß auf seinem Knie eine zerzauste Ratte, die ihn mit ihren roten Augen frech ansah.
»Wieder mal der große Klugscheißer?«, äffte Dorian die Ratte nach.
Er hatte sie zu seinem elften Geburtstag bekommen, kurz nach Aidas Verschwinden. Onkel Nicodim hatte sie ihm von einer Reise mitgebracht.
»Das hier ist die einzige sprechende Ratte Europas«, hatte er zu Dorian gesagt. »Ich habe sie in Cornwall auf einem Friedhof gefunden. Sie saß im Mondlicht auf einer Grabplatte und legte Tarotkarten. Ich dachte mir gleich, dass sie das passende Geschenk für dich ist.«
»Sie hat Tarotkarten gelegt?«, hatte Dorian ungläubig gefragt. Onkel Nicodim sagte nicht immer die Wahrheit.
»Ja, sogar das Keltische Kreuz«, hatte Nicodim geantwortet. »Das ist ziemlich kompliziert. Ich habe mich gewundert, dass eine Ratte dieses Legesystem beherrscht. Die Karten waren leider ziemlich angeknabbert, deswegen habe ich sie weggeworfen. Der kleine Nager da wusste übrigens im Voraus, dass ich kommen und ihn dir bringen würde. Ziemlich cleveres Kerlchen, wenn du mich fragst.«
Dorian hatte die Ratte behutsam in seine Hände genommen. Besonders hübsch sah sie nicht aus, aber was machte das aus, wenn sie sprechen konnte und vielleicht auch die Zukunft kannte?
»Ich werde dich Merlin nennen«, hatte er feierlich zu der Ratte gesagt.
»Anständiger Name, danke«, hatte das Tier mit eben dieser nervtötenden Stimme erwidert, die jetzt an Dorians Ohr drang.
Inzwischen war Merlin fast drei Jahre bei ihm. Das war eine lange Zeit für eine Ratte, aber Merlin zeigte noch keine Anzeichen des Alters, im Gegenteil. Er schlief bei Dorian im Sarg, obwohl Dorian es hasste, wenn Merlin plötzlich über sein Gesicht marschierte und ihn mit seinem langen Schwanz kitzelte. Einmal hatte Dorian die Ratte mit der Hand geschnappt und wollte schimpfen. Da hatte er festgestellt, dass Merlin die Augen geöffnet hatte, aber nicht ansprechbar war. Die roten Augen hatten auch kaum Glanz. Als Dorian mit Merlin redete, bekam er keine Antwort. Dorian hatte Merlin in der nächsten Nacht von Professor Frankenstein untersuchen lassen. Dieser war zwar kein Tierarzt, aber so etwas wie ein Universalgenie.
»Deiner Ratte fehlt nichts«, stellte Victor Frankenstein fest, nachdem er das Tier gründlich untersucht hatte. »Ich glaube, Merlin scheint nur ein wenig schlafzuwandeln. Nicht weiter beunruhigend. Am besten schließt du immer deinen Sargdeckel, damit Merlin im Schlaf nicht irgendwo runterstürzt und sich verletzt.«
Eine schlafwandelnde Ratte, die hellsehen konnte! Damit war Merlin wirklich absolut einmalig!
Leider bildete sich Merlin auch etwas darauf ein. Er hatte für Dorian immer einen blöden Spruch zur falschen Zeit parat. Er hätte alle Kalendersprüche-Macher der Welt mit seinen Weisheiten beliefern können. Außerdem war Merlin verfressen. Er wusste einfach nicht, wann Schluss war, und hätte Dorian nicht alle Kekse und Süßigkeiten vor ihm versteckt, dann wäre Merlin bald rund wie ein Handball geworden. Dorian verordnete ihm außerdem Bewegung. Angeregt von Dorians eigenem Trainingsprogramm erfand Merlin eine neue Sportart: Seilhüpfen mit dem eigenen Schwanz.
Jetzt spazierte Merlin auf Dorians Arm zu seiner Schulter hinauf. »Was betrübt dich so, mein Herr und Meister?«
»Hach, diese Verwandtschaft und das ganze Getue wegen meiner Mutter«, schnaubte Dorian.
