Читать книгу Die Geschichte der Belagerung von Lissabon - José Saramago - Страница 8

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Es war noch nicht acht Uhr, da klingelte Costa an der Tür. Der Korrektor lag, nach beschwerlicher Nacht, mit kurzen und wirren Träumen, endlich in bleiernem Schlaf, so dachte es jener Teil von ihm, der zu hinlänglicher Bewusstheit aufgestiegen war, um denken zu können, und dieser tiefe Schlaf ließ sich daraus schließen, dass der anderen Seite, wie zu ersehen, das Aufwachen schwerfiel, obwohl die Klingel anhaltend schrillte, viermal, fünfmal, nun in einem bis ins Unendliche verlängerten Ton, als klemmte der Knopf. Raimundo Silva wusste, freilich, dass er sich erheben musste, konnte aber nicht die andere Hälfte seiner selbst im Bett lassen, oder vielleicht gar mehr, was würde Costa sagen, bestimmt ist es Costa, jetzt holt uns die Polizei nicht mehr zu so früher Stunde aus dem Bett, jawohl, was wird Costa sagen, wenn da ein halber Raimundo vor ihm auftaucht, vielleicht Benvindo, ein Mensch muss stets in Gänze erscheinen, wohin man ihn auch ruft, er kann nicht behaupten, Hier bringe ich diesen Teil von mir, der andere hat sich unterwegs verspätet. Die Klingel schellte weiter, Costa wird sich Gedanken machen. Es ist so still im Haus, endlich vermag die aufgewachte Hälfte des Korrektors mit rauer Stimme zu rufen, Ich komme, und da erst rührt sich die noch schlafende Hälfte, widerstrebend. Nun, einigermaßen zusammengebracht, noch unsicher auf den Beinen, nicht wissend, wem welches, durchqueren die zwei Hälften das Zimmer, die Haustür steht im rechten Winkel zu der dieses Raumes, fast ließen beide sich gleichzeitig öffnen, es ist Costa, mit klarer Reue ob des morgendlichen Sturmgeläuts, Entschuldigen Sie, hierauf merkt er, dass er nicht gegrüßt hat, Guten Morgen, entschuldigen Sie, Herr Silva, dass ich so zeitig komme, es ist wegen der Korrektürchen, Costa bittet ernstlich um Vergebung, nichts anderes drückt der demutvolle Diminutiv aus, Ja, ja, sagt der Korrektor, treten Sie ein, hier herein ins Arbeitszimmer.

