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Drittes Kapitel, in dem Dorian einer Zerreißprobe ausgesetzt ist und Lilith seinen Umhang kunststopfen will

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Zwei Nächte später hatte Dorian die Prophezeiung schon fast vergessen. Es war Vollmond, und er hatte verschlafen. In diesen Mondphasen schlief er besonders tief und fest, obwohl es bei den meisten Vampiren genau umgekehrt war. Dorian war nur aufgewacht, weil ihn etwas Wurmartiges an der Wange streifte.

Auf seiner Brust saß Merlin. Er starrte ihn mit seinen roten Augen an. Die Schnurrhaare zitterten vor Erregung.

»Steh auf, du bist spät dran!«

»Mist!« Dorian erinnerte sich, dass er die Weckfunktion seines Smartphones nicht eingeschaltet hatte. »Danke, Merlin!« Er stemmte den Deckel hoch und schwang sich aus dem Sarg.

Merlins Augen glühten in der Dunkelheit wie flackernde Grablichter. »Heute passiert es!« Er sah aus, als sei er ziemlich durch den Wind.

»Warst du wieder an Omas Schnapspralinen?«, argwöhnte Dorian. »Ich hab dich gewarnt. Wenn du Alkohol brauchst, um mit deiner geheimnisvollen Großen Weisen Ratte zu reden …«

»Dies wird eine besondere Nacht«, keuchte Merlin. »Etwas Großes erwartet dich! Heute beginnt für dich …ein neues … Zeitalter!« Die Worte schienen ihn große Mühe zu kosten.

Dorian machte sich Sorgen um seine Ratte. Merlin sah wirklich ziemlich fertig aus. War er etwa krank? Bisher war das kleine Kerlchen immer putzmunter gewesen, ausgenommen die paar Male, in denen er nicht genug von vergorenen Mirabellen hatte bekommen können. Er würde doch nicht sterben, ausgerechnet heute, in dieser schönen Vollmondnacht?

»Hallo, Merlin, geht’s dir gut?« Dorian streckte seine Hand aus, und Merlin kletterte mühsam hinauf.

»Ich habe mich noch nie … besser gefühlt«, antwortete Merlin und kippte um. Er war ohnmächtig.

»O Mann, Merlin!« Dorian geriet in Panik. »Mach das nicht! Bleib bei mir, bitte! Ich brauch dich doch!« Er tippte mit seinem Zeigefinger auf den kleinen Rattenbrustkorb.

Merlin rührte sich nicht. War er schon tot? Atmete er noch? Dorian beugte sich zu dem Tierchen hinab und lauschte.

Kein Atem. War ein Puls ertastbar? Wo prüfte man den? Hatten Ratten eine Halsschlagader? Dorian spürte nichts, als er am Hals der Ratte herumfummelte. Beim Eichensargholz, was sollte er nur machen? Herzdruckmassage, wie er es auf YouTube gesehen hatte? Allerdings an einem Meerschweinchen, nicht an einer Ratte. Aber so groß konnte der Unterscheid doch nicht sein.

Dorian drückte seinen Zeigefinger auf Merlins Brust. Tipp-tipp-tipp-tipp-tipp … Im Rhythmus einer Melodie – wie ging die doch gleich? Highway To Hell …

»Living easy, living free«, summte Dorian und versuchte, seine Verzweiflung unter Kontrolle zu halten, »season ticket … tam…tam… tam … asking nothing …« So ganz textsicher war er nicht, aber darauf kam es jetzt auch nicht an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schlug Merlin die Augen auf. »Wo bin ich gewesen?«

»Das weiß ich auch nicht.« Dorian seufzte vor Erleichterung.

»Ich sprach gerade noch mit der Großen Weisen Ratte …« Merlin setzte sich auf. »Sag mal, weinst du?«

»Sicher nicht.« Dorian wischte sich hastig über die Augen.

Merlin machte ein strenges Gesicht. »Du musst jetzt los. Sofort! Oder willst du schon wieder den Unterricht versäumen?«

»Ach, Merlin.« Dorian setzte die Ratte liebevoll ab. »Schule ist nicht das Wichtigste auf der Welt.«

»Das lass nur nicht deinen Vater hören«, murmelte Merlin und blinkte mit seinen Augen. »Jetzt spute dich, sonst verpasst du noch die Chance deines Lebens. Wie ich schon sagte, erwartet dich etwas Großes.«

»Was ist das? Steht ein Ferrari vor der Tür?«

»Ich habe nicht gesagt, dass es sich um etwas Materielles handelt.«

»Du mit deiner ewigen Geheimniskrämerei!« Dorian suchte seine Klamotten zusammen. Für Nachtsport war jetzt keine Zeit mehr. Er warf einen bedauernden Blick auf die beiden Mammutknochen, die er als Hanteln benutzte. Jeder Knochen wog siebzehn Kilo.

