Читать книгу Finnische Träume | Roman - Joona Lund - Страница 3

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1. Die Reportage

Hätte Lia geahnt, auf was sie sich da einließ, hätte sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, den Auftrag zu übernehmen. Bereits beim ersten Zusammentreffen war der Journalistin der intensive Blickkontakt der Geschwister aufgefallen, ihre schicksalhafte Verbindung hatte sie aber erst begriffen, als es für eine Umkehr zu spät gewesen war.

Es war Lias Idee gewesen, einen Bericht über Schüler zu bringen, die im Preisausschreiben über politische oder wirtschaftliche Themen in Schülerzeitungen gesiegt hatten, und mit Reportagen über ihre Herstellung zu ergänzen. Lia hatte nicht damit gerechnet, dass der Chefredakteur ausgerechnet ihr die Realisierung aufs Auge drücken würde, da er doch wusste, dass sie Schulen nicht ausstehen konnte. Sie gestand sich ein, am Auftrag nicht ganz unschuldig gewesen zu sein: Dem Chef war ihr Ausspruch auf einer Betriebsfeier hinterbracht worden, ihr seien Schulen stets ein Gräuel gewesen, schon als Kind sei ihr vom Schulmief schlecht geworden und der Widerwille habe sich im Laufe der Jahre eher verstärkt. Lias Vorschlag, die Berichte über die Schülerzeitungen dem Benjamin in der Redaktion zu übertragen, schmetterte der Chefredakteur ab und begründete das mit der abstrusen These, es wäre nicht wichtig, ob jemand ein Thema liebe oder hasse, sondern ob er sich damit auseinandergesetzt hätte und das träfe nun mal auf sie zu.

»Du machst die Story, Lia, und damit Punktum! Und wenn du schon mal dort bist, kannst du gleich auch eine Reportage für den Hörfunk machen. Lass einfach das Aufnahmegerät mitlaufen!«

Sie schnitt eine Grimasse. Der Alte wusste, wie viel Arbeit im Tonschnitt steckte und welche Mühe es bereitete, Jugendliche dazu zu bringen, vernünftige Sätze ins Mikrofon zu sprechen.

»Du kannst mit Jugendlichen umgehen und du weißt, dass wir sparen müssen. Die Werbeeinnahmen sind eingebrochen, wir müssen fürs Radio produzieren.« Allen Einwänden zuvorkommend setzte er hinzu: »Du wirst schon was Brauchbares bringen, ich spüre es im Urin.«

Wieder einer seiner abgedroschenen Sprüche, die sie nicht ausstehen konnte. In letzter Zeit war es zum Normalfall geworden, Redakteure auch für den zum Unternehmen gehörenden Hörfunk einzuspannen. Lustlos trat sie die Reise in den Norden an, überzeugt, eine Geschichte abzunudeln, die maximal Schüler, Eltern und Lehrer interessierte.

Was den Hörfunk betraf, fand sie nach den ersten zwei Schulen ihre Befürchtung bestätigt: Der Chef hatte ihr eine langweilige Reportage aufs Auge gedrückt, denn die Jungredakteure, wie sie sich stolz nannten, hatten zwar gut beobachtet, auch alles leidlich zu Papier gebracht, aber vor dem Mikro war ihnen nichts Konkretes zu entlocken – ihre Antworten kamen, als fragte ein Lehrer ihr spärliches Wissen ab. Die Interviewten waren nicht in der Lage gewesen, Funktion und Wesen einer Schülerzeitung in wenigen Sätzen zu charakterisieren, es war ein Herumstottern. Selbst provozierende Fragen hatten sie nicht aus der Reserve gelockt, eher noch verklemmter und verstockter gemacht. Lia stand praktisch mit leeren Händen da.

Den letzten Preisträger – nach einem Blick auf die Karte schien er am Ende der Welt zu leben, nämlich am östlichen Rand Lapplands, nicht weit von der russischen Grenze entfernt – hatte sie sich bis zum Schluss aufgehoben. In der Gegend war sie noch nie gewesen. Sie fuhr die halbe Nacht mit dem Zug, übernachtete in einem drittklassigen Hotel, nahm ein viertklassiges Frühstück zu sich – was ihre Stimmung nicht gerade hob – fuhr Stunden mit dem Bus, bis sie endlich die Gemeinde erreichte, in der die Schule des zweiten Siegers lag.