Als Raimundo wieder erscheint, dabei den Gürtel des in blautönigem Schottenmuster gehaltenen Morgenmantels zubindend, und dann den Kragen ordnend, hält Costa den Korrekturpacken bereit in der Hand, gleichsam als prüfe er dessen Gewicht, und bemerkt gar, verständnisvoll, In der Tat enorm, doch er blättert nicht drin, fragt nur etwas beunruhigt, Haben Sie noch viele Korrekturen eingefügt, und Raimundo Silva erwidert, Hab ich nicht, sagt es mit einem Lächeln, glücklicherweise fragt niemand ihn nach dem Wieso, Costa ahnt nicht, dass er eigens mit einem so kleinen Wort hintergangen wurde, dies Nicht, das in selbiger Lautung sowohl verhüllt als auch offenbart, Costa hatte gefragt, Haben Sie noch viele Korrekturen eingefügt, und der Korrektor hatte geantwortet, Hab ich nicht, mit einem Lächeln, das sich zum Grinsen verkrampft, als er sagt, Wenn Sie möchten, können Sie sehen, Costa wundert das Entgegenkommen, ein vages Gefühl, das sogleich verflog, Nicht nötig, ich eile gleich von hier in die Druckerei, sie haben mir versprochen, das Manuskript bei Vorlage sofort in die Druckmaschine zu spannen, Sollte Costa blättern und auf den Fehler stoßen, so überlegt der Korrektor, könnte er ihn wohl noch überzeugen, mit zwei oder drei wirren Sätzen, aus Beipflichtung und Leugnung, aus Widerspruch und In-Augenschein-Nehmen, aus Unentschiedenheit und Einlenken, Costa aber möchte nur noch enteilen, auf ihn wartet eine Druckerei, er ist zufrieden, im Kampf gegen die Zeit hat die Herstellung einen weiteren Sieg errungen. Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens, er müsste sich freilich gestreng zeigen, es ist nicht gut, wenn die Dinge immer erst in der letzten Minute erledigt werden, wir müssen mit größeren Sicherheitsfristen arbeiten, doch der Korrektor wirkt so hilflos in diesem Morgenmantel von falschem Schotten, mit gesprossenem Bart, dabei sich das gefärbte Haar grotesk abhebt von den weißen Stoppeln, weshalb Costa, ein Bursche in kernigstem Alter, und obwohl einer Generation angehörend, die für Güte nur Spott übrighat, seine äußerst gerechten Klagen für sich behält, und fast mit einem Gefühl von Zuneigung zieht er aus der Aktentasche einen neuen Umbruch hervor, zum Korrekturlesen. Dieser ist schmäler, von etwas mehr als zweihundert Seiten, und hat nicht besondere Eile. Raimundo Silva erspürt und begreift den Sinn der Geste und der Worte, er entschlüsselt den einem Vokal beigefügten oder entzogenen Halbton, sein Gehör weiß so gut zu lesen wie seine Augen, und all dieser Dinge wegen spürt er gleichsam einen Gewissensbiss, dass er den unschuldigen Costa so hintergeht, den Botschafter und Überbringer eines Fehlers, für den er nicht verantwortlich ist, wie es den meisten Menschen widerfährt, diese leben und sterben unschuldhaft, haben für andere behauptet und abgestritten und bezahlen dafür, als wäre es die eigene Rechnung, doch weise ist Allah, der Rest ist Phantasterei der Vernunftsüberlegungen.

Costa zog ab, glücklich darüber, dass der Tag für ihn so gut angefangen, und Raimundo Silva begibt sich in die Küche, den Milchkaffee und alsdann den mit Butter bestrichenen Toast zu bereiten. Die gerösteten Brotscheiben sind für diesen von Normen und Prinzipien erfüllten Mann fast ein Laster, und Zeichen eines unbezwingbaren Hangs zum Schlemmen, bei dem vielerlei Sinne hineinspielen, Sehen, Ertasten, Riechen, Schmecken, am Beginn der Glanz des chromfarbenen Toasters, dann das die Scheiben schneidende Messer, der Duft des gerösteten Brots hernach, dann schmilzt die Butter, und endlich der vielfältige Genuss vermöge Mund, Gaumen, Zunge, Zähnen, diese auf unaussprechliche Weise überzogen von einem dunklen Film, verbrannt und weich, und wieder der Duft, nun in ihm drin, himmelhoch gepriesen der Erfinder einer solchen Köstlichkeit. Ebendieses Wort sprach Raimundo Silva eines Tages laut aus, als ihm scheinen wollte, dass dieses vollkommene Werk aus Feuer und aus Brot sein Blut durchwallte, im Grunde hält er die Butter für überflüssig, ohne größere Einbuße für entbehrbar, obschon sehr dumm sein müsste, wer zurückweisen würde, was, dem Wesentlichen beigefügt, Appetit und Wohlgeschmack gar verdoppelt, dies trifft zu bei Toast mit Butter, davon gerade die Rede war, träfe etwa auch auf die Liebe zu, sofern der Korrektor darin erfahrener wäre. Nach dem Mahl trat Raimundo Silva ins Bad, zur Rasur und zur Pflege seiner äußeren Erscheinung. Solange sein Gesicht noch nicht vom Schaum bedeckt ist, mag er sich im Spiegel nicht betrachten, heute reut es ihn, dass er entschied, sich die Haare zu färben, er nun gleichsam ein Gefangener seiner Arglist, denn noch mehr, als ihm das eigene Gesicht missfällt, peinigt ihn der Gedanke, dass, sobald er das Färben aufgibt, die grauen Haare mit einem Mal wuchtig zum Vorschein kommen, brutaler Einbruch, anstatt in natürlich langsamem Voranschreiten, das er aus dummer Eitelkeit eines Tages zu unterbrechen sich entschied. Das sind so die kleinen seelischen Bekümmernisse, für die der Körper, der schuldlose, büßen muss.

