Читать книгу Mala Sombra - Böser Schatten - José R. Brunó - Страница 7
UNBESTECHLICH
ОглавлениеAm Abend des fünfundzwanzigsten Mai musste Laura eine Erfahrung machen, die sie so schnell nicht vergessen sollte. Es war bereits neunzehn Uhr, als im Labor das Telefon schellte. Sie hatte sich bereits ihren weißen Kittel abgestreift, um in den wohlverdienten Feierabend zu gehen. In der Gran Villa hatte es einen Unfall mit Todesfolge gegeben.
Eine Frau war die Treppe hinuntergestürzt, mehr wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Bei Unfällen mit Todesfolge musste zu jener Zeit immer die Polizei benachrichtigt werden, um festzustellen, ob nicht doch möglicherweise ein Verbrechen vorlag.
Laura hatte sich mit einer Kollegin auf den Weg gemacht. Die dritte Etage bewohnte der Kommunalpolitiker Adolfo Casillas. Eine Luxuswohnung direkt im Zentrum von Barcelona. Aus dem Salon führte eine Holztreppe in den oberen Bereich, in dem die Schlafräume untergebracht waren.
Als Laura den Salon betrat, bemerkte sie den Kommunalpolitiker, der auf dem großen Ledersofa saß und nur kurz aufgeschaut hatte, als er die Spurensicherung sah. Sein Gesicht in den Händen vergraben, stammelte er fortwährend unverständliche Worte.
Laura kannte seine Visage, die sie einige Male auf Wahlplakaten gesehen hatte. Casillas schien am Boden zerstört. »Ich habe ihr immer gesagt, sie solle die blöden Schuhe wegschmeißen«, stammelte er.
Juan Medina saß Casillas gegenüber und versuchte einige Fragen zu stellen, die den Unfallhergang betrafen, währen Laura auf den Mann zuging, der sich über die Leiche beugte.
»Sind Sie der Arzt, der den Tod feststellen soll?«, fragte Laura.
»Und Sie sind die Spurensicherung? Ich glaube, hier gibt es nichts zu sichern, das war ein Unfall.«
»Herr Doktor, ob das ein Unfall war oder nicht, das werden unsere Untersuchungen ergeben. Unterstehen sie sich, auf dem Totenschein als Ursache einen Unfall zu bescheinigen. Oder woher, glauben Sie, kommt die große Menge Blut dort an der Wand?«
Laura wandte sich ab. Sie hatte längst gesehen, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Der Mediziner, der hier vor Ort war, schien der Hausarzt der Familie Casillas zu sein. Schnell den Tod als Unfall darzustellen, einen Tag später die Leiche einäschern zu lassen und alles war vergessen. Das war mit Laura Velasquez nicht zu machen. Sie war Blutspurenspezialistin und das, was sie hier sah, war alles andere als ein Unfall.
Das Opfer lag am unteren Treppenabsatz und war vor eine Natursteinwand gefallen und hatte sich, wie man auf den ersten Blick vermuten konnte, an dieser Wand die Kopfverletzungen zugezogen – wenn da nicht die Wand in einer Höhe von ein-Meter-sechzig mit Blutspuren übersät gewesen wäre. Die Spritzspuren, die im oberen Bereich der Wand zu sehen waren, konnten nur entstanden sein, wenn mit großer Gewalt auf die Blutungsquelle mit einem Gegenstand eingeschlagen wurde. Laura und ihre Kollegin hatten kleine Schilder mit Zahlen aufgestellt und mit Akribie unzählige Fotos gemacht.
Laura war die hölzerne Treppe hinaufgegangen und stand nachdenklich auf dem oberen Absatz.
»Hier hat das angefangen«, sagte sie leise zu sich selbst. Zu ihren Füßen hatte Laura einen feuchten Fleck auf dem Terrakottaboden entdeckt. Hier war gründlich gereinigt worden. Ihr Blick fiel auf den oberen Bereich der Wand, an dem sich ebenfalls einige Spritzspuren befanden. Rasch nahm sich Laura ein Messer und kratzte einige dieser Spuren von der Wand, die der Täter offensichtlich beim Saubermachen übersehen hatte.