Lia war angemeldet und hoffte, man ließ ihr wie in den anderen Schulen freie Hand, denn sie wollte die Sache möglichst rasch hinter sich bringen. Noch hatte sie keine Zeit gefunden, den Aufsatz von Jan, so hieß der Schüler, zu lesen. Im Bus stellte sie überrascht fest, dass er eine Menge Informationen verarbeitet hatte, die weit über den Lehrstoff der Schule hinaus­gingen. Sie war von der einfühlsamen Ausdrucksweise, mit der er die Landflucht beschrieb, beeindruckt: Sie sah die Bauern, die in der Küche zum x-ten Mal diskutierten, ob sie ihren Hof aufgeben oder ausharren sollten, direkt vor sich. Lia war neugierig geworden, schraubte ihre Erwartungen aber wieder herab, zu oft war sie enttäuscht worden.

Die Straße folgte dem längsten Fluss Lapplands, oder war es der längste Finnlands? Zu Hause wollte sie nachschauen, machte sich eine Notiz. In den Dörfern mit verstreut liegenden Häusern stiegen selten Passagiere aus oder zu, Touristen verirrten sich in dieser Jahreszeit kaum hierher.

Der Ort am Fluss wirkte wie ausgestorben. In den drei Geschäften hielten sich mehr Verkäuferinnen als Kunden auf. Im Zentrum, wenn man es so nennen konnte, trennten Gärten, in denen Schnittlauch, Petersilie und mickrige Johannisbeersträucher wuchsen, die Häuser voneinander. Dichte Naturzäune zwischen den Gebäuden betonten die Distanz zum Nachbarn. Es war kein richtiges Dorf, mehr eine lockere Ansammlung verstreuter Häuser und Höfe wie in jenem Märchen, in dem das Kind eines Riesen mit Menschenhäusern spielt und die Häuser willkürlich abstellt. Aus den Trampelpfaden waren irgendwann Straßen entstanden. Natürlich war Lia geläufig, dass die Besiedlung im Norden dünn war, aber es war eben ein Unterschied, wenn man mit eigenen Augen sah, wie wenig Leute hier lebten. Sie hatte sich nicht vorgestellt, dass die Höfe so abgeschieden zwischen den sanft ansteigenden fast baumlosen Anhöhen lagen.

Viele Kinder, erklärte die Direktorin, fuhren eine Stunde oder länger mit dem Schulbus. Der Hof von Jans Eltern wäre der letzte im Tal. Morgens sammelte der Bus die Schüler ein und brachte sie am Nachmittag wieder nach Hause. »Wollen Eltern einige Bekannte oder Jugendliche ihre Freunde treffen, bedeutet das weite Wege, denn manche wohnen im anderen Tal.«

Wie bei den anderen Preisträgern wollte Lia Jan in der Schule erleben, seine Freunde befragen und die Atmosphäre einfangen. Sie rechnete damit, den letzten Bus zu erreichen. Die Lehrerin berichtete, Jan hätte schon als Kind gern geschrieben, später wären Aufsätze von ihm vorgelesen worden; er hätte an Wettbewerben teilgenommen und zweimal Preise gewonnen. Die Schülerzeitung ging auf seine Initiative zurück und würde, wenn er abschloss, über kurz oder lang eingehen. Er wäre der Motor, ohne den nichts funktionierte; es steckte viel mehr Arbeit dahinter als ein Außenstehender meinte. Wegen der Entfernungen müssten sie alles hier in der Schule besprechen und fertigstellen. Die Lehrerin führte die Journalistin in die Klasse.

»Das ist Lia, ihr wisst Bescheid. Sie wird Jan und allen, die bei der Zeitung mitmachen, Fragen stellen. Jan, sei bitte so freundlich und führe die Reporterin in den Werkraum, die anderen warten dort.«

Ruhig, als machte er so etwas jeden Tag, erhob sich Jan, hielt die Tür auf. Der mittelgroße dunkelblonde junge Mann machte einen in sich ruhenden Eindruck, wirkte im Vergleich zu den beiden anderen Preisträgern, die aufgeregt herumgestottert hatten, sehr gelassen. Lia ahnte, die Tonaufnahmen mit ihm könnten etwas hergeben. Im Werkraum warteten drei aufgeregte Jungen und ein Mädchen. Kaum hatte sich Jan hinzugesellt, übertrug sich seine Ruhe auf die Gruppe. Lia wusste, Jungen haben, wenn sie vor anderen berichten sollen, häufiger Hemmungen als Mädchen.

