Читать книгу Die Geschichte der Belagerung von Lissabon - José Saramago - Страница 6

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Zum Zeitpunkt, wenn erst ein mindestens tausendmal so scharfes Auge wie das naturgegebene imstande wäre, am östlichen Himmel den anfänglichen Unterschied auszumachen, mit dem der Frühmorgen sich von der Nacht abhebt, da jedes Mal erwachte der Muezzin. Stets zu dieser Stunde wachte er auf, zusammen mit der Sonne, ob Sommer oder Winter, und er benötigte kein Zeitmessgerät, es langte der minimale Wandel des Dunkels im Zimmer, ahnend erspürte er das Licht, auf der Stirnhaut, gleichsam ein zarter Hauch, über die Brauen, oder die erste und fast unwägbare Liebkosung, zu der, soviel man weiß oder glaubt, denn es ist ein bis heute nicht entschleiertes Geheimnis, nur die schönen Huris imstande sind, die in Mohammeds Paradies harren. Ein Geheimnis, und auch Wunder, wenn nicht unergründbares Mysterium, ist deren Gabe, Jungfräulichkeit gleich nach Einbuße wiederzuerlangen, dieses augenscheinlich höchste Glücksgut im ewigen Leben, was letztgültig beweist, dass mit diesem Leben hier die eigenen und fremden Mühsale nicht enden, so wenig wie die unverdienten Leiden. Der Muezzin schlug die Augen nicht auf. Er durfte noch ein Weilchen liegen, unterdessen sich die Sonne, ganz langsam, dem Erdhorizont näherte, jedoch noch so fern war, dass kein Hahn in der Stadt den Kopf hochstreckte und nach des Morgens Regungen forschte. Freilich, es bellte ein Hund, vergebens, denn alle anderen schliefen noch, vielleicht träumten sie, dass sie im Traum bellten, mit dem Gedanken, es ist nur Traum, und sie schliefen weiter, umgeben von einer Welt gewisslich anregender Düfte, indes kein Duft so bedrängend, dass er sie aufschreckte, nicht der unverwechselbare Geruch von Gefahr oder von Angst, um nur diese elementaren Beispiele zu nennen. Der Muezzin erhob sich, tastete sich durch das Dunkel, er fand seine Kleidung, streifte sie über und verließ den Raum. Still lag die Moschee da, nur die zaghaften Schritte hallten unter den Bögen, ein Schlurfen achtsamer Füße, so als fürchtete er, von der Erde geschluckt zu werden. Zu keiner anderen Stunde des Tages oder der Nacht spürte er diese Angst vor dem Unsichtbaren, nur in diesem morgendlichen Augenblick, wenn es die Treppe hinaufzusteigen galt, um von der Höhe des Minaretts die Gläubigen zum ersten Gebet zu rufen. Ein abergläubischer Skrupel peinigte ihn, ein Gefühl von schwerer Schuld, bei dem Gedanken, die Sonne stünde bereits über dem Fluss, und da erst schreckten die Einwohner aus dem Schlaf, geblendet vom hellen Licht, und sie würden, unter großem Geschrei, nach dem Verbleib des Muezzins fragen, der sie zur vorgesehenen Stunde nicht geweckt hatte, hierauf einer, von mehr Erbarmen, riefe, Vielleicht liegt er krank danieder, aber nein, er würde verschwunden sein, von einem Geist der großen Finsternisse ins Erdinnere entführt. Die Wendeltreppe hinaufzusteigen war mühsam, zumal dieser Muezzin bereits ein alter Mann war, glücklicherweise brauchten ihm, anders als den Mauleselinnen am Mühlenschwengel, nicht die Augen verbunden zu werden, um Schwindelanfälle zu verhindern. Oben angekommen, spürte er auf dem Gesicht die morgendliche Frische und das Vibrieren des aufhellenden Lichts, des noch farblosen, denn noch kann nicht Farbe haben jenes reine Klar, das dem Tag vorausgeht und auf der Haut einen feinen Schauer auslöst, wie unsichtbare Finger, ein einzigartiges Gefühl, das einem die Frage eingibt, ob die diskreditierte göttliche Schöpfung nicht letztlich, den Skeptikern und Gottlosen zur Beschämung, eine ironische historische Tatsache ist. Der Muezzin tastete mit der Hand, langsam, die kreisrunde Brüstung entlang, bis er die in den Stein geritzte, nach Mekka, der heiligen Stadt, weisende Kerbe fand. Er war bereit. Wenige