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2. Der Wandel (Jan)

Jan war zwar schon im zweiten Semester, aber an die Doppelbelastung von Studium und Job hatte er sich noch nicht gewöhnt. Abends sank er erschöpft ins Bett, konnte häufig trotzdem keinen Schlaf finden. Wie das hin- und herschwingende Pendel der Standuhr im elterlichen Wohnzimmer kam immer wieder die Überlegung zum Vorschein, dass sein Gefühl für Inku über die normale geschwisterliche Zuneigung hinausging. Erinnerungen – Fenster in die Vergangenheit – gaukelten ihm wie in einer Endlosschleife Bilder vor, wie es angefangen hatte. Anfangen war nicht das zutreffende Wort, es hatte nicht begonnen wie eine Kinovorstellung, wenn das Licht gedimmt wird, die Zuschauer auf die Verzauberung durch laufende Bilder, Musik, Geräusche und Sprache eingestimmt werden, auf die exakt geplanten Handlungen auf der Leinwand warten.

Bei ihnen war es anders gelaufen, schließlich verläuft das Leben nicht nach einem Drehbuch, ihr Verhältnis hatte sich allmählich, beinahe unmerklich, verändert, in winzigen Schritten. Er merkte es erst, als er sich dem Sog der Geschehnisse nicht mehr entziehen konnte, ohne großes Leid in Kauf zu nehmen. Wohl hatte er die körperlichen Veränderungen wahrgenommen, sie waren ja auch nicht zu übersehen gewesen, aber sie waren für ihn lediglich Folgen des normalen Reifungsprozesses gewesen. Allmählich sickerte die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass die mit diesem Prozess einhergehenden Änderungen nicht nur Inkus Leben, sondern auch seines umkrempelten, zumal er begann, Einfluss auf sie zu nehmen.

In stillen einsamen Stunden holte sich Jan Szenen aus dem Gedächtnis vor Augen und ließ sie wie einem Film ablaufen. Eine Erinnerung schob die nächstfolgende zur Seite, bis eine die Oberhand gewann: die, als sich Inku von einem Tag auf den anderen weigerte, in Unterwäsche durchs Haus zu laufen. Hätte Mutter nicht darauf hingewiesen, es sei in ihrem Alter normal, es nicht zu tun, wäre es Jan wahrscheinlich nicht aufgefallen. Der eigentliche Wendepunkt aber war Inkus erste Regel. Auf ihren Schrei: »Mutti, ich blute, komm schnell!«, war Mutter herbeigeeilt, hatte so etwas wohl erwartet, nahm im Vorbeigehen Watte und eine Binde aus dem Arzneischrank, redete beruhigend auf das aufgeregte Mädchen ein. Jan, der in der Annahme, Inku habe sich verletzt, gelaufen kam, bedeutete Mutter mit einer Kopfbewegung, zu verschwinden.

Jan fand das Getue übertrieben, hätte es wohl vergessen, wenn Inku sich nicht von nun an anders verhalten hätte, sich launisch gab, oft richtig zickig wurde. Das hatte er nicht erwartet, bisher war sie ein vernünftiges cleveres Mädchen gewesen. Ein weiteres Zeichen für die Veränderung war das Versperren der Tür beim Waschen oder Duschen. Und als er eines Morgens in ihrem Zimmer über der Stuhllehne einen Büstenhalter hängen sah, betrachtete er ihn verdutzt. Brauchte sie so etwas auf einmal? Ein unerklärlicher Impuls, stärker als eine ihm selbst unerklärliche Scheu, veranlasste ihn, die darüber gebreiteten Strümpfe beiseitezuschieben und den BH mit spitzen Fingern aufzunehmen. Ein Duft stieg von dem luftigen rosa Kleidungsstück auf, er hob es zur Nase und sog das neuartige Parfüm mit zitternden Nasenflügeln ein. Noch nie hatte er die feine Mischung aus Körpergeruch und Schweiß wahrgenommen, es war ein herb-süßer Geruch, der ihn schwindeln ließ. Hinterher stellte er erstaunt fest, diese Aktion war unabhängig von seinem Willen erfolgt, es war ein Instinkt, und obwohl ihn niemand beobachtete, war er verlegen und legte das Wäschestück zurück.

