Читать книгу Finnische Träume | Roman - Joona Lund - Страница 6

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4. Das Spiel

Dichtes Schneegestöber jagte den Herbst unwiderruflich in die Flucht. Wälder und Moore versanken in einem langen, tiefen Schlaf. Tagelang hatte es geschneit, der Schulbus musste sich durch ständig neu bildende Verwehungen kämpfen, obwohl der Pflug mehrmals am Tag fuhr. Nachbarn oder Schulfreunde zu besuchen, war ein schwieriges Unternehmen. Jan und Inku waren mehr aufeinander angewiesen als sonst und ihnen war das recht, so fanden sie Gelegenheit zum Erzählen. Mutter wunderte sich, was die beiden ständig zu beschnattern hatten, wie sie das nannte, war aber froh, dass sie sich wieder verstanden.

Inku liebte die kuschelige Atmosphäre, zündete eine der orangen Kerzen an, von denen sie etliche in Glasschalen auf dem Fensterbrett stehen hatte. Zum Geburtstag und anderen Festtagen schenkten ihr Verwandte und Freunde Kerzen. Zu Jan hatte sie gesagt, es könnte sein, dass sich jemand im Schnee verirrt und durch ihr Kerzenlicht den Weg findet. Er hielt das für Unsinn, die Lampe vor der Haustür war bei solchem Wetter immer an und dieses Licht war tausendmal heller als ihre Kerzen, aber das behielt er für sich.

Er schilderte einen Traum, schmückte ihn aus, als ihm einfiel, er könnte aus den Erzählstunden ein amüsantes Spiel mit Regeln entwickeln. Zunächst galt es, ihre Neugier zu wecken und sie dann dazu zu bringen, sich einzubringen. Um sie nicht zu verschrecken, ging er behutsam vor, deutete vieles an, war erstaunt, wie schnell sie erfasste, wohin die Reise gehen sollte, als hätte sie verwandte Gedanken. Schließlich schlug er vor, sie sollte ihre Träume auch erzählen. Sie wandte ein, selten zu träumen und wenn, merkte sie sich wenig, in der Erinnerung blieben nur Traumfetzen hängen.

»Nimm dir fest vor, zu träumen und dann aufzuwachen, dann merkst du dir eher etwas. Mit der Zeit klappt es, bei mir hat es das jedenfalls. Und du magst meine Träume doch, oder?«

Sie lächelte und nickte. »Aber sicher. Schon deshalb«, gab sie zu und grinste, »weil ich im Mittelpunkt stehe.« Sie überlegte. »Aber auch, weil ich Dinge erfahre, die du sonst nie preisgeben würdest; auch wenn du ziemlich viel hinzudichtest.«

Sein Lachen nahm sie als Bestätigung.

»Lass mir Zeit, irgendwann werde ich meine Träume erzählen.«

Nachdem sie begriffen hatte, auf was seine Wünsche abzielten, wollte sie mehr hören, nicht jedes Mal nur den Anfang. Ihm ging es zunächst darum, durch das Ausmalen der Träume zu erfahren, wie sie reagierte. Bald reichte es, etwas anzudeuten und sie erriet, was er ausdrücken wollte. Selten blockte sie ab, weil es ihr zu weit ging. Die Pausen hielten nie lange an, bald kam sie wieder zu ihm, redete um den heißen Brei herum und er ließ sie zappeln, bis ihre Neugier die Hemmungen überwand. Allmählich erhöhte er die Dosis an Doppeldeutigkeiten und ermunterte sie, aus sich herauszugehen und das Spiel aktiv mitzugestalten. Es dauerte nicht lange, da begann sie, Situationen auf ihre Weise zu beschreiben und umzugestalten, neue Varianten einzubringen, mauserte sich zur ebenbürtigen Partnerin und, was er nie zu hoffen gewagt hatte: Sie übernahm zunehmend die Federführung. Er akzeptierte den Rollentausch, zumal sie vor anderen nach wie vor tat, als wäre er nur ihr Beschützer.

Die Idee vom Spiel hatte ihr sofort gefallen, am liebsten hätte sie gleich damit begonnen. Doch hatte er ihren Eifer gebremst und erklärt, wie jedes Spiel habe auch dieses Regeln, an die sich die Teilnehmer zu halten hätten.

»Unseres hat«, schärfte er ihr ein, »nur drei Regeln, aber die sind streng verbindlich: Teilnehmer sind nur wir beide; keiner tut dem anderen weh; es muss unser Geheimnis bleiben! Bist du nicht bereit, die Regeln zu beachten, ist nix mit dem Spiel.«

»Soll ich schwören?«

Er schüttelte den Kopf. Beiden war klar, dass das Spiel mit ihrem Reifungsprozess zusammenhing. Zwar gab es Phasen, da Inku kurz aussetzte, aber stets war die Neugier stärker und sie drang darauf zu erfahren, wie die Geschichte weiterging. Sie ließ sich gern davon überzeugen, dass nichts Schlechtes an ihrem Spiel sein könne, es seien bloß Fantasien, kaum je passiere etwas. Inku war erstaunlich rasch mit seiner Gedankenwelt vertraut, schmückte seine Ideen aus und erhöhte den Reiz, indem sie sich passende Handlungen ausdachte. Sie fühlte sich so in seine Vorstellungen ein, dass er ihr immer öfter das Steuer überließ. Und er akzeptierte, dass sie darüber entschied, ob sie ihn belohnen oder bestrafen wollte.