Der Vampir schlüpfte in seine Schulkleidung: eine enge Hose, die aber elastisch genug war, um bequem zu sein; ein dunkles Oberteil mit dem Wappen der Schule der Nacht – einem stilisierten Vampirgebiss. Und natürlich brauchte Dorian seinen Umhang aus wasserabweisender schwarzer Seide.

Hoffentlich saß alles richtig. Es wurde wirklich Zeit, dass jemand mal einen Spiegel für Vampire erfand. Normale Spiegel funktionierten nicht, darüber hatte sich Dorian schon als kleines Kind geärgert.

Er steckte sein Smartphone ein, das er erst vor einigen Wochen bekommen hatte. Den Rucksack musste er sich um den Bauch hängen. Das sah blöd aus, aber es ging nicht anders. Nur so konnte er sich in eine Fledermaus verwandeln und gleichzeitig seine Schulsachen mitnehmen. Er wünschte sich schon lange die angesagten Fliegertaschen, die man seitlich trug. Einige seiner Mitschüler besaßen sie bereits.

Dorian ging zum Fenster und öffnete die beiden Flügel. Der Vollmond stand hell am Himmel. Die Nacht war still, nur der Wind rauschte leise in den Bäumen, die in dieser Nacht lange Schatten warfen.

Der Vampir stieg auf die Fensterbank. »Mach’s gut, Merlin!« Er holte tief Luft und sprang ab. Sein Zimmer befand sich hoch im Turm des Schlosses.

Adrenalin schoss in seinen Körper, als der Boden auf ihn zuraste. Der Umhang bauschte sich über ihm. Konzentration! Dorian spürte, wie er schrumpfte. Seine Zehen verwandelten sich in Krallen und seine Arme in Flügel. Dann endete der freie Fall. Dorian besiegte die Schwerkraft, gewann an Höhe und flatterte im typischen Zickzackflug einer Fledermaus davon.

Das Fliegen berauschte ihn. Es war fantastisch, Herr über die Schwerkraft zu sein, selbst wenn er den Eindruck hatte, dass ihn der Rucksack immer ein wenig nach unten zog. Es war für einen Vampir relativ einfach, sich in eine Fledermaus zu verwandeln. Dorian konnte es, seit er vier Jahre alt war. Er hatte sich oft kopfüber ans Ohrläppchen seiner Mutter gehängt und sie so begleitet, wenn sie sich mit Freundinnen traf. Zuerst wunderten sich die anderen Damen über Aidas seltsamen Ohrschmuck, aber dann wurde es Mode, seine Kinder so herumzutragen.


Sich in ein anderes Tier zu verwandeln, war wesentlich schwieriger und auch streng verboten. Vor allem die Wolfsgestalt war tabu, darauf standen strenge Strafen. Die Vampire legten Wert darauf, nicht mit den Werwölfen verwechselt zu werden. Dorian stellte sich dagegen oft vor, wie es wäre, als mächtiger Wolf durch den Wald zu rasen, auf vier kräftigen Beinen, die mühelos weite Strecken überwinden konnten. Aber bis er diese Verwandlung perfekt beherrschte, würde es vermutlich noch Jahre dauern …

Verdammt! Dorian war so in Gedanken gewesen, dass er nicht aufgepasst hatte. Hinter ihm in der Luft war ein heller Schatten. Eine Schleiereule machte Jagd auf ihn. Schon berührten ihre Krallen seine dünnen Flügel. Dorian hörte, wie die zarte Haut an einer Stelle riss. Er spürte keinen Schmerz, die Flügelhaut war ja der verwandelte Umhang. Trotzdem schwebte er in höchster Gefahr.

Instinktiv ließ er sich ein Stück fallen, drehte sich in der Luft und flog einen halsbrecherischen Looping. Damit hatte die Eule nicht gerechnet. Dorian gewann einen Vorsprung, obwohl er spürte, wie die Luft durch seine Flügelhaut pfiff.

Zum Glück kamen schon die Türme der Schule der Nacht in Sicht. Mit letzter Anstrengung erreichte er den Vorplatz der Schule. Er verwandelte sich so extrem schnell in seine eigentliche Gestalt zurück, dass seine Schuhe aufs Pflaster knallten. Der Lärm hallte von den hohen Mauern wider.