Beim Frühstück steckte er Inku das Stück Schokolade vom Abend zu, das er sich für die Schule aufgehoben hatte. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, sie wunderte sich wohl, was der Anlass sein konnte. Verstohlen musterte er ihre kleinen gleichwohl unübersehbaren Hügel, die sich unter dem Pullover abzeichneten. Seine tastenden Blicke entgingen ihr nicht, errötend senkte sie den Kopf. Hatte er bisher Inku als Neutrum betrachtet, als kleine in letzter Zeit etwas schwierig gewordene Schwester eben, die er gern hatte, begriff er, dass sich das anhängliche kleine Mädchen zum launenhaften Teenager – er zögerte, den Ausdruck auf Inku anzuwenden – gewandelt hatte. Ihr körperlicher Reifungsprozess schritt unübersehbar voran, er ahnte, das Verhältnis zwischen ihnen würde von nun an nicht mehr so sein wie bisher. Nicht vorauszusehen war, dass sich die Vermutung so schnell bestätigen würde.

Blätterte er im Tagebuch, sah er, dass nicht allein der Zeitpunkt der Veränderung entscheidend war, sondern dass die Begleiterscheinungen die Situation beschleunigten. Es gelang ihm nicht, in das Chaos der neuartigen und mitunter schockierenden Gefühle eine Struktur zu bringen. Noch wehrte er sich gegen die sich ins Bewusstsein drängenden Bilder, die nicht nur im Traum erschienen, sondern ihn auch tagsüber beschäftigten. Je vehementer er die aufblitzenden Momentaufnahmen verdrängte, desto intensiver erschienen sie in abgewandelter Form erneut. Woher hätte er wissen sollen, dass es ungeheurer Anstrengung bedarf, Vorstellungen zu bekämpfen, wenn das Gehirn Botenstoffe als Belohnung ausschüttet, die Lustgefühle auslösen? Anerzogene Hemmungen und eine unerklärliche Scham verdrängten Szenen ins Unterbewusstsein, die gerade dann auftauchten, wenn er nicht darauf gefasst war. Die Szenen riefen Wünsche hervor, fachten Gelüste an, die neu waren und ihn ängstigten, weil er sie seiner für sein Alter schon recht festgefügten Gedankenwelt nicht zuzuordnen vermochte und weil sie allgemein gültigen Konventionen widersprachen. Das wurde ihm allerdings erst bewusst, als es bereits zu spät war.

In seinen Träumen lief das Geschehen natürlich anders ab und da es keinen Sinn macht, sich gegen Träume zu wehren und diese noch dazu teuflisch schön waren, ging er dazu über, sich vor dem Einschlafen Situationen in der Hoffnung vorzustellen, eines seiner Luftschlösser herbeizuzaubern, in dem sich Szenen aus der letzten Nacht fortsetzten. In einer Zeitschrift fand er einen Artikel über Traumyoga in Tibet, das man dort seit tausend Jahren praktizierte: Schlafende lernen erkennen, was sie träumen und sind durch nachhaltiges Training imstande, den Traum zu lenken. Jan ging es nicht nur um Wiederholung, sondern mehr um die Ausgestaltung von Traumsituationen, in denen Inku die Hauptrolle spielte. Der Artikel beschrieb, künstlerisch und spielerisch veranlagten Menschen gelinge es, so genannte Klarträume herbeizuführen; manche steigerten sich so hinein, dass sie die Klartraumwelt der Wirklichkeit vorzögen.

Sobald ihn derartige Fantasien heimsuchten, fragte sich Jan, so wie es der Artikel empfahl, ob er träumte und irgendwann übertrug sich die Frage tatsächlich in den Traum. Er übte, beim Aufwachen auf die Uhr zu gucken und zu testen, ob alles um ihn herum logisch und plausibel war. Nach Wochen gelang es ihm, Träume herbeizuführen und im Halbschlaf zu erfassen, dass er träumte. Wenn er sich konzentrierte, gelang es ihm, den verschlungenen Windungen des Gehirns ausgewählte Szenen zu entlocken. Er schaffte es, in lockende Situationen einzutauchen und sich in ihnen zu verlieren. Es war eine frivole Welt, in der sich Gefühle weder kontrollieren noch zügeln ließen, dort hatten sie genügend Raum, konnten sich ausleben. Er träumte sich Inku herbei, wie er sie sehen wollte, flog mit ihr über Städte, in denen sie nie gewesen waren, erlebte mit ihr Abenteuer und spielte mit ihr Szenen durch, die mit realistischen Momentaufnahmen begannen und sich in fantastische Vorstellungen vorwagten.

