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Der Nebel, der meistens die Umrisse von Monte Argentario verschleiert, hat sich aufgelöst. Die Festlandlinie zeichnet sich klar und deutlich ab, gesäumt von einem feinen weißen Rand. Castiglione ist ein winziger weißer Fleck, der eine bloße Erinnerung an Castiglione enthält.

Es ist Sonntag. Bonaparte trotzt der Augusthitze, indem er in Arbeit abtaucht. Er steht über die Karte einer Insel gebeugt, inmitten von Zirkeln, Linealen und Bleistiften, und zieht mit erhobener Hand Linien. Hier und da macht er eine Notiz, in gedrängter, nach rechts neigender Schrift. Gestern hat er beschlossen, die Honigproduktion auf der Insel, angefangen beim größten Bienenhof, gründlich zu inspizieren. So hat er es seinem Sekretär Méneval mitgeteilt; doch schon vor Wochen stand dieses Vorhaben für ihn fest. Er weiß, dass ihn nur rastlose Tätigkeit, eine ausgeklügelte Strategie gegen die sich ausbreitende Langeweile, auf Elba am Leben halten kann.

Nicht einen Tag lang hat er sich erlaubt, die tückischen Wunden des Stolzes zu lecken. Er hätte bei all den Affronts verweilen können, die seine Feinde ihm zugefügt haben. Ganze Tage hätte er darauf verwenden können, den Hass zu ordnen, die Rache zu organisieren. War er etwa nicht gezwungen gewesen, sich als Kurier zu verkleiden und den Bock mit dem Kutscher zu teilen, um nicht an einer Wegkreuzung in der Provence vom Pöbel gesteinigt zu werden? Hatten sie ihn etwa nicht genötigt, seine Herrschaft über anderthalb Kontinente gegen die über eine winzige, vor dem toskanischen Festland gestrandete Insel einzutauschen?

Wenn die hoffen, dass er, durch den Schiffbruch seines Imperiums aus der Bahn geworfen, an den Stränden von Elba verrotten werde – diese Genugtuung wird er ihnen nicht geben. Er ist kein Robinson Crusoe auf einer verlassenen Insel, der beim Anblick von Spuren menschlichen Lebens im Schlick erstarrt. Und doch geht er seine Einsamkeit auf der Insel mit ähnlichem Kalkül und ebenso pragmatisch an wie ein Robinson Crusoe, als gelte es, den Rest seines Lebens dort zu verbringen. Er verspürt sogar den Wunsch, sich unters Volk zu mischen.

Am Nachmittag lässt er das Kartenspiel mit den Damen aus. Die genaue Standortbestimmung der Bienenstöcke auf der Landkarte hält ihn den Großteil des Tages beschäftigt. Ein Unwohlsein vorgebend, entzieht er sich dem obligatorischen Unterhaltungsprogramm in der Villa dei Mulini. Das sommerliche Hofleben erscheint ihm in der drückenden Augustschwüle grotesker denn je. Wie immer nimmt er ein leichtes Abendessen zu sich, trinkt zwei Gläser eines einheimischen aschgrauen Weins, und nachdem er mehrere häusliche Angelegenheiten peinlich genau und umso ungeduldiger erledigt hat, zieht er sich in seine Gemächer zurück.

Die letzten Lichtstrahlen der Abenddämmerung fallen durch das Fenster des Vorzimmers. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Keine Brise weht mehr. Der Kaiser blickt aufs Meer, das sich jetzt in Richtung Korsika kräuselt.

An einer Seitentüre, eingelassen in die mit indigoblauer Seide bespannte Wand, macht sich ein Diener bemerkbar. Er hilft ihm, die Stiefel auszuziehen und den grünen Gehrock aufzuknöpfen. Bonaparte übergibt ihm den blankpolierten Degen und erfrischt sich das Gesicht über einer tönernen Waschschüssel. Während er sich trocken reibt, dreht er sich in Hemdsärmeln zu seinem englischen Schreibtisch um, wo drei am Vortag eingetroffene Bücher sowie stapelweise Akten, Briefe und Memoranden auf ihn warten. Bis auf die neuen Bücher schiebt er alles mit energischer Hand zusammen und packt es ganz hinten in eine Schublade. Er setzt sich und greift nach dem ersten Buch, »Vie des abeilles africaines«, von Gaston de Fresnais, und studiert das detaillierte Inhaltsverzeichnis, hält beim Kapitel 7 inne:

»Tötung der Drohnen — Neuordnung des Bienenstocks — Herrschaft der jungen Königinnen — Entstehung der Königin — Nachfolge der Königin — Rückkehr zur Arbeit.«

Er schlägt Seite 137 auf. Liest reglos und ohne aufzublicken eine ganze Stunde lang.