»Man hält ihr Andenken in Ehren. Was ist so falsch daran?«
»Jeder denkt, sie sei tot. Aber tief in mir drinnen weiß ich, dass es nicht so ist. Sie ist am Leben und versteckt sich irgendwo. Oder sie wird versteckt, wer weiß. Vielleicht als Versuchskaninchen.« Automatisch kamen Dorian Opas mittelalterliche Folterinstrumente in den Sinn. Er verdrängte schnell den Gedanken.
»Hm«, machte Merlin und sah nachdenklich aus. »Ich könnte für dich natürlich die Karten legen, dann wüsstest du Bescheid.«
Dorian stöhnte auf. »Verschon mich mit diesem Humbug! Du weißt genau, dass ich an so was nicht glaube.«
»Du solltest eine Ausnahme machen!«
»Nerv nicht, Rattenzahn!«
»Na gut, dann eben nicht.« Merlin hüpfte von Dorians Schulter herunter, balancierte auf der Sargkante entlang, sprang auf den Boden und lief zu seinem Futternapf. Der war leer, und Dorian erntete einen vorwurfsvollen Blick.
»Erdnüsse machen dick«, murmelte der junge Vampir.
»Keine Erdnüsse sind auch keine Lösung«, gab Merlin zurück.
Dorian seufzte. Die Ratte musste immer das letzte Wort haben! Er griff unter den Sarg, wo er einige Tüten als Notvorrat versteckt hatte, holte eine Packung hervor, riss sie auf und schüttete einige Erdnüsse in Merlins Napf.
»Die Firma dankt«, sagte Merlin freudig und machte sich über die Nüsse her.
»Ich erziehe dich falsch«, murmelte Dorian.
Diese Bemerkung machte Vlad mindestens einmal pro Woche, aber nicht wegen Merlin, sondern wegen Dorian. Seit Aida verschwunden war, sah sich Vlad als alleinerziehender Vater und wurde nicht müde, das immer wieder zu betonen. Weil er in der Erziehung seines Sohnes nichts falsch machen wollte, verbrachte er viele Stunden damit, im Internet nach Tipps zu suchen. Erst vor zwei Nächten hatte Dorian in der Innentasche von Vlads Jackett folgende Ratschläge entdeckt, die sein Vater von einer französischen Webseite heruntergeladen und durch ein Übersetzungsprogramm gejagt hatte:
Sie schon versuchen vor der Pubertät eingetreten eine positive Beziehung dem Nachwuchs geben Sie. Akzeptieren Sie dem Kind Eigenständigkeit und Grenzen setzen wichtig ist. In Problemen machen Kinder Vertrauen an Sie. So haben Sie leichter.
Außerdem hatte Dorian das Gefühl, dass sein Vater ihn am liebsten auf Schritt und Tritt überwacht hätte.
»Dorian, du bist mein einziger Sohn«, rechtfertigte sich Vlad. »Ich überlebe es nicht, wenn dir auch etwas zustößt.«
Nichts ist schlimmer, als wenn die Eltern alles wissen wollen, womit sich ein fast Vierzehnjähriger beschäftigt. Geheimnisse gehörten einfach dazu, wenn man erwachsen wurde. Man musste sich ausprobieren, seine eigenen Grenzen überschreiten, Neues wagen, Abenteuer erleben! Deswegen hatte Dorian eine Strategie entwickelt, wie er seinen Vater in Sicherheit wiegen und trotzdem seinen eigenen Interessen nachgehen konnte. Merlin war dabei sehr hilfreich.
Er verriet Dorian nicht, wenn dieser wieder einmal eine täuschend echte Puppe in den Sarg gelegt hatte, um sich in den gefährlichen Stunden der Dämmerung mit seinen Freunden zu treffen. Wenn Vlad den Sarg öffnete, um seinen Sohn zu kontrollieren, verdrehte Merlin die Augen und zischte vorwurfsvoll: »Psst, er ist eben erst eingeschlafen, er hat bis vorhin gelernt!«
Manchmal musste Merlin auch auf der Treppe Schmiere stehen, wenn Dorian versuchte, sich in einen Wolf zu verwandeln. Das war den Vampiren streng verboten und gerade deshalb eine Herausforderung. Dorian hatte ein altes Buch mit Anleitungen in Opa Andrejis Bibliothek entdeckt. Leider war es Dorian bisher nur gelungen, einen Teil von sich in einen Wolf zu verwandeln, und zwar den linken Fuß. Mit der Rückverwandlung hatte er sich zwei Nächte lang abgemüht. In dieser Zeit hatte er ständig Stiefel getragen. Den linken hatte er mit Zeitungspapier und Socken ausstopfen müssen, damit er überhaupt an seinem Bein hielt.