Auf den Treppenstufen lagen einige Wäschestücke verteilt. Laura hatte eines dieser Stücke angehoben, unter dem sie eine große Blutlache entdeckte. Wie kam das Blut unter die Wäschestücke? Dieser Tatort war so dilettantisch inszeniert worden, dass sie kopfschüttelnd minutenlang auf dem Treppenabsatz stand.
Als sie von oben in den Salon schaute, bemerkte sie, dass der Politiker Casillas und der Ermittler Juan Medina verschwunden waren. ›Komisch, dachte Laura, wohin sind die beiden gegangen? Haben die beiden etwas zu besprechen, was niemand hören soll?‹ Diesen Gedanken, wagte sie nicht zu Ende zu denken.
Die beiden Frauen hatten inzwischen ihre Utensilien zusammengepackt und wollten den Ort des Geschehens verlassen. Laura hatte Casillas und Medina durch eine große Glastür auf dem Balkon entdeckt, wo sie sich angeregt unterhielten. Als Laura die Balkontür öffnete, um zu avisieren, dass sie fertig sei, erschraken die beiden und verstummten augenblicklich.
›Aha, also doch‹, dachte Laura.
»Einen Augenblick«, sagte Medina, »ich gehe mit euch!« Er verabschiedete sich eiligst von Casillas. Die Forensikerin hatte längst gemerkt, dass Medina etwas loswerden wollte.
»Und was steht morgen in deinem Bericht, Laura?«
»Auf jeden Fall das, was es ist – Mord.«
Medinas Gesicht verfärbte sich augenblicklich.
»Ich würde mir das in deiner Stelle noch einmal gründlich überlegen. Casillas ist Politiker und hat großen Einfluss.«
»Pass mal auf, mein Freund«, sagte Laura zornig, »wenn ich morgen früh die Leiche nicht in der Pathologie habe, bist du die längste Zeit Polizist gewesen. Und jetzt geh wieder hoch zu deinem Freund, ruf den Leichenwagen und mach gefälligst deine Arbeit, wie sich das für einen Polizisten gehört.« Juan Medina stand wie angewurzelt auf der Straße und schaute Laura an, als habe ihn der Blitz getroffen.
Der nächste Morgen – Laura hatte nicht gut geschlafen und ihr erster Weg führte sie in die Pathologie. Die Leiche der Irma Casillas war tatsächlich in den späten Abendstunden noch in die Gerichtsmedizin gebracht worden. Laura zog sich schnell ihren weißen Kittel über, um bei der Leichenschau und der Obduktion dabei sein zu können.
Doktor Domingez hatte inzwischen der Toten den Schädel rasiert, um sich ein Bild der Verletzungen zu machen, die zum Tode geführt hatten. Auf der Schädeldecke waren drei riesige Verletzungen zu erkennen. Eine tiefe Delle, die mit roher Gewalt durch einen schweren Gegenstand verursacht worden war, kam zum Vorschein. Die tiefe Kerbe auf dem Kopf hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein schweres Hirntrauma ausgelöst und zum sofortigen Tod geführt. Die anderen zwei Kopfverletzungen waren nach Aussagen des Gerichtsmediziners nicht tödlich und möglicherweise beim Sturz entstanden. Die Unterarmfraktur, die Domingez bei dem Opfer feststellte, war vermutlich die Folge des Treppensturzes. Laura fing an, den Fall zu rekonstruieren.
»Also, der Casillas schlägt auf dem oberen Treppenabsatz seiner Frau mit irgendeinem Gegenstand auf den Kopf. Sie verliert das Bewusstsein und fällt die Treppe hinunter. Am unteren Teil der Treppe, vor der Wand, bleibt das Opfer liegen. Der Ehemann geht hinunter und schlägt ihr noch zweimal auf den Schädel, um sicher zu sein, dass sie auch tot ist.«
Domingez nickte nachdenklich mit dem Kopf.
»So könnte es gewesen sein, Laura. Ich bin zwar nicht persönlich vor Ort gewesen, aber wenn du es sagst, wird das wohl so sein.«
»Das würde auch die Spuren auf dem oberen Treppenabsatz erklären. Außerdem kann der Aufprall des Körpers an der Wand nicht so stark gewesen sein, dass meterhohe Spritzspuren entstehen können.«
»Das ist wohl wahr, ein Selbstmörder kann sich auch nicht zwei Mal in den Kopf schießen«, sagte Laura grinsend und schaute zur Tür.