Am Morgen wachte er verwirrt und aufgeräumt auf. Schwieriger war der Umgang mit den Tagträumen, die sich wie Nebel über andere Gedanken legten und seine Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit für sachliche Inhalte minderten. Ein Lehrer ermahnte ihn, lieber mitzuarbeiten statt immer vor sich hin zu träumen. Aufwühlende Gefühle begleiteten die Bilder und Träume, verselbständigten sich, brachen manchmal unvermutet hervor. Die Wucht dieser nicht steuerbaren Empfindungen verstörte ihn, sie hinterließen eine befremdliche Leere. Waren andere zugegen, verdeckte ein Lächeln wie eine Maske die Gefühle, um sich nicht durch sein Mienenspiel zu verraten. Und ohne es zu wollen, legte er ausgerechnet Inku gegenüber Verhaltensweisen an den Tag, die ihn hinterher ärgerten, trug sie doch keine Schuld an seinen wirren Gefühlen. Das schroffe Verhalten brach manchmal gerade dann aus ihm hervor, wenn sie seine Nähe suchte. Da sie nicht ahnte, warum er sich plötzlich so seltsam verhielt, zog sie sich gekränkt zurück, wurde kratzbürstig. Versuchte er einzulenken, indem er seine schlechte Laune auf die Schule schob, zuckte sie die Schultern.

»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.«

Die gereizte Atmosphäre, die auch Mutter auffiel, störte ihre bisher harmonische Beziehung erheblich. »Warum seid ihr auf einmal so hässlich zueinander? Ihr habt euch doch bisher so gut verstanden wie es Geschwister selten tun!«

Schweigend übergingen die beiden die Frage. Anders als in seinen Träumen behandelte er sie mitunter, als wäre sie Luft. Irgendwann drehte sie den Spieß um und forderte ihn so lange heraus, bis er ihr seine volle Aufmerksamkeit widmete. Seit Mutter ihn zurechtgewiesen hatte, es gehörte sich nicht, mit Mädchen in diesem Alter zu raufen, balgten sie sich kaum mehr. Aber die Ermahnung hinderte Inku nicht daran, ihn immer wieder zu reizen, bis er ihr Einhalt gebot.

So nahm sie einmal seinen Vier-Farben-Kugelschreiber, mit dem er gerade geschrieben hatte, an sich und lief in ihr Zimmer, hielt die Tür zu. Mit der Schulter drückte er die Tür auf, schnell steckte sie den Kuli in den Ausschnitt, grinste triumphierend. Ein kurzes Zögern, dann packte er ihre Hände, presste sie mit der Linken zusammen, griff mit der Rechten unter den BH. Als er ihren Busen berührte, schaute sie ihn starr an, ohne sich zu rühren. Da zuckte er zurück, ließ ihre Hände los und ging. Minuten später warf sie den Kuli auf seinen Schreibtisch und lachte. Ein unschönes befremdendes Lachen.

Es gab auch harmonische Phasen, etwa wenn sie klassische Musik oder Jazz hörten. Manchmal stand sie vom Sofa auf und begann, sich nach der Musik zu drehen, vor ihm zu tanzen.

Einmal schaute zufällig Mutter herein, freute sich, dass sie die Musik mochten, aber da war etwas, das sie störte, ohne dass sie hätte sagen können, was es war. Leise schloss sie die Tür. Die beiden waren so in die Klänge des Boleros von Ravel vertieft, dass sie Mutters Kommen nicht bemerkt hatten. Lange sann sie über die Szene nach: Inku hatte verträumt, wie in Trance, vor ihm getanzt, irgendwie hatte es – sie fand kein passenderes Wort – schamlos gewirkt. Mutter hatte nur Sekunden zugesehen, doch der lockende und herausfordernde Gesichtsausdruck der Tochter blieb ebenso im Gedächtnis wie seine Augen, die ihren Bewegungen wie in Hypnose folgten. Die Situation war befremdend, die Kinder erschienen so fern, der Raum war von einer seltsamen Atmosphäre erfüllt gewesen, die ihr, je länger sie darüber nachdachte, geradezu intim vorkam. Sie nahm sich vor, mit Jan zu reden. Doch sie verschob es, wusste nicht recht, wo sie ansetzen sollte. Im Grunde war es harmlos, und doch ... Sie war nicht gewohnt, über schwer in Worte zu fassende Befürchtungen zu reden, sah voraus, Jan würde sie nur schweigend ansehen und verwundert den Kopf schütteln.