Gerade noch geschafft! Dorian begutachtete keuchend seinen Umhang. Links ein langer Riss und rechts war ein Stück herausgefetzt. Mist! Den Umhang konnte er vergessen. Sein Vater würde sich freuen!

Es gab einen zweiten Knall. Die Schleiereule hatte sich ebenfalls in einen Vampir verwandelt.

Es war Costin Lupo, sein Mitschüler und Spezialist für Intrigen und Mobbing. Dorian hatte er besonders auf dem Kieker. Es war das erste Mal, dass er es gewagt hatte, Dorian in der Luft anzugreifen.

»Du Idiot!«, fauchte Dorian.

Costin verzog spöttisch die dünnen Lippen. »Ich wollte nur deine Reaktionsfähigkeit testen!«

Dorian trat einen Schritt vor und ballte die Fäuste. Wut schoss in ihm hoch. »Du hast mich in der Luft angegriffen!«

»Chill mal, Dracula«, sagte Costin. »Verstehst du keinen Spaß?« Kichernd ging er an Dorian vorbei und öffnete einen Flügel des schmiedeeisernen Schultors.

Dorian kochte. Er hatte große Lust, Costin an den Schultern zu packen, auf den Boden zu werfen und sich mit ihm auf dem Schulhof zu wälzen.

Doch da löste sich aus dem Schatten einer Platane eine Gestalt. Ein Mädchen. Lilith Popescu.

»Warte mal, Dorian«, rief sie leise. Dabei war sie es gewesen, die auf ihn gewartet hatte.

Dorian blieb stehen, noch immer etwas außer Atem. Lilith schlurfte zu ihm. Sie wirkte todmüde. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst.

»Ich hab alles genau gesehen«, murmelte sie. »Wenn du willst, kann ich es bezeugen.«

Dorian überlegte kurz. Was brachte es schon, Costin beim Direktor anzuschwärzen? Costins Vater, Eugen Lupo, war Schlossmakler und reich an Geld und Einfluss. Er war einer der Hauptsponsoren der Schule der Nacht. Dagegen war die Summe, die Onkel Nicodim stiftete, ein Klacks, ganz zu schweigen von dem, was von Vlad Dracula kam. Die Instandhaltung seines Schlosses verschlang eine Menge, aber Oma Stoica und Opa Andreji hockten auf ihren Golddukaten.

»Lass gut sein«, meinte Dorian zu Lilith. »Das bringt nichts.«

»Ich habe keine Angst vor Costin, er ist schließlich mein Cousin«, sagte Lilith. Sie sah Dorian an. Wie fast immer, waren ihre Lider dick und hingen halb über den Augen. Eigentlich war Lilith ganz hübsch, aber ihre dauernde Schläfrigkeit minderte ihre Attraktivität enorm.

»Ich weiß, dass du keine Angst vor ihm hast«, erwiderte Dorian.

Lilith war sehr mutig, obwohl sie auf den ersten Blick nicht so wirkte. Dorian kannte als Einziger ihr Geheimnis: Sie war Halbvampirin und ihr Vater ein Mensch. Er lebte als Künstler und Restaurateur in Venedig, aber davon wusste niemand etwas in Liliths Vampirfamilie. Liliths Mutter war eine bekannte Geigerin und oft auf Tournee. Sie trat natürlich immer erst nach Sonnenuntergang auf.

Lilith besaß sowohl menschliche als auch vampirische Eigenschaften, was manche Vorteile, aber auch einige Nachteile hatte. Es war ein großes Wagnis für sie, dass sie sich auf der Schule der Nacht angemeldet hatte.

Lilith stand nun sehr dicht vor ihm.

»Ich habe mich um dich geängstigt«, sagte sie ernst. »Nun ja, wenn du Costin schon nicht anschwärzen willst, kann ich wenigstens deinen Umhang stopfen.«

»Meinst du, du kriegst das hin?«

»Aber sicher. In meiner vorigen Schule hatte ich Handarbeiten, und die Mutter meiner besten Freundin war Kunststopferin.«

»Das ist wirklich total nett von dir.« Dorian wusste nicht recht, was er sagen sollte.

Von der Turmuhr der Schule schlug es elf Uhr. Unterrichtsbeginn!

»Komm, wir müssen uns beeilen!«, sagte Lilith und zog ihn zum Eingang.

Dracula junior

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