Hin und wieder meldete sich sein Gewissen. Es ließ sich aber leicht beruhigen, es sei ein harmloses Spiel. Das Vorgefühl, es könnte sich eines Tages gegen den Urheber richten, verdrängte er. Bald gab Inku die Richtung vor, legte Grenzen fest, billigte Ideen und Handlungen oder lehnte sie ab. Der Übergang zwischen Fantasie und Realität war fließend, die Gesten und scheinbar zufällige Berührungen hätte ein Außenstehender als alltägliche Zeichen der Zuneigung interpretiert. Es war ein schmaler Grat, auf dem sie balancierten.

Erst Jahre später sprachen sie darüber, wann es zu ersten Grenzüberschreitungen gekommen war, sie konnten es aber nicht präzise festmachen, die Scheidelinie verlief unscharf, als läge sie im Dunst. Die Frage, ob ihm ein Teufelchen die Idee eingeflüstert hatte oder ob die Idee wie ein Samenkorn auf die Chance gewartet hatte zu keimen und zu gedeihen, um hartnäckig wie Huflattich, der sich durch den Asphalt bohrt, emporzuschießen, stellte er sich erst, als die Lage unumkehrbar geworden war ...

Und erst da gestand er sich ein, dass es keine geheimnisvolle Kraft gewesen war, die ihn verführt hatte, sondern sein Wille. Er hätte voraussehen müssen, dass ein Windhauch genügte, um die Glut anzufachen. Die Gefahr hatte er ignoriert, insgeheim sogar erhofft, dass aus dem Schwelbrand ein Feuersturm entstünde. Gezielt hatte er darauf hingearbeitet, Inku zu verleiten, auf seine Fantasien einzugehen, ihr seine Wunschträume schmackhaft zu machen, sie zum Mitmachen zu bewegen. Beabsichtigte sie, abzuspringen, gelang es ihm mühelos, sie umzustimmen. Ihm war klar, dass sie Tabus verletzten, doch das schlechte Gewissen ließ sich schnell einschläfern: Gedanken, Wünsche und Träume wären nicht strafbar, solange sich das Handeln in erlaubten Grenzen abspielte.

Trotz Vaters Zugehörigkeit zur konservativen lutherischen Erweckungsbewegung, die strenge Moralvorstellungen predigte, war ihre Erziehung frei gewesen, hatten sie sich nicht gegen lähmende Traditionen, Zwänge und Beschränkungen auflehnen müssen. Lediglich in der Sauna hatte Vater auf Geschlechtertrennung bestanden.

Jan verstand erst, als es nicht mehr zu übersehen war, dass Inku bereitwillig an dem unsichtbaren Netz geknüpft hatte, in dem sich beide fangen sollten. Er hatte nicht vermutet, dass das unerfahrene naive Mädchen den Anstoß zum Umschlag ihres Spiels in eine andere Qualität geben würde, hatte nicht erwartet, dass es erst durch ihre aktive Mitwirkung zu dem geworden war, zu dem es letztendlich wurde. Nach außen gab sie sich nach wie vor als Kind, als Jan aber Nabokovs »Lolita« gelesen hatte, fand er den Ausdruck Kindfrau treffender, auch wenn ihn sonstige Vergleiche befremdeten. Ihr Denken war – altersgemäß verschoben – dem seinen so ähnlich, dass das Spiel geradezu in gefährliche Bahnen geraten musste. Inku strengte sich an, seine Fantasie zu überbieten, die Verwandtschaft ihrer Seelen war augenscheinlich. Das erschreckte ihn, wenn er in die Abgründe seiner Seele schaute.

Als ihm später Gewissenskonflikte zu schaffen machten, beschuldigte er sich, die Anfänge nicht unterbunden zu haben, doch war die Verlockung zu groß gewesen, er war bereits Gefangener eigener Gelüste. In solchen Phasen der Besinnung gestand er sich ein, dass er Inku auch dann zum Mitmachen verleitet hätte, wenn er die Folgen vorausgesehen hätte. Der Reiz zu erfahren, wie weit sie gehen würde, war groß, und als er feststellte, dass sie nicht nur begeistert mitspielte, sondern ihn sogar zu übertrumpfen trachtete, fand er keinen stichhaltigen Grund mehr zur Umkehr.

Mitunter machte ihm der abrupte Wechsel ihrer Launen zu schaffen, doch Mutters Prophezeiung, die Launenhaftigkeit lege sich nach der Pubertät, beruhigte, er ertrug ihre Zicken mit Gelassenheit. Ihr mitunter kränkender Ton war ein Versuch, sich vor Verletzungen zu schützen, konnte aber seine Überzeugung, zwischen ihnen bestünde eine durch nichts zu erschütternde Eintracht, nicht ins Wanken bringen.

Auf den ersten Blick harmlose Situationen gaben dem Spiel prickelnde Anstöße, etwa, als Inku ins Zimmer kam, aufs Bett stieg, sich auf die Zehenspitzen stellte, um Papier aus dem Regal zu holen. Ihr knackiger Popo zeichnete sich durchs dünne Höschen ab.

»Du solltest nicht so vor mir herumklettern«, sagte er leise.

Schnippisch antwortete sie: »Möchte der Herr denn lieber eine andere sehen?«, und stürmte hinaus, ließ die Tür ins Schloss fallen.

Er ging ihr nach. »Das ist Quatsch und du weißt es! Du vergisst, dass ich fast siebzehn bin.«

»Na und?«, fragte sie kühl, zog vor dem Spiegel den Kamm durch ihr Haar. »Ist das auch schon ein Verdienst?«

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