Augenblicke noch, um der Sonne Zeit zu geben, ihre erste Aura über die Söller der Erde zu spannen, und auch um sich zu räuspern, eine klare Stimme zu gewinnen, denn die Ruferkunst eines Muezzins soll schon beim ersten Laut als solche erkannt werden, und durch sie muss er sich beweisen, nicht erst wenn die Kehle, nach des Redens Mühen und labender Speisung, schon Sanftheit gewann. Dem Muezzin zu Füßen eine Stadt, weiter unten ein Fluss, alles noch im Schlaf, einem unruhigen. Der Morgen beginnt sich zu regen über den Häusern, die Oberfläche des Wassers wird Himmelsspiegel, hierauf holt der Muezzin tief Luft, dann ruft er, gellend, Allahu akbar, er verkündet durch die Lüfte die alles überragende Größe Gottes und wiederholt, wie er denn auch die folgenden Formeln schreien und wiederholen wird, in ekstatischem Gesang, und die Welt zum Zeugen nehmend, dass es keinen anderen Gott gibt als Allah, und nachdem diese grundsätzlichen Wahrheiten vorgebracht sind, ruft er zum Gebet, Kommt zum Azalá, doch da der Mensch von Natur aus träge ist, wiewohl er an die Macht dessen, der niemals schläft, glaubt, tadelt der Muezzin sanft jene anderen, denen die Augenlider noch lasten, Beten ist besser als Schlaf, As-salatu chairun min an-nawn, für jene, die dieser Sprache mächtig, schließlich endet er mit dem Ruf, dass Allah der einzige Gott ist, La ilaha illa llah, doch nun nur einmal, das ist ausreichend bei endgültigen Wahrheiten. Die Stadt murmelt die Gebete, die Sonne stieg hervor, erhellt nun die Dachterrassen, bald werden sich die Bewohner in den Höfen zeigen. Das Minarett ragt ins strahlende Licht. Der Muezzin ist blind.

Nicht so hat es der Historiker in seinem Buch beschrieben. Da heißt es lediglich, dass der Muezzin das Minarett erstieg und von dort aus die Gläubigen zum Gebet in die Moschee rief, ohne genauere Umstände, kein Wort davon, ob es Morgen war oder Mittag, oder die Sonne gerade unterging, denn seiner Meinung nach war diese kleine Einzelheit für die Geschichte gewiss ohne Belang, Hauptsache der Leser erführe, dass der Autor in den Dingen jener Zeit hinlänglich bewandert war, um ihrer verantwortungsvoll Erwähnung zu tun. Und hierfür sollten wir uns dankbar zeigen, denn sein Thema, da es sich um Krieg und Belagerung handelt, also zuhöchst um Mannhaftigkeiten, könnte sehr wohl auf verwässerndes Gebet verzichten, da es von allen Gebärden auch noch die unterwürfigste ist, gibt sich doch in ihr der Handelnde kampflos gefügig, allemal unterlegen. Obschon hier, damit nicht ungeprüft und außer Betracht bleibe, was möglicherweise dieser Entgegensetzung von Gebet und Krieg zuwidersteht, bereits hier, da die Zeit noch so nahe liegt und es an lebenden Zeugen noch so viele und so hervorragende sind, obschon also bereits hier, wiederholen wir, erinnert werden könnte an das Wunder von Ourique, jenes so erzberühmte, als Christus dem portugiesischen König erschien, und dieser, auf der Erde kniend im Gebet, dem Heiland zurief, Herr, den Ungläubigen, den Ungläubigen erscheine, nicht mir, der ich an deine Kräfte glaube, doch Christus mochte sich den Mauren nicht zeigen, und das war schade, denn statt der so äußerst grausamen Schlacht könnten sonst wir, heute, in diesen Annalen die wundersame Bekehrung der einhundertfünfzigtausend Barbaren nachlesen, die da letztlich ihr Leben verloren, eine himmelschreiende Verschwendung von Seelen. So ist das, nicht alles lässt sich vermeiden, stets zwar waren wir Gott mit unseren Ratschlägen zur Hand, doch das Schicksal folgt seinen unbeugsamen Gesetzen und wird gar oft von unverhoffter und hochkünstlerischer Wirkung begleitet, wie wenn Camões sich etwa des flammenden Aufschreies bediente und ihn, einfach so, in zwei unsterblichen Versen unterbrächte. Es ist schon sehr wahr, in der Natur wird nichts geboren und nichts geht verloren, alles wird genutzt.