Half er Inku bei den Aufgaben, lehnte sie sich an ihn, um besser über seinen Arm ins Heft gucken zu können. Das seltsame Prickeln, das ihn erfasste und ein Schauer, der zitternd durch den Körper lief, war eine völlig neue Erfahrung. Er musste sich zur Konzentration zwingen. Und verblüfft konstatierte er, dass jeder Versuch, die von ihr ausgehende Anziehungskraft zu ergründen und sie abzuschwächen, abgeblockt wurde, als würde eine Kraft sein logisches Denkvermögen lahmlegen. Nie zuvor hatte er ein so starkes Gefühl verspürt und es verstörte ihn, dass es ihm gerade bei Inku passierte. Er kämpfte dagegen an, doch der alle Sinne ansprechende Reiz erwies sich als stärker denn der Wille. Auch wenn sie nur an den Schrank gelehnt dastand und ihre Figur zur Geltung brachte, so verspürte er das Bedürfnis, hinzugehen und sie zu berühren. Dinge, denen er bislang kaum Beachtung geschenkt hatte, riefen Regungen hervor, die ihn verwirrten. Mutter schimpfte, wenn Inku den gebrauchten Büstenhalter im Badezimmer hängen ließ, das gehörte sich nicht. Aber am nächsten Tag hing er wieder dort. Es erschreckte Jan, dass ihn das feine Gemenge aus Körpergeruch, Schweiß und Seife, das ihm in die Nase stieg, und das er unter hunderten erkannt hätte, erregte. Statt den Geruch zu meiden, wühlte er sein Gesicht in den BH hinein, steckte ihn in die Hosentasche, um hin und wieder daran zu schnuppern.

Als die Entwicklung viel später eskalierte, warf er sich vor, der Faszination des Verbotenen nicht widerstanden zu haben, im Gegenteil, sie hatte ihn animiert. Ausschlaggebend für die Entfaltung seiner Gefühle war Inkus gesamte Erscheinung: Die Art zu gehen, sich zu bewegen, den Zopf nach hinten zu werfen, der staunende Blick aus den großen Augen, der oft nachdenklich auf ihm ruhte, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, und eben ihr Geruch. Unversehens hatte sich Gewohntes in eine völlig andere Kategorie verwandelt. Er las im Tagebuch und stellte verblüfft fest, die beschriebenen Empfindungen und Gedankengänge glichen den Äußerungen eines Verliebten. Sich selber gegenüber war er ehrlich genug, die Ausrede, die Heftigkeit seiner Gefühle sei eine Folge der Einsamkeit auf dem abgelegenen Hof in der schwermütigen Landschaft, als Selbstbetrug zu entlarven. Bisweilen erfassten ihn die Gefühlswallungen wie ein Fieber; die Ausschläge der Kurve flachten sich zwar bald ab, doch er wusste, die Fieberglut würde wiederkommen. Und er begann darauf zu warten, es war ihm egal, dass die Anfälle jedes Mal kräftiger wurden, von Heilung konnte keine Rede sein. Und im Grunde wünschte er auch gar nicht, geheilt zu werden, im Gegenteil: Er behielt nicht nur die Gewohnheit bei, vor dem Einschlafen im Tagebuch zu lesen, um einen Klartraum anzulocken, sondern stellte seine ganze Fantasie der Traumwelt zur Verfügung. Mit der neuen Gefühlslage konnte er noch nicht umgehen, mitunter hatte sie ähnliche Auswirkungen wie zu viel Alkohol. All das änderte sein Verhalten zu Inku von Grund auf. Im Tagebuch beschrieb er bestimmte Szenen sehr ausführlich, wie jene, die ein Schrei aus dem Badezimmer einleitete.