Als sie Jan das Mikrofon hinhielt, wurde er nicht wie die anderen vor Aufregung abwechselnd blass und rot, sondern antwortete auf ihre Fragen über Themenwahl und Umsetzung, über das Verhältnis zur Schulleitung und zu den Lehrern oder wie das monatlich erscheinende Blättchen bei den Mitschülern ankomme, gefasst. Er gab Fragen an Mitschüler weiter und bezog sie so geschickt ein. »Ich glaube«, sagte er etwa, »Ero, du kannst das besser beantworten.«

Der einen halben Kopf größere Junge akzeptierte die Anweisung ohne Zögern, man spürte, Jan war der Kopf. Die Jugendlichen zwischen fünfzehn und achtzehn schauten, ehe sie antworteten, zu ihm und er nickte ihnen aufmunternd zu, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Die Situation unterschied sich grundlegend von den anderen Schulen, wo Eifersüchteleien und das Bestreben, sich zu profilieren, die Teamarbeit behindert hatten.

Lia spürte jenes Kribbeln im Bauch, das sich meldete, wenn sie merkte, dass sich eine Story weit besser anließ als erhofft. Häufig lag das nicht am Inhalt, sondern an den die Geschichte tragenden Hauptfiguren. Oft bekam ein langweiliges Thema durch die handelnden Personen den besonderen Drall, ihr schwante, mit der Rückreise würde es heute nichts werden. Wie zur Bestätigung schlug der Jüngste im Team vor, Lia sollte mit Jan und Inku zu deren Hof fahren. Er warf Jan einen fragenden Blick zu und dieser nickte bedächtig.

»Dann können Sie sich ein besseres Bild von uns hier machen.«

Das bedeutete, hierzubleiben. Lehnte sie aber ab, brachte sie sich um die Chance, eine gute Geschichte einzufangen. »Klingt nicht übel. Und wie komme ich ins Hotel zurück?«

Das wäre kein Problem, meinte Jan, auf dem Hof wäre Platz genug, sie könnte im Schulbus mitfahren und bei ihnen übernachten. Jetzt hätte sie noch Zeit, sich in der Schule umzusehen und Sachen für die Nacht aus dem Hotel zu holen. Die Umsicht des Jungen verblüffte sie, es hörte sich an, als wäre er gewohnt, in der Welt herumzureisen.

In der großen Pause schlenderte sie über den weitläufigen Schulhof. Der allgemeine Geräuschpegel unterschied sich nicht von anderen Schulen. Ihr Augenmerk richtete sich auf Jan. Ihr fiel sein wiederholter Blickkontakt zu einem jüngeren Mädchen auf, das nicht in der Zeitungsgruppe gewesen war.

Lia fragte eine Schülerin, wer das wäre.

»Das ist Inku, seine Schwester, sieht doch ein Blinder!«

Lia schlenderte zu der Mädchengruppe. »Hätte mir selbst auffallen müssen«, murmelte sie.

»Haben Sie was zu mir gesagt?«, fragte ein vorbeigehender Junge.

Sie griente. »Nein, ich führe Selbstgespräche.«

Lachend drehte sich der Junge weg.

Sie beobachtete die Geschwister, die aufeinander zugingen. Die Ähnlichkeit war trotz des Altersunterschieds unverkennbar. Gesten, Kopfhaltung und Bewegungen stimmten überein als wären sie Zwillinge. Jan lächelte der Schwester zu und sie lachte fröhlich zurück. Lia gewann den überraschenden Eindruck, das Mädchen begrüßte ihn geradezu kokett. Und da war noch etwas, das sie wie ein unsichtbarer Vorhang von den anderen trennte, als stünden sie auf einer Insel. Vielleicht war es Einbildung, doch die beiden schien etwas zu verbinden, das über die Zugehörigkeit zur gleichen Familie hinausging. Gewohnheitsmäßig speicherte Lia die Beobachtung ab, bei der Nachbearbeitung war sie über jede zusätzliche Information froh. Es läutete, die Schüler trotteten in die Klassen zurück.