Schöne Zeiten waren das, als wir, zu unserem Genügen, nur mit den geeigneten Worten zu bitten brauchten, sogar in heiklen Fällen, sozusagen schon enttäuscht, oder geduldig und dabei doch ohne Hoffnung auf eine Lösung. Ein Beispiel hierfür ist besagter König, der, mit verkrüppelten oder, im jetzigen Sprachgebrauch, mit atrophierten Beinen geboren, auf außerordentliche Weise Heilung erfuhr, denn ohne dass ein Arzt Hand anlegte, gesundeten diese mit einem Mal. Und es gibt, sicherlich weil er von der Vorsehung zum Herrscheramt bestimmt war, noch nicht einmal Anzeichen, dass die hohen Mächte hätten bemüht werden müssen, die Jungfrau und den Herrgott meinen wir, und keineswegs die sechstrangigen Engel, damit der heilsame Vorfall einträte, dem Portugal vielleicht, wer weiß, seine Unabhängigkeit verdankt. Tatsache war, dass dem zur Nacht ruhenden Dom Egas Moniz, Hofmeister des Knaben Afonso, im Traum die Jungfrau Maria erschien und zu ihm sprach, Dom Egas Moniz, schläfst du, er aber, in Zweifel, ob er wachte oder schlief, fragte zu seiner Vergewisserung, Senhora, wer seid Ihr, und sie antwortete freundlich, Ich bin die Jungfrau Maria, und ich heiße dich nach Carquere gehen, das sich auf der Gemarkung von Resende befindet, grabe an jenem Ort, und du wirst auf Reste einer Kirche stoßen, deren Bau da einst in meinem Namen begonnen wurde, auch findest du dort ein Bildnis von mir, bessere es aus, denn das hat es nach der traurigen Vernachlässigung bitter nötig, dann halte eine Vigilie ab, du wirst das Kind auf den Altar legen, und wisse, im selben Augenblick wird es gesunden, du aber hege es fürderhin gut, denn mein Sohn, das weiß ich, gedenkt ihm die Vernichtung der Glaubensfeinde zu übertragen, was er freilich nicht können wird mit so kurzen Beinen. Dom Egas Moniz erwachte, über die Maßen froh, versammelte die Dienstmannen, begab sich, die Mauleselin reitend, nach Carquere, ließ an dem von der Jungfrau gewiesenen Fleck graben, und da war keine Kirche, doch überrascht sind eben wir, nicht jene, denn in den damaligen gelobten Zeiten waren die Verkündigungen von oben niemals grundlos oder trügerisch. Wahr ist, dass Dom Egas Moniz den Befehl der Jungfrau nicht treulich befolgte, denn sehr klar war ausgedrückt, dass sie ihn zum Graben geschickt, will heißen zum Graben mit eigenen Händen, er aber, was tat er, er hieß andere graben, die Leibeigenen wahrscheinlich, schon damals waren soziale Ungerechtigkeiten im Schwange. Danken wir der Jungfrau, dass sie nicht zimperlich tat, dem jungen Afonso die Beine nicht wieder verkürzte, denn so es Wunder zum Guten gab, gab es sie auch zum Schlechten hin, das bezeugen jene bedauernswerten Schweine der Heiligen Schrift, die sich in den Abgrund stürzten, als der Gute Jesus die Teufel in sie fahren ließ, die in dem Besessenen gesteckt hatten, somit die schuldlosen Tiere das Martyrium erlitten, und nur sie, denn um wie viel tiefer der Fall der rebellierenden Engel auch war, der dann in Dämonen verwandelten, von ihnen starb, soviel bekannt, kein einziger, mangelnde Voraussicht unseres Herrgotts dies, unverzeihliche, verpasste er doch durch solche Unachtsamkeit die Chance, dieser Brut ein für alle Mal den Garaus zu machen, von gutem Rat ist doch das warnende Sprichwort, Wer seinen Feind schont, durch dessen Hand stirbt, möge es nicht dahin kommen, dass es Gott eines Tages reut, dann aber zu spät. Immerhin sollte er in diesem fatalen Augenblick Zeit haben, sie seines vergangenen Lebens zu erinnern, so möchten wir hoffen, dass sein Geist Erleuchtung findet und ihm begreiflich wird, dass er uns allesamt, den schwachen Schweinen und Menschen, jene Laster, Sünden und wegen Ungenügens auferlegten Leiden hätte ersparen können, die da, heißt es, Werk und Zeichen des Böslings sind. Zwischen Hammer und Amboss sind wir ein glühendes Eisen, das vom vielen Geschlagenwerden erkaltet.