»Oh Gott, nicht schon wieder!«, drang der erregte Ruf durch die Tür.

Er eilte hin, klopfte, drückte die Klinke, es war nicht abgeschlossen. »Hast du dich verletzt?« Noch während der Frage registrierte er, dass Inku nur im Höschen auf der Waage stand und mit aufgerissenen Augen auf die Gewichtsanzeige schaute. Sie drehte sich ihm zu. »Ich habe schon wieder zugenommen!«

Wie eine Kamera hielt sein Gehirn das Bild fest, dass sie fast nackt vor ihm stand und ihn erschrocken anschaute. Plötzlich, als bemerkte sie erst jetzt, dass sie fast nichts anhatte, lief ihr Gesicht rot an. Sie nahm ein Handtuch und hielt es sich vor die Brust. Zum ersten Mal hatte er ihre Paradiesäpfel mit den zarten Knospen nah und deutlich gesehen, nicht groß, aber fest.

»Du bist halt im Wachsen«, stotterte er, »da nehmen alle zu. Und außerdem«, fügte er einem Impuls nachgebend hinzu, »gefallen mir nicht gar zu schlanke Mädchen ohnehin besser. Dürre Frauen sind schrecklich.«

Schnell schloss er die Tür, Inkus Schrei konnte auch Mutter gehört haben. War es Zufall oder war die Scheu ihm gegenüber noch ungewohnt? Jedenfalls hatte sie es nicht eilig mit dem Handtuch gehabt. Mit der Zeit kam eine ganze Reihe von Szenen zusammen, jede für sich harmlos, ihre Häufung aber beunruhigte. Vielleicht achtete er mehr darauf oder aber, schoss ihm der Verdacht durch den Kopf, sie probierte aus, wie er reagierte. Eventuell beabsichtigte sie sogar, ihn zu reizen? Ein so raffiniertes Verhalten traute er ihr nicht zu, zumindest so lange nicht, bis er jenes Lächeln das erste Mal sah, ein wissendes und, wie ihm schien, auch ein berechnendes Lächeln, das ihn in Unruhe versetzte und seinen Glauben an Zufall ins Wanken brachte. Damals ahnte er nicht, dass er dieses Lächeln, das ihre Wangengrübchen hervortreten und sein Herz schneller schlagen ließ, einmal lieben würde und dass ihn die Vorstellung, dass sie es auch anderen zeigte, rasend vor Eifersucht machen würde. Es war ein anderes Lachen als jenes, das sie beim übermütigen Zwitschern der Vögel an den ersten warmen Frühlingstagen, wenn das Eis auf den Seen schmolz, sehen ließ. Das neue Lächeln schien das Versprechen zu beinhalten, ihm mehr zu geben als er sich erträumte. Er fragte sich, ob er sich alles einbildete, bis ihm ein Anlass bewies, dass sie ihn herausforderte.

Abends quälte er sich im Wohnzimmer durch das langweilige Lehrbuch, während sich Inku genüsslich auf dem Sofa gegenüber räkelte und eins ihrer geliebten Kitschromane las. Sie hatte sich halb zur Seite gedreht, ihr kurzer Rock war nach oben gerutscht, die Schenkel lagen weit hinauf frei, ein Bein hatte sie über das andere gelegt. Er merkte, dass sie ihn verstohlen musterte, warf einen Blick zu den Eltern, die sich von einem Krimi fesseln ließen, starrte auf ihre hellen Schenkel. Sie senkte das Buch und grinste, als könnte sie seine Gedanken lesen, drehte sich langsam, wobei der Rock spannte und Jan bis zum Zwickel sehen konnte. Einige Sekunden blieb sie in dieser Position, hob den Po, ehe sie gemächlich den Rock glatt strich und dabei grinste, als wüsste sie genau, was in ihm vorging. Es bereitete ihr offensichtlich Vergnügen, seine Verwirrung zu beobachten, sie hob das Buch und lachte, als hätte sie eine witzige Stelle gelesen.

Manchmal ärgerte sie ihn aus purem Übermut, bis er zornig wurde. Mit einem Gummiband schoss sie Papierkugeln auf ihn und ignorierte seine Warnung, das zu unterlassen und ob sie nicht sehen könnte, dass er lernte. Sie kicherte und schoss weiter auf ihn, bis er aufstand, sie mit einer schnellen Bewegung am Arm fasste.

