Читать книгу Dracula junior - Jonathan Cole - Страница 9
Viertes Kapitel, in dem Dorian zusammen mit seinem Erzfeind Costin auf eine bissige Mission geschickt wird
ОглавлениеDie Schule der Nacht war ein ehrwürdiges Gebäude mit hohen Türmen, spitzen Giebeln und unzähligen Wendeltreppen. Anfangs hatte sich Dorian ständig verlaufen. Jetzt nahm er immer zwei Stufen auf einmal, und Lilith versuchte, ihm zu folgen. Obwohl sie sich beeilten, kamen sie zu spät. Professor Silvian Lazar stand bereits hinter seinem Pult. Mit gerunzelter Stirn sah er zu, wie Dorian und Lilith ins Klassenzimmer kamen.
»Dracula junior, das ist Ihr viertes Zuspätkommen in diesem Monat«, sagte er mit strenger Stimme. »Und Lilith Popescu, bei Ihnen zähle ich schon gar nicht mehr. Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen? Und was ist mit Ihrem Umhang passiert?«
Costin, der schon auf seinem Platz saß, blickte Dorian mit stechendem Blick an. Seine Unterlippe zuckte spöttisch. Er wusste genau, dass Dorian ihn nicht verpetzen würde.
»Bitte entschuldigen Sie, Professor Lazar«, murmelte Dorian. »Ich habe beim Fliegen nicht aufgepasst und bin an einem Blitzableiter hängen geblieben. Lilith war so freundlich, mir herabzuhelfen. Deshalb haben wir uns leider verspätet.«
Professor Lazars buschige Brauen schnellten in die Höhe, und seine durchdringenden Augen huschten misstrauisch hin und her. »Nun gut. Setzen Sie sich bitte.«
Er wartete kurz, bis Dorian und Lilith ihre Plätze eingenommen hatten, dann fuhr er mit dem Unterricht fort. Er war Lehrer für Verhaltenskunde.
»Sie alle wissen, dass Tageslicht für einen Vampir tödlich ist. Sobald er ungeschützt dem Sonnenlicht ausgesetzt ist, beginnt er, sich zu zersetzen. Das kann rasend schnell gehen, sodass er förmlich zu Staub zerfällt. Manchmal geschieht es langsamer, und der Vampir zerbröselt nach und nach wie ein feuchter Zuckerhut. In den allergünstigsten Fällen kommt es nur zu Verbrennungen.« Der Professor machte eine kurze Pause. »Wie auch immer – der Vorgang lässt sich nicht rückgängig machen.«
Lilith, die vor Dorian saß, hing schon wieder fast schlafend über ihrem Tisch. Als Halbvampirin konnte sie sich auch tagsüber bewegen, ohne gleich von der Sonne verbrannt zu werden. Das nutzte Lilith ausgiebig aus. Die Folge war, dass ihr während des nächtlichen Unterrichts oft die Augen zufielen, obwohl sie sich alle Mühe gab, wach zu bleiben. Manchmal rutschte sie sogar mitten in der Stunde schlafend vom Stuhl, was immer für allgemeine Heiterkeit sorgte. Vor allem Costin verspottete sie und gab seiner Cousine den Spitznamen »Miss Schlaftablette«. Wenn er gewusst hätte, dass Liliths Vater ein Mensch war, würde er sie noch übler beschimpfen.
Professor Lazar schrieb nun einige chemische Formeln an die Tafeln, um darzustellen, dass die Zellen eines Vampirs umso schneller zerfielen, je mehr Vitamin D in seinem Körper gebildet wurde. Wenn die Begegnung mit dem Tageslicht nicht gleich tödlich verlief, so konnte dennoch eine gefährliche Krankheit entstehen: der sogenannte Lichtfraß.
Dorian seufzte leise. Opa Andreji hatte ihm oft genug die Narbe an seinem Handgelenk gezeigt, die durch Lichtfraß entstanden war. Lichtfraß war die gefährlichste Krankheit, die einen Vampir befallen konnte, und bisher gab es noch kein Gegenmittel.
»Deswegen ist unsere Spezies sehr gefährdet«, verkündete Professor Lazar. »Es wäre ein gigantischer Fortschritt, wenn man diese Krankheit bekämpfen oder sogar verhindern könnte. Schon viele Jahre wird deswegen geforscht, aber der entscheidende Durchbruch ist leider noch nicht gelungen.«
Einige Mitschüler stellten Fragen.
»Ist Lichtfraß wirklich so schlimm?«
»Stimmt es, dass vierblättrige Kleeblätter davor schützen?«
»Würde es helfen, sich in Alufolie zu wickeln?«
Lilith war in einen komaartigen Zustand gefallen. Dorian zog gelangweilt sein Smartphone hervor und lud sich die neue Sudoku-App herunter, von der man im MitterNachtsKniffel-Forum schwärmte. Er war süchtig nach Sudokus. Der Ladevorgang dauerte nur wenige Sekunden.