Lia bummelte durch den Ort, trank im einzigen Café eine braune als Cappuccino angeschriebene Brühe, aß eine Kleinigkeit. Im Hotel steckte sie Kulturbeutel und Wäsche in die Umhängetasche, hing sich das Bandgerät über die Schulter. Aus dem Vorhaben, im Bus mit den Geschwistern Vorgespräche zu führen, wurde nichts, sie saßen mit ihren Freunden zusammen. Überdies war Lia hundemüde.

Jan rüttelte sie wach. »Lia, wir sind da.«

Der Busfahrer gab Jan Post mit. Es sei nicht weit, beruhigte Jan sie und hängte sich den Rekorder um. Auf ihre Frage, was er einmal werden wollte, antwortete er ohne Zögern: Journalist. Spontan bot sie ihm an, in den Ferien bei ihrer Zeitung zu praktizieren, war enttäuscht, als der Junge nicht wie erwartet begeistert reagierte, sondern einwandte, er müsste mit Vater sprechen, am Hof gäbe es viel zu tun.

Da meldete sich Inku zu Wort, die missgelaunt hinter ihnen hergetrottet war. Es missfiel ihr offensichtlich, plötzlich die zweite Geige zu spielen. »Das geht nicht, Vater braucht ihn!« Sie sagte es unwirsch. Lia verstand. Inku wollte wohl nicht, dass Jan fortging.

»Ein Praktikum bei der Zeitung«, ging er nun auf das Angebot ein, »würde mich schon reizen, sehr sogar. Aber Vater ist tatsächlich auf meine Hilfe angewiesen, gerade im Sommer.«

Lia fragte seine Schwester, warum sie nicht in der Schülerzeitung mitarbeitete, doch Inku tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. Jan erläuterte, sie dürfte erst mit fünfzehn mitmachen, außerdem machte sich Inku nicht viel aus der Schreiberei.

Das Mädchen reagierte mürrisch: »Ich helfe dir doch jetzt schon bei der verdammten Zeitung!«

Es hatte den Anschein, Inku befürchtete, die Fremde aus der Stadt könnte einen Keil zwischen sie und den Bruder treiben. Er drehte sich zu ihr. »Stimmt. Und ich bin froh, dass du hilfst und mir den Kleinkram abnimmst.«

Jan hatte mit Feingefühl auf Inkus Einwand reagiert – selten bei Jungen in dem Alter – und sie war beschwichtigt.

Er wies auf ein massives, behaglich wirkendes Bauernhaus aus Holzbohlen in einer Mulde. »Da sind wir. Mutter wird Augen machen, wenn wir Besuch aus der Stadt mitbringen, noch dazu eine Journalistin. Sie freut sich auf jeden Gast, das kommt selten vor hier draußen.«

Während die Geschwister den Vater holen gingen, erklärte die Mutter im Gespräch in der Wohnküche auf Lias Fragen, Jan und Inku litten nicht unter den Entfernungen zu Nachbarn oder zur Stadt, und den weiten Schulweg wären sie von klein auf gewohnt. »Sie haben viel miteinander gespielt, stecken oft zusammen. Inku hängt an Jan.« Und dann erzählte sie Lia, wie Jan Inku gerettet hatte, und das nie vergessen würde. Er hatte sie auf Skiern zu einer Schulfreundin begleitet, obwohl Vater gewarnt hätte, das Wetter könnte umschlagen. Prompt wären sie beim Zurücklaufen in einen Schneesturm geraten und hatten sich verirrt. Inku wäre völlig erschöpft gewesen, hätte sich hinsetzen wollen, wäre eingeschlafen, doch er wäre vor ihr gegangen, hatte sie mit den Stöcken gezogen und mit letzter Kraft nach Hause geschleppt. Bei dem Sturm wären sie kaum zu finden gewesen, die Schneeverwehungen hätten jede Spur verwischt und die Temperatur wäre ständig weiter gefallen. »Er hat ihr das Leben gerettet.« Nachdenklich schloss die Mutter: »Inku hat grenzenloses Vertrauen zu Jan.«