Sie schrie auf. »Au, nicht so fest, du tust mir weh.«

»Dann lass mich in Ruhe!«

»Uh, der Herr ist heute aber schlecht gelaunt.« Sie entwand sich, nahm das Plastiklineal vom Schreibtisch, ließ es auf seine Hand sausen und lief los.

»He, was fällt dir ein!«, rief er, setzte ihr nach, packte sie fest, presste sie an sich. Er spürte ihre Brüste durch den dünnen Pullover, erschrak, als sich in seiner Hose etwas rührte.

Sie regte sich nicht, flüsterte: »Tut mir leid.«

Verlegen ließ er sie los, es war so schnell gegangen, dass sie kaum bemerkt haben konnte, was ihm geschehen war, nahm sich aber vor, nicht mehr mit ihr zu raufen. Der Vorfall hinderte sie nicht daran, ihn weiterhin zu reizen und hinterher so zu tun, als wäre nichts gewesen.

Waren dreizehnjährige Mädchen schon so raffiniert, fragte er sich. Tatsache war, dass sie häufiger versuchte, ihn aus der Reserve zu locken, als wollte sie zeigen, dass er nicht mehr der große Bruder war, der sie beschützte oder ihr Anweisungen gab, das zu holen oder jenes zu lassen, sondern dass ihre Beziehung eine andere Basis erhalten hatte. Versuchte er, seine alte Rolle wieder aufzunehmen, ignorierte sie seine Aufforderungen mit jenem Lächeln, das ihn abstieß, weil es berechnend wirkte, das ihn gleichzeitig anzog, weil es etwas enthielt, was als Verheißung ausgelegt werden konnte.

Des Öfteren ließ sie ihm Zeichen von Zuneigung zukommen und es schien ihr gleichgültig zu sein, wenn es Dritte mitbekamen. Zuerst deutete er sie als Zufälligkeiten, bis deutlich wurde, dass sie Aufforderungscharakter hatten. Es war ihre Art, ihn zu erinnern, dass sie etwas von ihm erwartete. Und beim Versuch, zu erraten, was sie meinen könnte, verspürte er zwar ein angenehmes Kribbeln im Bauch, ermahnte sich aber, gelassen zu reagieren, er konnte ja nicht beurteilen, ob er die Situation realistisch einschätzte.

Jahre später verstand er, ihre starke Bindung war weniger eine Folge mangelnder Gelegenheiten, sondern beruhte vielmehr auf der Tatsache, dass sich früh eine tiefe Zuneigung entwickelt hatte, die sich durch die sexuelle Anziehung verstärkt hatte. Und er hatte dem Gefühl nichts entgegengesetzt, als noch Zeit zur Umkehr gewesen wäre. Seine spontanen kurzlebigen Bemühungen, sich aus der inneren Bindung zu lösen, waren halbherzig gewesen und mussten ins Leere laufen, weil er im Grunde nie ernsthaft erwogen hatte, auf Distanz zu gehen oder die Bindung aufzulösen. Derlei Überlegungen stellte er erst an, als es für eine Umkehr zu spät war.