»Und was können Sie zum Unterricht beitragen, Dracula?«, erklang Professor Lazars Stimme unvermittelt neben seinem Ohr.
Dorian ließ das Smartphone blitzschnell verschwinden.
»Der Lichtfraß ist eine Krankheit, die sich nur schwer aufhalten lässt«, antwortete er geistesgegenwärtig. »Die Pest des einundzwanzigsten Jahrhunderts.« Er konnte sich immer an die letzten Sätze des Lehrers erinnern, selbst wenn er abgelenkt war. Die Aufnahmefunktion seines Gehirns schien stets aktiviert zu sein, egal, womit sich Dorian beschäftigte. »Die zerstörten Stellen breiten sich nach allen Seiten aus«, spulte er wie am Schnürchen ab. »Schon Lichtgrad 2 kann ein tiefes Loch entstehen lassen.«
»Genau«, bestätigte Professor Lazar. »Sehen Sie, meine Damen und Herren!« Er schob den rechten Ärmel seines Sakkos ein Stück hoch. Ein Aufstöhnen ging durch die Reihen. Dorian hatte jedoch bereits gewusst, was sie sehen würden. Als der Professor den Arm hob, erblickte man das Loch oberhalb des Handgelenks. Es war so groß wie ein Wachtelei und sah aus, als hätte jemand den Knochen an dieser Stelle mit einer Gewehrkugel durchschossen. Zum Glück war der Lichtfraß bei Professor Lazar zum Stillstand gekommen. Er hatte sich in das Loch eine Linse einsetzen lassen und hatte auf diese Weise immer eine Lupe bei sich, mit der er auch das Kleingedruckte lesen konnte.
»Tut … tut so etwas weh?«, fragte Lilith, die inzwischen wach geworden war. Obwohl ihr die Augenlider schon fast wieder zufielen, konnte sie ihren Blick nicht lösen.
»Lilith Popescu, ich versichere Ihnen, dass der Lichtfraß die allerschlimmsten Schmerzen verursacht«, sagte Professor Lazar mit ernster Miene. »Manchmal erlöst einen eine Ohnmacht von dieser fürchterlichen Qual. Aber es ist dann meist eine Ohnmacht für immer, denn während der Bewusstlosigkeit kann sich der Lichtfraß ungehindert fortsetzen. Außerdem ist man oft weiterhin der Sonne ausgesetzt, und Sie wissen ja, was dann passiert.«
»Aus die Maus!«, murmelte Serban, ein kleiner, quirliger Schüler mit einem Spitzmausgesicht, und grinste.
»Nicht witzig«, erwiderte Professor Lazar. »Legen Sie es auf einen Verweis an, Serban Toma?«
Serban schüttelte erschrocken den Kopf. Er hatte zwar eine große Klappe, war im Grunde aber äußerst ängstlich.
»Wissen Sie, welche Sofortmaßnahmen zu ergreifen sind, wenn der Lichtfraß droht?«, fragte Professor Serban und richtete seinen strengen Blick auf ihn.
In diesem Augenblick klopfte es laut und vernehmlich an der Tür.
»Herein!«, rief Professor Lazar.
Der Schulleiter trat ein. Direktor Moldovan war ein hochgewachsener, spindeldürrer Mann mit grünlich schimmerndem Teint. Er trug einen grauen Anzug, darüber einen schwarzen Umhang. Dorian hatte ihn noch nie ohne Handschuhe gesehen. Die Farbe wechselte je nach Wochennacht. Sie waren entweder dunkelgrün, dunkelrot, violett, dunkelblau oder schwarz. Dorian vermutete, dass seine Hände durch Lichtfraß verunstaltet waren.
Professor Lazar verbeugte sich. »Sehr erfreut, Sie zu sehen, Eminenz. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
Der Direktor wandte sich der Klasse zu. Sein stechender Blick glitt über die Schüler und Schülerinnen und blieb an Dorian hängen.
»Dracula junior, bitte begleiten Sie mich ins Direktorat.«
Dorian stand auf. Er spürte, wie das Smartphone in seiner Hosentasche leise schnurrte. Wahrscheinlich wartete die neue App ungeduldig darauf, dass er die Lizenzbedingungen akzeptierte. Zum Glück hatte Dorian den Ton abgestellt, sonst hätte die App vielleicht noch fröhlich losgedudelt.
»Costin Lupo, bitte begleiten Sie mich ebenfalls!«
Ausgerechnet sein Erzfeind Costin!