An Bibelgeschichte langt es uns erst mal. Eher gälte es zu wissen, wer die Geschichte vom trefflichen Erwachen des Muezzins an jenem Lissabonner Morgen verfasste, mit solcher Fülle an wahrheitsgetreuen Einzelheiten, dass es wie ein Augenzeugenbericht anmutet, oder zumindest den Eindruck erweckt, dass da recht geschickt ein Dokument jener Zeit genutzt wurde, das sich nicht unbedingt auf Lissabon beziehen muss, da zu dem Zweck ja nur irgendeine beliebige Stadt, ein Fluss und ein heller Morgen vonnöten sind, bekanntlich eine über die Maßen banale Zusammenfügung. Die Antwort, überraschenderweise, ist, dass, dem Anschein entgegen, all dies niemand schrieb, es war nur vage Vorstellung im Kopf des Korrektors, unterdessen er las und dabei ausbesserte, was bei der ersten und zweiten Durchsicht übersehen worden war. Hat doch ein Korrektor die bemerkliche Fähigkeit, sich zu doppeln, er setzt ein Deleatur oder fügt ein unanfechtbares Komma ein, zur gleichen Zeit aber, man gestatte diesen Neologismus, heteronymisiert er sich, er ist imstande weiterzuspinnen, was ein Bild, ein Vergleich oder eine Metapher ihm eingab, nicht selten erzeugt schon der Ton eines leise wiederholten Wortes, vermittels Assoziation, verbale Klanggebilde, die sein kleines Arbeitszimmer in einen um sich selbst vervielfachten Raum weiten, allerdings ist es sehr schwierig, allgemein verständlich zu erklären, was dies heißen will. Hier nun dünkte es ihm spärliche Information, dass der Historiker Muezzin und Minarett nur eben anführte, um, sofern verwegene Urteile gestattet sind, ein bisschen Farbe und Geschichtskolorit zu geben dem feindlichen Heerlager, eine semantische Ungenauigkeit das Letztere, die wir besser gleich korrigieren, denn Heerlager steht für Belagerer und nicht für die vorderhand reichlich bequem in der Stadt eingerichteten Belagerten, in einer Stadt, die, ausgenommen diese oder jene kurze Zeitspanne, ihnen gehört seit dem Jahre siebenhundertvierzehn, will heißen christlicher Zeitrechnung, denn die der Mauren ist eine andere, das weiß man. Solche Verbesserung nimmt der Korrektor selbst vor, er hat mehr als hinlänglich Kenntnis von Kalendern und weiß, dass die Hedschra, wie es Die Kunst der Datenprüfung, ein unentbehrliches Werk, lehrt, am sechzehnten Juli sechshundertzweiundzwanzig stattfand, nach Christus, abgekürzt n. Chr., dabei freilich zu beachten ist, dass sich das muselmanische Jahr nach dem Mond richtet, also kürzer ist als das an der Sonne orientierte christliche, weshalb jedem verstrichenen Jahrhundert drei Jahre abzuziehen sind. Ein guter Korrektor wäre dieser hier, wenn er, stets gewissenhaft, dem Hang zum bisweilen unverantwortlichen Fabulieren tunlichst die Flügel beschnitte, hier jedenfalls hat er aus Leichtfertigkeit gesündigt, er verfiel augenscheinlichen Fehlern und zweifelhaften Behauptungen, und zwar deren drei, somit sich, wenn dieses offengelegt, nun endgültig beweist, wie gänzlich unbedacht und irrig der Ratschlag des Historikers war, er solle sich doch mit Geschichte befassen. Und was gar die Philosophie betrifft, Gott bewahre.