Versonnen schaute er von der Seite auf ihr Gesicht, während sie Bruchrechnen übte. Er hatte es ihr mehrmals erklärt, hegte mitunter den Verdacht, dass sie es längst beherrschte, wischte aber den Gedanken mit ungeduldiger Handbewegung beiseite. Eifrig schrieb, radierte und unterstrich die Kleine. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, mit einer raschen Kopfbewegung schüttelte sie die Strähne auf die Seite, dabei öffnete sich jedes Mal ihre Bluse. Sein Blick glitt tiefer und er kam nicht umhin, festzustellen, dass sie so klein nicht mehr war. Unter der dünnen Bluse zeichneten sich ihre Brüste ab, sie trug keinen BH. Er konnte den Blick nicht von den dunklen Höfen wenden, sie zogen ihn an wie ein Magnet die Feilspäne. Sie spürte seinen Blick, hob den Kopf, schaute ihn ruhig an, las in seinen Augen, zog die Bluse straff und lächelte. Das Lächeln und die Erkenntnis, dass sie genau wusste, was er dachte und sich wünschte, versetzten ihn so in Unruhe, dass er sich mit rotem Kopf abwandte, aufstand und in die Küche ging. Der siegessichere Ausdruck entging ihm. Als er den Kopf zum Wasserhahn beugte, um zu trinken – Mutter konnte es nicht leiden, wenn er so trank –, hatte er ihre Augen mit den funkelnden Lichtern, Reflexen des durchs Fenster fallenden Sonnenlichts, vor sich. Sie hatte in seinem Gesicht gelesen wie in einem offenen Buch, hatte die Bluse straffgezogen, um besser zur Geltung zu bringen, was sie vorzuweisen hatte. Obwohl Jahre älter, kam er sich vor wie ein kleiner Junge, als wollte sie ihn mit der Nase darauf stoßen, dass sie heranwuchs. Wieder stiegen Zweifel hoch, ob er sich alles einbildete, vielleicht hatte sie den BH nur ausgezogen, weil es warm war und bequemer, oder sie wollte ihm zu verstehen geben, dass er für sie ein Neutrum war. Oder beabsichtigte sie umgekehrt, ihm zu zeigen, dass sie nicht mehr die Kleine war, die sich Schutz suchend an ihn klammerte, sondern dass zwischen ihnen nichts mehr war wie früher?

Nachdenklich ging er zurück. Sie schrieb, hatte sich die Strickjacke übergehängt. Und gerade als er den Schluss zog, die Fantasie hatte ihm wieder einen Streich gespielt, hob sie den Kopf und er entdeckte in ihren dunkelblauen Augen eine Vertrautheit mit seiner Vorstellungswelt, die ihm für Augenblicke den Boden unter den Füßen wegzog. Kein Wort war gefallen und doch hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie seine Gedankengänge durchschaute. Ihr Lächeln war ein zwiespältiges Geschenk: Nahm er es an, hatte sie gewonnen, nahm er es nicht an, verlor er möglicherweise alles, was ihm wichtig geworden war.

Rechnen erfordere Konzentration, hatte er ihr eingebläut, Radio hören störe. Dennoch hatte sie es aufgedreht, lauter als nötig, summte die Melodie mit, schaute ihn triumphierend an. Schweigend ging er in sein Zimmer, mühte sich mit Hausaufgaben ab, unfähig, sich zu konzentrieren. Sie war nicht mal dreizehn und verhielt sich, als wäre sie eine erfahrene Frau. Sonst tat er sich leicht, eine Aufgabe zu erfassen, jetzt war er nicht bei der Sache und es war nicht nur die Musik, die ablenkte. Gerade überlegte er, sie zu bitten, leiser zu drehen, da kam sie herein, stellte sich neben ihn und fragte, ob er böse sei, beugte sich nieder, um zu sehen, was er las. Wie in letzter Zeit oft sog er ihren Körpergeruch gierig ein, hielt den Atem an, als könnte er so den Duft konservieren. Ihr Geruch – ihm kam es vor, sie roch anders als sonst – war ein nachhaltigerer Sinneseindruck als der optische und akustische es war, als betäubte ihn das Aroma wie eine Droge.

»Nein, warum sollte ich böse sein?«, ging er nun auf ihre Frage ein und bemühte sich, seine Stimme gleichmütig klingen zu lassen, unterdrückte die aufsteigende Hitzewelle.

»Ich dachte nur so«, antwortete sie leichthin.

Ungewollt entschlüpfte ihm: »Du riechst so gut, ich mag deinen Geruch ...«

Der Satz wies keinen Zusammenhang mit dem vorhergehenden Gespräch auf, er hatte dergleichen noch nie zu ihr gesagt, das Blut schoss ihm in die Wangen.

»Was du bloß für Unsinn im Kopf hast!«, sagte sie lachend und tänzelte hinaus.

Alles war anders geworden, das unbeschwerte Miteinander hatte sich in ein gegenseitiges Beobachten und neugieriges Abtasten mit Blicken gewandelt. Er musste mit ihr reden, ihr sagen, dass ihn in ihrer Nähe oft dieses seltsame Kribbeln überkam, das sich nicht deuten ließ. Er beschloss, ihr in aller Ruhe auseinanderzusetzen, dass sie nicht mehr so viel zusammenstecken dürften, verwarf die Eingebung aber bald: Empfand sie nämlich nichts Vergleichbares, wären seine Empfindungen Illusion und er machte sich lächerlich.