Costin erhob sich provozierend träge. Ein ironisches Lächeln spielte um seine glänzenden Lippen. Dorian überlegte, ob Costin mit Lipgloss nachhalf oder unnatürlich viel Speichel produzierte.
Die beiden jungen Vampire gingen gleichzeitig nach vorne. Der Direktor nickte kurz in Richtung Professor Lazar und verließ das Klassenzimmer mit großen Schritten. Die Schüler folgten ihm.
Costin konnte es nicht lassen, er musste Dorian unterwegs mit dem Ellbogen anrempeln. Dorian rempelte zurück. Obwohl sich alles völlig lautlos abspielte, blieb der Direktor plötzlich stehen, drehte sich um und sagte scharf:
»Meine Herren, wollen Sie, dass ich Sie vom Unterricht suspendiere?«
»Entschuldigung, Eminenz«, sagte Dorian, und auch Costin murmelte etwas.
Moldovan hob die Augenbrauen und musterte beide mit seinen stechenden Augen.
»Was ist mit Ihrem Umhang geschehen, Dracula junior?«
»Ein … äh … Unfall, Eminenz«, antwortete Dorian. Er hörte Costin neben sich leise lachen.
»Nächstens ziehen Sie sich ordentlich an, Dracula. So schlampig herumzulaufen, schickt sich nicht für ein Mitglied Ihrer Familie!«
»Sehr wohl, Eminenz.«
Der Direktor wandte sich um und ging weiter.
»Moldovan hat im Hinterkopf ein drittes Auge«, flüsterte Costin.
»Das dritte Auge sitzt normalerweise auf der Stirn«, erwiderte Dorian. So viel wusste er noch aus dem Grundkurs Der sechste Sinn bei Vampiren.
»Klugscheißer, dann ist es eben das vierte«, gab Costin zurück.
»KLUGSCHEISSER, KLUGSCHEISSER«, wisperte es von den Wänden, denn inzwischen befanden sie sich in einem langen Gang, der jedes Geräusch vervielfachte. Nicht umsonst nannte man diesen Gebäudeteil Schnatterflur. Wenn die Schüler bei Stundenwechsel hindurchgeeilt waren, flüsterte und kicherte es im Gang noch minutenlang.
Durch die hohen Spitzbogenfenster fiel das Mondlicht. Zwei große Raben saßen auf einem Fenstersims, ihr blauschwarzes Gefieder schimmerte wie Tinte. Dorian hatte den Eindruck, dass die großen Vögel sie beobachteten, denn ihre Köpfe bewegten sich synchron und zum Tempo ihrer Schritte.
Der Schnatterflur endete, und sie wandten sich nach links.
In diesem Gang herrschte tiefe Dunkelheit. Die Fackeln waren erloschen, eine Maßnahme des Elternbeirats. Echte Pechfackeln waren teuer, außerdem verpesteten sie die Luft. Es war noch nicht klar, ob man sie durch LED-Fackeln ersetzen würde oder das Geld lieber in neue Servietten für den Unterricht in Menschen und andere Leckereien investierte. Dorian und Costin hatten jedoch Augen wie eine Katze und fanden sich trotz Finsternis zurecht.
Moldovan hatte das Direktorat erreicht und trat ein. Die Schüler folgten ihm. Der große Raum besaß eine dunkle Eichenholzvertäfelung mit aufwendigen Schnitzereien. Auf dem Marmortisch stand ein neunarmiger Leuchter aus purem Gold. Die elfenbeinfarbenen Kerzen warfen einen Lichtschein auf die beiden Männer, die auf dem breiten Ledersofa saßen.
Dorian hatte die Fremden noch nie zuvor gesehen. Sie trugen schwarze Anzüge aus feinstem Zwirn, ihre Haare waren mit viel Gel nach hinten gekämmt. Sonnenbrillen bedeckten die Augen. Auf den ersten Blick konnte man meinen, Zwillinge vor sich zu haben.
Moldovan blieb vor ihnen stehen.
»Ehrenwerte Herren, hier bringe ich Ihnen die gewünschten Schüler«, sagte er feierlich. Er wandte sich an Dorian und Costin. »Das sind die Herren Dragos und Miros von der Akademie. Bitte stellen Sie sich ihnen vor.«
»Dorian Dracula«, sagte Dorian. Seine Gedanken wirbelten. Die Akademie der Vampire war bisher nur ein Gerücht gewesen. Niemand wusste Genaues. Es musste eine mächtige Vereinigung sein, die ihre Fäden im Verborgenen spann – wie eine große unsichtbare Spinne, die durchaus imstande war, ihre Opfer mit einem einzigen Biss zu töten.
»Costin Lupo«, sagte Costin und deutete eine leichte Verbeugung an.