Der erste fragliche Punkt, wenn man die Geschichte von hinten aufrollt, ist jener flüchtige Einfall, dass in die steinerne Brüstung am Rundgang des Minaretts irgendein Zeichen eingeritzt sein könnte, gewiss wohl ein Pfeil, der nach Mekka wiese. Nun aber, wie fortgeschritten in jenen Zeiten die Kunst der Geographie und Landvermessung bei den Arabern und sonstigen Mauren gewesen sein mag, es ist wenig glaubhaft, dass diese mit der hier angedeuteten Genauigkeit ebenjene Stelle auf der Oberfläche des Planeten anpeilte, wo sich im Gewimmel der Steine, und einer immer heiliger als der andere, die Kaaba befindet. All diese Dinge, ob Verbeugungen, Kniefälle, oder Blicke himmelan oder erdwärts, sind nur Annäherung, mit Gespür vorgenommen, wie es, sofern wir uns diese Redensweise gestatten, der Angler tut, entscheidend letztendlich ist, dass Gott und Allah in den Herzen zu lesen vermögen und sie es uns nicht krummnehmen, wenn wir uns aus Unwissenheit von ihnen abwenden, und wenn wir Unwissenheit sagen, kann es unsere so sehr wie die ihre sein, denn nicht immer befinden sie sich, wohin sie sich verpflichtet haben. Der Korrektor ist ein Mensch dieser unserer Zeit, ihm pflanzte man Vertrauen in die Straßenverkehrszeichen ein, an sie zu glauben, was Wunder also, dass er dem Anachronismus nicht widerstand, vielleicht in einer Anwandlung von Mitleid gegenüber der Blindheit des Muezzins. Bekannt ist, dass die Güte eines Stoffs den Flecken nicht fernhält, eher noch heißt es, Fleck sucht sich das beste Gewebe, und wo ein Fleck, da ein weiterer, doch das ist der zweite Irrtum, ein äußerst gravierender, denn es würde der ahnungslose Leser die Vorgänge um den aufgewachten Muezzin, sofern niedergeschrieben, und sie sind es zum Glück nicht, für zutreffend nehmen und den Lebensumständen der Muslime als gemäß erachten, Fehler, wie gesagt, weil der Muezzin, dies der bevorzugte Ausdruck des Historikers, anstatt Gebetsrufer, die vor Anrufung der Gläubigen fälligen rituellen Handlungen unterließ, demnach er sich in unreinem Zustand befand, was äußerst unwahrscheinlich ist, wenn wir bedenken, wie nahe wir, zeitlich, dem Ursprung des Islam hier noch sind, vier Jahrhunderte und ein paar Jährchen, sozusagen, seit der Wiege. Später wird es nicht abgehen ohne Erschlaffung, heimlich übergangenes Fasten, zweifelhafte Auslegung von doch eigentlich eindeutigen Geboten, da ja nichts den Menschen so ermüdet wie die strenge Befolgung von Prinzipien, noch ehe das Fleisch nachgibt, erschlafft der Geist, doch nicht er wird zur Rechenschaft gezogen, sondern das Fleisch, das Ärmste, dieses beschimpft, verflucht, verleumdet. Noch sind dies Zeiten des heilen Glaubens, der Muezzin wäre der würdeloseste aller Menschen, falls er das Minarett unlauteren Herzens und mit ungewaschenen Händen erstiege, folglich er der Schuld, die ihm der Korrektor unverzeihbar leichtfertig auflud, enthoben ist. Wider die hohe Sachkenntnis, die der Korrektor während der Unterredung mit dem Historiker an den Tag legte, ist es an der Zeit, hier erste Bedenken gegenüber dem Verfasser der Geschichte der Belagerung von Lissabon anzumelden, dass er ihm zu viel Vertrauen einräumte, vielleicht in einer Stunde der Ermüdung und Missstimmung, oder weil in Gedanken bei einer nächst anstehenden Reise, jedenfalls legte er die Endkorrektur voll und ausschließlich dem Deleatur-Fachmann in die Hände, blindlings. Schaudern macht uns schon der Gedanke, die frühmorgendliche Episode um den Muezzin fände, missbräuchlich, Aufnahme