Nach außen ließen sie sich nichts anmerken. Die Eltern hatten andere Sorgen, schließlich ging es um die Existenz des Hofs. Erstaunlich fand Jan, dass Inku vor anderen weiterhin das kleine Mädchen spielte, naiv und unverdorben. Wie es Inku gelungen war, sich in seiner Gedanken- und Gefühlswelt einzunisten und in ihr auf beunruhigende Art und Weise präsent zu sein, konnte er sich lange nicht erklären. Tatsache war, dass sie in seinem Herzen schon einen festen Platz erobert hatte, als sie beide noch nicht ahnen konnten, was sich daraus entwickeln würde. Und er wusste, dass der Versuch, ihren Einfluss auf seine Gefühlswelt zurückzudrängen, so lange zum Scheitern verurteilt war, als er es mit halbem Herzen tat und ihre Dauerpräsenz in Kopf und Seele zuließ und sogar genoss. Ihr Erscheinen im Traum beunruhigte ihn nur insofern, als er im Schlaf redete und befürchtete, sich zu verraten, wenn ihn Mutter weckte.

Während er das Frühstücksbrot kaute, meinte Mutter: »Am liebsten hätte ich dich heute schlafen lassen: Du wirktest so entspannt und hast gelächelt wie ein Baby.«

Inku, die angezogen an der Tür stand, warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Dann liefen sie zur Haltestelle.

Am Nachmittag erzählte sie Jan etwas Belangloses aus dem Unterricht. Er hörte nicht richtig zu, beendete einen Aufsatz für die Schulzeitung.

»Gleich«, murmelte er, »ich bin schon beim letzten Absatz.«

Beleidigt zog sie ab.

Nachdem er den Schlusspunkt gesetzt und alles durchgelesen hatte, schlenderte er zu ihr. »Also, wo brennt’s?«

Sie schmollte und tat, als wäre ihr Buch so spannend, dass sie nicht zugehört hatte. Sie las viel, vor allem Romane, ihre Aufgaben machte sie in letzter Minute.

»Na, dann eben nicht ...« Er wandte sich ab.

»Ich wollte dich was fragen«, lenkte sie ein.

Er wartete.

»Heute Morgen beim Frühstück hat Mutter etwas zu dir gesagt ...«

Schweigend schaute er sie an.

Es schien ihr nicht leicht zu fallen, darüber zu reden. »Sie meinte«, zögerte sie und nahm erneut einen Anlauf, »na ja, dass du im Schlaf selig gelächelt hast wie ein Baby ...«

»Stimmt«, gab er zu. »Und?«

»Hast du wieder«, fragte sie errötend, »etwas geträumt?«

Er nickte und schwieg.

»Hast du«, ihre Stimme zitterte leicht, »auch von mir geträumt?«

»Mhm«, machte er. »Habe ich. Und nun möchtest du wissen was?«

Sie nickte und wie zur Bestätigung ein zweites Mal.

Und er erzählte es ihr ...

Es war ein ausnehmend warmer Sommerabend, als sie zum See radelten. Trotz geringer Tiefe erreichte seine Temperatur kaum mehr als sechzehn oder siebzehn Grad, auch wenn die Sonne den ganzen Tag schien. Inku war der Badeanzug so knapp geworden, dass jede Bewegung seitwärts etwas von ihrer Brust freilegte.

»Ich glaube, du brauchst einen neuen.«

»Sag das Mutter«, forderte sie ihn lachend auf und machte einen Kopfsprung vom Bootssteg. Prompt rutschte ein Träger über den Arm, keck schaute eine Brust in die Luft, als sie auf dem Rücken schwamm. Erst nach etlichen Metern spürte sie es, zog den Träger hoch, schaute hoch und grinste. »Na, was zu sehen bekommen? Kommst du nicht herein?«

Jan schüttelte den Kopf, schaute zu, wie sie auf dem Rücken zu der kleinen mit niederem Buschwerk bestandenen Insel kraulte.

Finnische Träume | Roman

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