Die sirrenden Mücken künden die Dunkelheit an. Sie umschwirren den Kaiser, ziehen ihre Bahnen und Kreise, rühren ihn jedoch nicht an. Sein Blut scheint ihnen nicht zu schmecken; noch nie wurde er von Mücken gestochen. Von Bienen auch nicht.

Der volle Mond zeigt sich am Himmel.

Bonaparte denkt an die Nächte von Ajaccio. Nicht an eine bestimmte, vielmehr an das Himmelslicht und die Geräusche der frühen Morgenstunden. Er denkt, dass alle seine Nächte – die von Paris, die in den Palästen von Mailand, Wien und Berlin, aber auch die zahlreichen Nächte vor den Schlachten, wenn er in seiner Schlaflosigkeit den Sieg erdachte – sich auf jede beliebige seiner korsischen Nächte zurückführen lassen, auf die im Dunkeln lauernden Vorahnungen. Und diese Sommertage auf Elba, hatten die nicht etwas vom Geheimnis jener glimmenden Tage seiner Kindheit, wenn alle Mittagsschlaf hielten, oder zumindest so taten, während sie es in den Heuschobern miteinander trieben, und er, berauscht von den Rosen und Margeriten und dem Frühlingsenzian, hinter den Myrtensträuchern darauf lauerte, dass die Bienen für ein paar Sekunden aufhörten zu summen und sich am Nektar labten; diesen Moment nutzte er dann, um sie mit seinem Tüllnetz zu fangen und in Glasgefäße zu sperren, wo sie benommen in dem Wissen starben, dass sie niemals mehr in ihren Bienenstock zurückkehren würden.

Die Tage von Ajaccio und die Nächte von Ajaccio. Aber auch alles andere war geschehen. Nein, er, Bonaparte, wird sich nicht dem Wahnsinn hingeben, zu dem einige glauben, ihn verurteilt zu haben. Fortuna hält für ihn noch einige Karten bereit. Er hat ein Bild von sich vor Augen: Eine Biene, die sich aus dem Tüll löst und gen Sonne flieht, als wäre sie nie gefangen worden.

Er nimmt das zweite Buch zur Hand »Manuel de l’Apiculteur à la Campagne«. Es kommt frisch aus der Druckerei von Dechambres, es riecht noch nach Druckerschwärze. Wunderschöne Abbildungen. Die überraschende Innenansicht eines Bienenstocks im Längsschnitt bis in alle Einzelheiten. Wie sie das wohl hinbekommen haben? Und diese neuen Masken aus Kupferdraht, so praktisch und so sicher.

Die Aufstellung der Bienenstöcke befriedigt ihn nicht – Holzhäuschen wie Kuckucksuhren ohne Verzierung –, in pyramidenförmig wachsender Anordnung, jeder neuen Reihe entspricht eine zusätzliche Beute, wie die Abbildung Nr. 35 illustriert (»La disposition pyramidale«). Er zieht die traditionelle Anordnung im Halbkreis vor, denn seiner Meinung nach spart sie Zeit und Platz und erlaubt es dem Imker, sich beim Einsammeln der Rahmen mit dem kristallisierten Honig im Uhrzeigersinn anstatt im unbequemen Zickzack zu bewegen, mit dem damit verbundenen Risiko, die Zargen umzustoßen.

Er verweilt auf den letzten Seiten bei der Zusammenfassung der neuesten Untersuchungen über den Orientierungssinn der Bienen. Ein Naturforscher aus Rouen schaffte ein Volk von einem Hof zu einem drei Meilen entfernten anderen, wo bereits Hunderte von Bienenstöcken standen. Achtundvierzig Stunden, nachdem er die Bienen auf dem zweiten Hof freigesetzt hatte, stellte er fest, dass mindestens siebzig Prozent der Arbeiterinnen – zur Wiedererkennung karminrot markiert – in ihren Ursprungsstock zurückgekehrt waren; ihre Pollenkörbchen randvoll, denn unterwegs hatten sie dem Ruf der blühenden Felder unmöglich widerstehen können.

Kurzum, ein gutes Handbuch für Bienenhalter, das er sich später noch einmal vornehmen will.

Bonaparte gähnt. Das dritte Buch, »Bees in the Ancient World. Roman Epigrams about bees« bleibt ungeöffnet auf seinem englischen Schreibtisch liegen.

Der Bienenleser

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