Im Arbeitszimmer, nur mal um zu sehen, was der neue Auftrag bietet, nimmt sich Raimundo Silva den von Costa dagelassenen Umbruch vor, hoffentlich keine vollständige Geschichte Portugals, ich sähe mich da wohl zu weiteren Jas oder Neins versucht, oder, wer weiß, zu einem noch verführerischeren spekulativen Vielleicht, das keinen Stein auf dem anderen ließe und nicht Tatsache auf Tatsache. Doch es handelt sich nur um einen Roman unter all den Romanen, nicht nötig, da noch einzufügen, was ohnehin schon drin ist, denn bei Büchern dieser Art, wo das Ersponnene zählt, wird jedes und alles unter fortgesetztem Bezweifeln fabriziert, bei vager Behauptung, vor allem beunruhigt es zu wissen, dass nichts wahr ist, man aber so tut, als ob, wenigstens eine Weile hin, bis die Veränderung dann doch zu augenscheinlich ist, hierauf man in die vergangene Zeit zurückkehrt, zur einzig wahren, und man bemüht sich, jeden Augenblick zu rekonstruieren, den wir damals nicht zu erkennen vermochten, der verstrich, indessen wir einen anderen wiederherstellten, und so fort, Augenblick auf Augenblick, der ganze Roman ist dies, Verzweiflung, ein Versuch, der Vergangenheit nicht gänzlich verlustig zu gehen, gescheitertes Bemühen. Es ist nur noch nicht endgültig ermittelt, ob der Roman es verhindert, dass der Mensch sich vergisst, oder ob das Vermögen zu vergessen den Menschen veranlasst, Romane zu schreiben.

Für Raimundo Silva ist es eine Regel der Hygiene, sich nach Abschluss einer Korrekturarbeit einen Tag Freiheit zu erlauben, Das ist wie ein Aufatmen, sagt er, ist wie ein Purgieren, und dann steigt er aus seinem Haus in die Welt hernieder, wandelt durch diese Straßen, verweilt in Ausstellungen, setzt sich auf eine Parkbank, gönnt sich zwei Stunden Zerstreuung im Kino, tritt in ein Museum, um ein jäh dringliches Bild wieder zu sehen, nun, er tut wie einer, der zu Besuch weilt und nicht so bald zurückkehren wird. Doch nicht immer erfüllt er das Programm ganz. Manchmal kehrt er schon zum halben Nachmittag zurück, weder ermüdet noch gelangweilt, nur eben weil eine innere Stimme ihn rief, mit der ein Diskutieren gar nicht erst lohnt, seiner harrt da ein Buch, ein weiteres, denn der Verlag, der ihn sehr schätzt, ließ ihn bisher noch nie ohne Arbeit. Ungeachtet dieses schon so viele Jahre währenden eintönigen Lebens fragt er sich dennoch immer wieder, was ihn wohl für Wörter erwarten, welche Fabel, welche These, welche Auffassung, von welch schlichter Art der Konflikt sein wird, selbiges widerfuhr ihm auch bei der Geschichte der Belagerung von Lissabon, was nicht verwundert, seit seiner Schulzeit hatten ihm weder der Zufall noch das eigene Interesse so fern zurückliegende Episoden jemals wieder nahegebracht.