Auf Merlin war jedenfalls Verlass, selbst wenn das mit seinen Voraussagen nicht immer hinhaute. Der Einzige, der stets fest an seine Visionen glaubte, war Merlin selbst. Gut, ab und zu hatte der Pelzbauch recht. Immerhin hatte er vorhergesagt, dass Onkel Nicodim wieder mit dem Rauchen anfangen würde, und zwar schlimmer als zuvor. Und Merlin hatte auch gewusst, dass Sarina niemanden finden würde, der mit ihr zum Abschlussball gehen würde. Deswegen würde sie auch ihr teures Ballkleid bei eBay anbieten, und jemand würde es für nur einen Leu ersteigern. Alles war so gekommen, wie Merlin es prophezeit hatte. Aber musste man für solche Vorhersagen wirklich einen sechsten Sinn haben?
»Du zweifelst schon wieder an mir«, nuschelte Merlin und kehrte mit einer Erdnuss in den Pfoten auf die Sargkante zurück. »Du glaubst mir einfach nicht, dass ich aus einer alten Nagerfamilie stamme, in der viele Mitglieder ein Hellseher-Gen besaßen. Meine 51-fache-Urgroßmutter hat den Untergang der Titanic richtig vorhergesagt. Ihr Cousin wollte es nicht glauben und hat sich trotzdem an Bord begeben. Natürlich ist er ertrunken, und zwar, bevor das eigentliche Unglück geschah. Er hatte jede Menge Kaviar und Trüffel schnabuliert und vor allem zu viel Champagner getrunken. Deswegen rutschte er aus, fiel in den Swimmingpool des Schiffs und ging unter wie ein Stein. Ein tragischer Tod.«
Dorian schloss einen Moment lang die Augen. Über dieses Thema konnte man stundenlang mit Merlin diskutieren. Dorian glaubte nicht an das Schicksal und dass manche Ereignisse vorherbestimmt waren. Denn das würde bedeuten, dass jede Handlung zwecklos wäre, weil man sowieso nichts ändern konnte. Und er, Dorian, hatte ganz gerne die Dinge im Griff.
»Du wirst mich jetzt hassen«, sagte Merlin und pulte ein Erdnussstück aus seinen Zähnen, »aber ich habe eine Botschaft für dich. Sie wurde mir gut vor einer Stunde übermittelt, als du unten im Festsaal warst. Willst du sie hören, oder soll ich das, was ich weiß, lieber für mich behalten?«
»Hast du wieder gechannelt, Merlin?«, fragte Dorian streng.
»Ja, ich sprach mit der Großen Weisen Ratte«, antwortete Merlin. »Mir war ein wenig langweilig, so ganz allein.«
Dorian wusste, dass Merlin keine Ruhe geben würde, bis er die angebliche Botschaft loswurde. Er würde noch die ganze Woche nerven.
»Spuck’s aus«, sagte Dorian.
Die Ratte sprach mit feierlichen Worten:
»Zwei Auserwählte der Akademie hoch im Mondlicht siegen oder scheitern in den Hallen aus Stein.
Ihre Aufgabe ist es, die Feinde zu knechten und jenen zu finden, der die Formel hat, die das Dunkel für Nichtsterbliche vertreibt.«
Dorian ließ die Worte einige Sekunden lang nachwirken.
»Und was heißt das im Klartext?«, wollte er dann wissen. »Hat dir die Große Weise Ratte auch eine Erklärung geliefert?«
»Leider nicht«, erwiderte Merlin. »Ich hätte selbst gern mehr darüber erfahren.«
Dorian verdrehte die Augen und vertiefte sich aus Langeweile in die Prospekte, die er von Sarina erhalten hatte. Knallbunte Fotos und ein unmögliches Layout. Dazu noch jede Menge Rechtschreibfehler.
»Wenn sie mal entspannen wollen, dann nix wie hin zu Steigenbeißer’s Hotel! Dort werden sie stet’s von kopfbissfuß verwöhnt. Ob Rom, Paris, London oder New York, ein bissiger Empfang ist ihnen Sicher. Probieren sie es ein Fach aus.«
Dorian schüttelte den Kopf und fing an, Kraniche aus den Prospekten zu falten. Das sollte wenigstens Glück bringen.