Lia bemerkte das winzige Zögern, als wollte sie ein Aber hinzufügen. Sie hatte sehr plastisch erzählt. Lia sah die beiden im Sturm vor sich. »Woher hat Jan die Informationen für den Aufsatz und wer hat ihm den Stil beigebracht?«

Stolz antwortete die Mutter: »Er hat immer viel gelesen, besitzt ein gutes Gedächtnis und war immer neugierig, konnte einem ein Loch in den Bauch fragen.«

Gedankenvoll erkundigte sich Lia, wie das mit den beiden, die so sehr aufeinander eingespielt waren, werden würde, wenn sie sich aus der Familie lösten oder einen von beiden die große Liebe überkäme. Die Mutter schwieg lange, Lia nahm schon an, sie wollte nicht antworten.

»Das bereitet mir auch Sorge, vor allem für Inku. Sie sind in jeder freien Minute zusammen, eigentlich schon zu viel.« Versonnen fügte sie hinzu: »Für ihr Alter.«

Der Vorschlag der Journalistin, Jan könnte in den Ferien bei ihrer Zeitung ein Praktikum machen, gefiel ihr. Sie hätte mit ihm darüber gesprochen, fuhr Lia fort, er hatte aber Bedenken, weil er Vater am Hof helfen müsste.

Der kam eben mit den Kindern zur Tür herein. Beim Essen stellte er die wirtschaftliche Situation der Bauern im Norden dar, wies darauf hin, dass der Ertrag Jahr für Jahr zurückginge, obwohl sie weit mehr Arbeit investierten als die im Süden: Die Böden wären sauer und vertorft, für den Ackerbau nicht geeignet und der massive Einsatz von Düngekalk verteuerte die Produktion. Viele Familien wären in die Stadt gezogen, dort gäbe es Arbeit; auch sie hätten es sich überlegt. Er schaute seine Frau an, sprach mehr zu ihr als zu Lia. »Wir rackern von früh bis spät, doch der Boden ist schlecht, das Klima hart und der Sommer kurz. Bald werden hier noch weniger Menschen leben ...« Er brachte alles rasch auf den Punkt, das hatte Jan wohl von ihm. Er meinte, der Junge sollte das Praktikum auf jeden Fall machen, es wäre eine Gelegenheit, zu testen, ob der Beruf für ihn das Richtige war. »Vier Wochen komme ich auch ohne ihn zurecht.«

Trotz der späten Stunde hielt Lia ihre Beobachtungen fest. Sie wusste aus Erfahrung, wie schnell Eindrücke verblassten. Schließlich stand sie am offenen Fenster und starrte in die Nacht, lauschte dem Rauschen des Windes in den Blättern. Ihr ging viel durch den Kopf, sie war sich sicher, nicht einschlafen zu können, nahm die Kopfhörer und hörte das Band ab. Zwei Jahre als Gerichtsreporterin hatten sie gelehrt, genau zu beobachten, zu erfragen, was nicht zu sehen war. Das Band lief, sie erlebte die Szene mit den Geschwistern im Schulhof nochmals, die Eindringlichkeit der Blicke, als tauschten sie, ohne ein Wort zu verlieren, Botschaften aus, die andere ausschlossen. Lia versuchte, die Erinnerung zu schärfen, um nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Das Gehirn hält Belanglosigkeiten fest, von denen man zum Zeitpunkt der Beobachtung nicht ahnt, dass sie irgendwann Bedeutung erlangen könnten – so war ihr aufgefallen, dass sich Schnitt und Ausdruck der Augen trotz der unterschiedlichen Augenfarben glichen. Die Blicke, die sie sich zugeworfen hatten, waren von einer Intensität, als versinke der eine im anderen. Zwar hatte der Kontakt nur Sekunden gedauert, war aber mehrmals erfolgt. Der Trubel auf dem Schulhof hatte die beiden nicht gestört. Beeindruckt hatte Lia auch, dass der eine zu spüren schien, wenn ihn der andere suchte. Beim Frühstück mit Mutter und Geschwistern fragte sich Lia allerdings, ob sie ihre Beobachtungen nicht mit zu viel eigenen Vorstellungen angereichert hatte.

Finnische Träume | Roman

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