in dem wissenschaftlichen Text des Autors, Früchte beide von beharrlichen Studien, profundem Erforschen, minuziösem Gegenüberstellen. Bezweifelt wird, zum Beispiel, obschon es allemal gute Vorsicht ist, auch den eigenen Zweifel in Zweifel zu ziehen, dass der Historiker in seinem Text Hunde und Hundegebell erwähnt, weiß er doch, dass der Hund in den Augen der Araber ein unreines Tier ist, wie auch das Schwein, demnach es ein Zeichen von krasser Ignoranz wäre, anzunehmen, Lissabons so eifervoll gläubige Mauren lebten in hautnaher Gemeinschaft mit der Hundeviecherei. Schweinekoben vor der Haustür, Hundehütte oder Schoßhund, das sind Erfindungen der Christen, es mag wohl kaum barer Zufall sein, dass die Muslime die Kreuzritter Hunde nennen und sie glücklicherweise, sofern bekannt, nicht gar Schweine nannten. Da dies nun einmal so ist, wird man, leider, auf das anmutige Schauspiel, wie da ein Hund den Mond anbellt, oder sich das zeckengeplagte Ohr kratzt, verzichten müssen, doch die Wahrheit, falls wir sie schließlich finden, hat über allen anderen Erwägungen zu stehen, ob diese dafür oder dawider sind, somit wir denn gleich hier jene Worte, die Lissabons letzten friedvollen Morgen beschrieben, für ungeschrieben erklären müssen, wüssten wir nicht bereits, dass besagte fälschliche Darstellung, obgleich zusammenhängend, und das ist ja die große Gefahr, des Korrektors Kopf nie verließ, ja gar nicht erst hinausgedieh über ihre ersponnene und lachhafte Ungereimtheit.

Bewiesen ist also, dass der Korrektor irrte, und falls er nicht irrte, dass er verwechselte, und falls nicht verwechselte, dass er phantasierte, aber wage den ersten Stein zu werfen, wer nie geirrt, verwechselt oder phantasiert. Irren, erkannte der Wissende, ist dem Menschen eigen, was besagt, sofern es nicht falsch ist, es wortwörtlich zu nehmen, dass, wer nicht irrt, denn auch kein echter Mensch wäre. Doch kann diese oberste Maxime nicht als generelle Entschuldigung herhalten, die uns alle freispräche von hinkenden Urteilen und lahmenden Meinungen. Wer nicht weiß, der frage, so viel Demut muss er schon aufbringen, eine so elementare Vorkehr sollte der Korrektor stets erwägen, umso mehr, als er gar nicht aus dem Haus müsste, aus dem Arbeitszimmer jetzt, denn hier fehlt es nicht an Büchern, die ihm Aufhellung geben würden, wäre er nur weise und achtsam genug, dem nicht blind zu glauben, was er zu wissen vermeint, denn eben hier haben die schlimmsten Täuschungen ihren Ursprung, nicht in der Unkenntnis. In diesen gereihten Regalen warten Tausende und Tausende von Buchseiten, dass ein Funkeln von erster Neugierde sie treffe, oder das feste Licht, das ein auf Zerstreuung bedachter Zweifel allemal ist. Halten wir dem Korrektor schließlich auch noch zugute, dass er, im Laufe seines Lebens, viele und vielverschiedene Nachschlagewerke zusammengetragen hat, auch wenn uns bereits ein oberflächlicher Blick kundtut, dass in seinem Archiv die Technologien der Informatik fehlen, doch leider langt das Geld nicht für alles, und dieser Beruf, an der Zeit, es zu sagen, gehört zu den schlechtestbezahlten der ganzen Welt. Eines Tages, aber Allah ist größer, wird jeder Buchkorrektor über einen Computer verfügen, der ihn Tag und Nacht, gewissermaßen über Nabelschnur, mit der zentralen Datenbank verbindet, dabei er dann, wie auch wir, nur noch wünscht, dass sich zwischen diese Daten des totalen Wissens nicht, gleichsam Teufel ins Kloster, der verführerische Fehler eingeschlichen haben möge.