Medina hatte die Pathologie betreten und steuerte sofort auf Laura zu.
»Hast du deinen Bericht fertig?, fragte er.
»Du solltest auf meinen Bericht nicht warten Juan, den werde ich persönlich deinem Chef übergeben. Ich versichere dir, wenn in deinem Bricht irgendwo das Wort Unfall zu lesen ist, kannst du deine Karriere bei der Polizei vergessen.«
Medina hatte verstanden und verließ fluchtartig die Pathologie.
Zu jener Zeit, als Spanien sich aufmachte, sich auch wirtschaftlich zu erholen, erreichte die Korruption ihren Höhepunkt. Jeder schmierte jeden und ohne »Vitamina«, wie man es seinerzeit nannte, ging nichts.
Laura hatte sich gefragt, wie weit die Leute wohl gehen würden. Ihr Kollege Medina war gerade dabei, oder machte zumindest den Versuch, einen Mord zu vertuschen. Eine widerliche Vorstellung, die die Forensikerin nicht hinnehmen wollte.
Am nächsten Morgen machte sich Laura auf, um ihren – und den Bericht des Pathologen persönlich im Kommissariat der Kriminalpolizei abzugeben. Medinas Chef, war der Comisario Juan Carlos Contento, der sich natürlich die Frage stellte, warum die Gerichtsmedizin ihm die Berichte persönlich überbrachte.
»Gibt es einen besonderen Grund, warum du mir die Unterlagen bringst, Laura?«
»Sei mir bitte nicht böse, Juan Carlos, aber ich möchte die Unterlagen in diesem Fall persönlich übergeben.«
Contento schaute Laura eine Weile nachdenklich an. »Der Ermittler ist Medina, oder?«
Laura nickte mit dem Kopf. »Ich möchte niemanden verdächtigen, aber …«
»Schon gut, Laura, ich werde den Fall genau beobachten. Mach dir keine Gedanken.«
In den nächsten Tagen ging alles sehr schnell. Der Politiker wurde festgenommen.
Adolfo Casillas wurde letztendlich des Mordes an seine Ehefrau angeklagt. Der Politiker blieb bis zum Beginn des Prozesses, immerhin sollte das vier Jahre dauern, auf freiem Fuß. Casillas wurde zu dreißig Jahren Haft verurteilt. Warum er bereits nach drei Jahren wieder ein freier Mann war, wurde nie bekannt.
*
Es war Juli 1985, einer der heißesten Monate des Jahres. Die Temperaturen stiegen auf unerträgliche vierzig Grad. Barcelona war völlig verwaist. Die Menschen machten Urlaub am Meer, und wer trotzdem noch in der Stadt verblieben war, suchte sich, zumindest bis in die frühen Abendstunden, einen kühlen Platz.
In diesen Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Lauras Lebensgefährte, der Ermittler José Cardona vom Departamento I der Mordkommission, hatte gerade einen Serienmörder zur Strecke gebracht. Eine Sensation für das Land. So etwas hatte es noch nie gegeben. Zumindest konnte sich niemand an einen vergleichbaren Fall erinnern. Was selbstverständlich daran lag, dass es in der vierzigjährigen Franco-Diktatur, so etwas nicht gab und nicht geben durfte. Sicherlich hatte es auch in jener Zeit Fälle dieser Art gegeben, aber sie kamen nicht an die Öffentlichkeit.
Für die Presse, die seit einigen Jahren ihre Freiheit erlangt hatte, war das ein gefundenes Fressen. Viele Boulevardblätter, die es vorher nie gegeben hatte, waren in den letzen Jahren erschienen, ein Journalismus, den man bisher nur aus Amerika, Frankreich oder England kannte.
Lauras Lebensgefährte war über Nacht zu einer Art »Star« geworden. Fotografen und Schreiberlinge tauchten überall auf, um mit ihm Fotos oder Interviews zumachen. Es sollte eine schreckliche Zeit werden, in der auch seine Lebensgefährtin Laura nicht zur Ruhe kam. Ihr Bild war plötzlich auch überall in der Regenbogenpresse zu sehen. Sie konnte sich nirgendwo mehr sehen lassen, überall wurde sie angesprochen.