Der Fremde, der links auf dem Sofa saß, nahm mit nervtötender Langsamkeit die dunkle Brille ab. Seine Augen hatten die Farbe von blaufunkelndem Polareis.
»Wir haben einen Auftrag für Sie«, sagte er.
»Sie haben sicher schon von uns gehört«, sagte der andere Fremde und nahm ebenfalls die Brille ab. Seine Augen waren so rot wie das Innere einer Blutorange.
»Leider noch nicht sehr viel, Eminenz«, antwortete Dorian. »Ehrlich gesagt wusste ich bis heute nicht, ob es die Akademie wirklich gibt.«
Costin sagte gar nichts. Wahrscheinlich wusste er genauso wenig wie Dorian, wollte es aber nicht zugeben.
»Nun – wir lassen uns nicht in die Karten schauen«, sagte der Mann mit den Eisaugen. »Unsere Mitglieder verpflichten sich zu absoluter Verschwiegenheit.«
»Wir sind immer auf der Suche nach neuen Talenten«, ergänzte der andere. »Und wir haben einiges über Sie gehört.«
»Sicher nur Gutes.« Costin hatte jetzt sein Schweigen aufgegeben. »Wir sind die Jahrgangsbesten.«
Das stimmte. Dorian und Costin lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, seit sie die Schule der Nacht besuchten. Im vorigen Jahr hatte Dorian gesiegt, und in diesem lag Costin einen Punkt vorne.
Das schien die Fremden jedoch nicht weiter zu interessieren.
»Unsere Mitglieder genießen hohes Ansehen und großen Respekt«, fuhr der erste Fremde fort. »Außerdem werden ihnen einige Privilegien zuteil. Es lohnt sich durchaus, zu unserem Kreis zu gehören, nicht nur aus materiellen Gründen.«
»Obwohl das Materielle auch nicht zu verachten ist«, ergänzte der andere.
Die beiden Vampire warteten darauf, dass die Männer weitersprachen. Die Pause schien sich bis ins Endlose zu dehnen. Dorian versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Dabei brannte er darauf, mehr zu erfahren. Er sehnte sich danach, die langweilige Schule hinter sich zu lassen und endlich etwas Sinnvolles zu machen. Ein bisschen die Welt retten oder so. Nicht nur in diesen alten Mauern zu versauern und immer Vlad Dracula fragen zu müssen, wenn er irgendwohin wollte. Vlad mit seiner ewigen Ängstlichkeit! Vielleicht konnte Dorian ihm bald beweisen, dass viel mehr in ihm steckte, als sein Vater dachte … Vielleicht war dies die Chance seines Lebens!
»Was sollen wir tun, Eminenz?«, stieß Costin aus, der die Ungewissheit nicht mehr ertrug.
»Sie sollen für uns arbeiten«, sagte der zweite Fremde. »Nach Erledigung des Auftrags wird einer von Ihnen in die Akademie aufgenommen. Und zwar der Bessere.«
Dorian merkte, wie angespannt sein Körper war, und versuchte, etwa lässiger dazustehen.
»Wer der Bessere von Ihnen beiden ist, wollen wir herausfinden.« Der Mann mit den Eisaugen lächelte dünn. »Es wird also ein Wettbewerb zwischen Ihnen stattfinden.«
»Sind Sie dazu bereit?«, fragte der andere.
Dorian warf dem Direktor einen Blick zu. Dieser hatte sein Pokerface aufgesetzt. Es war nicht zu erkennen, was er von der Angelegenheit hielt.
»Worum geht es bei der Aufgabe, Eminenz?«, fragte Dorian, während Costin gleichzeitig sagte: »Ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung, ehrenwerte Herren!«
Die Fremden schienen sich zu amüsieren. Machten sie sich über Dorians Frage lustig oder über Costins Übereifer?
»Schön zu hören, dass schon einer von Ihnen bereit ist, obwohl er keine Ahnung hat, was ihn erwartet«, meinte der Mann mit den Blutaugen. Seine Stimme wurde schneidend. »Der Auftrag ist äußerst gefährlich. Sie werden Ihr Leben riskieren. Sie müssen alles geben. Sie müssen bereit sein, Ihre Familien zu verlassen und kein Wort über Ihren Auftrag zu verlieren. Sie müssen lügen und betrügen. Außerdem müssen Sie Meister der Tarnung sein.«
Es kribbelte in Dorians Bauch. Das klang nach einem echten Abenteuer!
»Ich bin zu allem bereit«, sagte Costin.
»Ich auch«, beteuerte Dorian.
Die Fremden beugten sich vor und sprachen synchron: »Ihr Auftrag lautet: Finden Sie das Mittel gegen Lichtfraß. Bringen Sie uns davon eine Probe und vor allem die chemische Formel!«