Wie dem auch sei, solange jener Tag nicht heran ist, stehen die Bücher da zur Verfügung, eine pulsierende Galaxie, und die Wörter in ihnen kosmischer Staub, des Auges harrend, das sie fixieren wird in irgendeinem Sinn, oder in ihnen den neuen Sinn suchen wird, denn wie sich die Erklärungen über das Universum wandeln, so bietet auch das zuvor für immerdar unverrückbare Urteil plötzlich eine andere Lesart, nämlich dass Widerspruch insgeheim doch möglich ist, man sich augenscheinlich selber geirrt hat. Hier, in diesem Arbeitszimmer, wo die Wahrheit nur ein den unendlich wechselnden Masken aufgestülptes Gesicht sein kann, befinden sich die gängigen Wörterbücher und Nachschlagewerke der Sprache, die Morais und Aurélios, die Morenos und Torrinhas, etliche Grammatiken, das Handbuch des vollkommenen Korrektors, Vademekum dieses Berufes, doch auch die geschichtlichen Darstellungen der Kunst, der Welt im Allgemeinen, der Römer, Perser, Griechen, Chinesen, Araber, Slawen, Portugiesen, nun, von fast allem, was es an Völkern und Nationen gibt, des Weiteren die Geschichte der Wissenschaften, der Literaturen, der Musik, der Religionen, der Philosophie, der Zivilisationen, dann der Petit Larousse, der Quillet in Auszügen, der Petit Robert, die Politische Enzyklopädie, die Luso-Brasileira, die Encyclopaedia Britannica, unvollständig, das Wörterbuch der Geschichte und Geographie, ein Universalatlas zu dieser Materie, und zwar der von João Soares, alte Ausgabe, die Historischen Jahrbücher, das Buch der Zeitgenossen, die Großen Biographien der Welt, das Handbuch für den Buchhändler, das Wörterbuch der Fabeln, das Lexikon der mythologischen Gestalten, die Lusitanische Bibliothek, das Lexikon für vergleichende Geographie der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit, der aktualisierte Historische Atlas, das Allgemeine Lexikon der Literatur, der Schönen Künste und der Moralischen und Politischen Wissenschaften, und, am Ende, nicht des generellen Inventarverzeichnisses, sondern dessen, was noch am meisten ins Auge fällt, das Allgemeine Wörterbuch der Biographie und der Geschichte, das der Mythologie, das der antiken und modernen Geographie, das der Altertümer und der Institutionen Griechenlands, Roms, Frankreichs und allgemein des Auslands, nicht zu vergessen das Wörterbuch der Raritäten, Skurrilitäten und Kuriositäten, wo, ein prächtiger Zufall, geeignet zum Beschließen dieser abenteuerlichen Aufzählung, als ein Beispiel für Irrung, die Behauptung des gelehrten Aristoteles angeführt ist, die gemeine Hausfliege habe vier Beine, eine rechnerische Verknappung, die von nachfolgenden Autoren jahrhundertelang wiederholt wurde, obwohl sogar die Kinder, grausam und experimentierfreudig, wussten, dass Fliegen sechs Beine haben, weil sie ihnen diese seit Aristoteles’ Zeiten ausrissen, genüsslich zählend, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, selbige Kinder, die, wenn sie herangewachsen und den griechischen Gelehrten lasen, einander versicherten, Die Fliege hat vier Beine, das erwirkt die unterweisende Autorität, so gewaltig eben leidet die Wahrheit unter der uns von ihnen stets verpassten Lektion.