Laura und José hatten sich kurzerhand entschlossen, einige Tage aus Barcelona zu verschwinden. Die beiden verbrachten ihren Urlaub immer im Baskenland, in der Nähe von San Sebastian. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellen sollte. An der Biskaya war es merklich kühler und sie konnten sich für einige Tage dem Presserummel entziehen. In der Grenzstadt zu Frankreich, in Irun, hatten Laura und José viele Freunde, mit denen sie sich auch ab und zu telefonisch austauschten.
In diesen Tagen war es besonders gefährlich im Baskenland. Die Gewalt zwischen den baskischen Separatisten ETA und ihren Todfeinden, der Guardia Civil hatte wieder enorm zugenommen. Die Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten, war riesengroß. Die Verkehrspolizei, die Guardia Civil, traute sich kaum noch, Verkehrskontrollen durchzuführen. Die Separatisten hatten bereits mehrere Polizisten bei ihrer Arbeit erschossen.
Am Abend waren die beiden mit Freunden im Parador de Hondarrabia verabredet, einem alten historischen Gebäude, das in den 1930er Jahren zu einem Hotel – Restaurant umgebaut wurde. Das kleine Örtchen Hondarrabia, direkt an der Grenze zu Frankreich gelegen, war die Hochburg der ETA. Von hier aus konnten die Separatisten ohne Probleme im benachbarten Frankreich untertauchen.
Zum Abendessen waren einige Freunde mit ihren Frauen gekommen, die ihre Freunde aus Barcelona willkommen heißen wollten.
Unter ihnen befand sich auch der Journalist Iñaki Etxebarria mit seiner Lebensgefährtin Maria. Laura und José kannten die Beiden seit einigen Jahren und hatten mit ihnen viele fröhliche Stunden verbracht. Iñaki war zugleich Kommunalpolitiker der baskischen Linkspartei Herri Batasuna und freier Journalist einer französischen Zeitschrift.
Zunächst genossen alle die baskisch–französische Küche. Immerhin waren in dieser Region die meisten Sterneköche der iberischen Halbinsel beheimatet.
Zu vorgeschrittener Stunde, der Wein zeigte bereits seine Wirkung, wurden die Diskussionen etwas lauter.
Laura hatte das Gefühl, dass Iñaki etwas loswerden wollte. Der kleine Kommunalpolitiker hatte schon zwei Mal den Versuch gemacht, das Gespräch mit der Forensikerin zu finden.
»Sag mal, Laura«, begann er, »was ist mit euren Mordfällen an den »Malas Sombras«, wie weit seid ihr?«
»Keine Ahnung, Iñaki, da musst du José fragen. Ich bin nicht der Ermittler dieser Fälle.«
Iñaki schaute nachdenklich. »Du bist doch im Thema, Laura, oder?«
Sie lächelte. »Natürlich, ich habe die Spuren beim ersten Opfer gesichert. Aber woher weißt du überhaupt von diesen Fällen?«
»Ich bin Journalist, Laura, schon vergessen?«
»Zunächst kann ich dir sagen, dass die Fälle bereits vier Jahre zurückliegen und längst zu den Akten gelegt wurden. Oder weißt du noch etwas, was wir nicht wissen?«
Iñaki schüttelte mit dem Kopf. »Wenn du glaubst, das hätte was mit der ETA zu tun gehabt, seid ihr auf dem Holzweg. Die hätten sich seinerzeit dazu bekannt. Der Typ hat ein anderes Motiv und ehrlich gesagt, es gibt noch Millionen Gründe, die alten Säcke ins Jenseits zu befördern.«
»Aber nach so vielen Jahren? Ich dachte, dass die Geschichte längst vorbei ist.«
Laura hatte keine Lust, am heutigen Abend über ihre Arbeit zu diskutieren und ließ Iñaki mit seinen Fragen allein.
Inzwischen hatten sich die Anwesenden wieder den Freuden des Lebens zugewandt, der Lieblingsbeschäftigung der Spanier – ausgiebig essen und trinken und das konnte viele Stunden dauern.
Die Basken waren ein Volk, das mit den typischen Spaniern nicht viel gemein hatte. Sie hatten ihre eigene Sprache, die niemand verstand, der nicht im Baskenland geboren war. Wenn es allerdings um die Freuden des Lebens ging, unterschieden sie sich keinesfalls von ihren spanischen Landsleuten.