Dieser unverhoffte Einbruch in die Gefilde der Insektenkunde beweist uns, schlüssig, dass die dem Korrektor unterschobenen Fehler letztlich nicht ihm anzulasten sind, sondern diesen Büchern, die ohne Gegenprüfung ältere Werke wiederholten, und da dies so ist, wollen wir jene beklagen, die schuldlos Opfer ihrer eigenen Gutgläubigkeit wie auch anderer Leute Fehl wurden. Wahr ist, wenn wir so sehr nachgäben, verfielen wir abermals der schon verabscheuten weltweit geläufigen Entschuldigung, doch das werden wir nicht tun ohne Vorbedingung, will heißen, dass der Korrektor, zu seinen Gunsten, die wundervolle Lektion beherzige, die uns, hinsichtlich der Fehler, Bacon, ein weiterer Gelehrter, in seinem Novum Organum benannten Buch gab. Er unterteilt die Fehler in vier Kategorien, und zwar in idola tribus, oder Fehler der menschlichen Natur, in idola specus, oder individuelle Fehler, in idola fori, oder Fehler der Sprache, schließlich in idola theatri, oder Fehler der Systeme. Im ersteren Falle rühren sie her von der Unvollkommenheit der Sinne, von den Vorurteilen und Leidenschaften, von unserer Gewohnheit, alles vermöge angeeigneter Ideen zu beurteilen, von unserer unstillbaren Neugierde, obschon dem Geist Grenzen gesetzt sind, und von unserer Neigung, zwischen den Dingen mehr Analogien zu finden, als es sie in Wirklichkeit gibt. Im zweiten Falle ist Quelle der Irrtümer die Unterschiedlichkeit der Geister, die einen verlieren sich in Einzelheiten, andere in weitgespannten Verallgemeinerungen, auch geben wir bestimmten Wissenschaften den Vorzug, weshalb wir dann möglichst alles auf sie allein zurückführen möchten. Im dritten Falle, den Fehlern der Sprache, liegt das Übel darin, dass die Wörter oft gar keinen Sinn haben, oder nur einen verschwommenen, oder unterschiedliche Ausdeutungsmöglichkeiten, und schließlich, vierter Fall, so zahlreich sind die Fehler der Systeme, dass, begännen wir hier mit der Aufzählung, wir damit nie zum Ende gelangen würden. Möge sich der Korrektor also dieses Katalogs bedienen, zu seinem Gedeih, und beherzige auch jenen Spruch Senecas, der, den heutigen Tagen angemessen, durch die Blume sagt, Onerat discentem turba, non istruit, eine kernige Maxime, der des Korrektors Mutter, des Lateins nicht mächtig und nur mäßig der eigenen Sprache, vor vielen Jahren drastisch zweiflerische Übersetzung gab, Je mehr du liest, desto weniger du lernst.

Doch um noch etwas zu retten aus dieser Prüfung und Infragestellung, sei versichert, es war kein Fehler zu schreiben, und geschrieben ist es nun mal, dass der Muezzin blind war. Der Historiker, der da lediglich von Minarett und Muezzin schreibt, wusste vielleicht nicht, dass fast alle Muezzins damals, und noch lange danach, blind waren. Und falls er es nicht weiß, vielleicht meint er, dass der Gebetsgesang ein besonderes Talent der Versehrten sei, oder dass die maurischen Gemeinwesen dergestalt, wie es geschehen und auch fernerhin geschehen wird, teilweise das Problem der Arbeitsbeschaffung lösten für Menschen, denen das kostbare Augenlicht fehlt. Sein Irrtum dies, jetzt, der alle gleichermaßen berührt. Die historische Wahrheit, möge er erfahren, ist die, dass für das Amt des Muezzins unter Blinden gewählt wurde, und nicht aus humanitärer Erwägung oder der Ausbeutung dienlicher physiologischer Vorzüge halber, sondern schlicht weil sie von der hohen Warte der Minarette nicht Einblick nehmen sollten in das Privatleben in den Höfen und auf den Söllern. Der Korrektor erinnert sich schon nicht mehr, woher er dies weiß, sicherlich hat er es aus einem von der Zeit nicht überholten verlässlichen Buch. Deshalb kann er jetzt darauf bestehen, dass die Muezzins blind waren, jawohl. Blind fast alle. Es sei denn, dass ihn, wenn überhaupt, der leise Gedanke beschleicht, ob diesen Männern nicht eigens die sehkräftigen Augen ausgestochen wurden, wie man es einst mit den Nachtigallen tat, und vielleicht noch tut, damit sie vom Licht kein anderes Zeugnis hätten als eine in der Finsternis vernommene Stimme, die eigene, oder vielleicht die jenes anderen, der nur die von uns erfundenen Wörter zu wiederholen weiß, jene, mit denen wir alles ausdrücken möchten, Segnung und Fluch, bis zu dem, was nimmer einen Namen haben wird, unbenennbar bleibt.

Die Geschichte der Belagerung von Lissabon

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