Dieses Mal sieht Raimundo Silva jedoch voraus, dass er erst spät heimkehren wird, wahrscheinlich besucht er gar eine Spätvorstellung, uns ist nicht sonderlich viel Scharfsinn abgefordert, um zu erkennen, dass er für Costa nicht unmittelbar erreichbar sein möchte, falls die Fälschung entdeckt wird, deren Urheber und Komplize er in einem ist, denn gewissermaßen als Autor fügte er den Fehler ein, und als Korrektor unterließ er dessen Tilgung. Im Übrigen ist es fast zehn Uhr, in der Druckerei werden sie die ersten Schließrahmen eingespannt haben, der Drucker wird, mit den bedächtigen und feinen Gesten, die den Spezialisten auszeichnen, nach dem Einspannen die Feineinstellung vornehmen, Minuten später dann schießen die Bögen hervor und berichten die verfälschte Geschichte der Belagerung von Lissabon, auch könnte Minuten später das Telefon klingeln, merkwürdig, dass es nicht schon geklingelt hat, und am anderen Ende kreischte Costa, Ein rätselhafter Fehler, Senhor Silva, glücklicherweise hab ich ihn noch rechtzeitig entdeckt, kommen Sie sofort, nehmen Sie ein Taxi, dies ist eine Sache, die Sie verantworten, nein, lässt sich nicht am Telefon regeln, ich verlange Ihre Anwesenheit, unter Zeugen, Costas Stimme überschlägt sich vor Erregung, und Raimundo Silva, gleichermaßen erregt, oder noch mehr, getrieben von den Vorstellungen, zieht sich hastig an, tritt ans Fenster, um nach dem Wetter zu schauen, kalt ist es, aber der Himmel wolkenlos. Am anderen Ufer des Flusses stoßen die hohen Essen dicken Rauch aus, der zunächst senkrecht in die Höhe steigt, bis der Wind ihn bezwingt und ihn als träge Schwade nach Süden forttreibt. Raimundo Silva senkt den Blick, herab auf die Dächer, die das Gelände des alten Lissabon bedecken. Die Hände hat er auf die Sprosse des Erkerfensters gestützt, er spürt das kalte, grindige Eisen, nun ist er gefasst, er sieht kaum, er denkt nicht, und eben in diesem Moment, da sein Hirn leer ist, fällt ihm ein, wie er diesen seinen freien Tag verbringen könnte, in einer Weise, wie er es sein Lebtag noch nie getan, keinen Grund haben jene, sich über die Kürze ihres Lebens zu beklagen, die es nicht so genießen, wie es ihnen gegeben wurde.

Er hatte den Erker verlassen, war ins Arbeitszimmer getreten, hatte unter den im Schrank verstauten Papieren die erste Umbruchkorrektur zur Belagerung herausgesucht, die, wie auch die zweite und die dritte, noch in seinem Besitz war, indes nicht das Druckmanuskript, dieses verbleibt nach Abschluss der ersten Korrektur im Verlag, er hatte alles in eine Papiertüte gesteckt, und jetzt eben klingelt das Telefon. Raimundo Silva erschrak, die linke Hand hob sich gewohnheitsmäßig, streckte sich hin, verhielt jedoch auf halbem Wege, zog sich wieder zurück, dieser schwarze Gegenstand ist eine Zeitbombe, die explodieren wird, ist eine wippende Natter, im Begriff zuzubeißen. Langsam, wie in Furcht, seine Schritte könnten am anderen Ende, von da aus sie ihn rufen, gehört werden, entfernt sich der Korrektor, murmelt, Es ist Costa, doch er irrt, nie wird er erfahren, wer ihn zu dieser Vormittagsstunde sprechen wollte, wer und weshalb, Costa wird einige Tage später zu ihm sagen, Ich hatte Sie zu Hause angerufen, aber es hat niemand abgehoben, und auch sonst keine Person, ja wer denn auch, wird erklären, Schade, ich hatte eine gute Nachricht für Sie. Das Telefon klingelt, klingelt, aber Raimundo Silva wird nicht abheben, schon steht er auf dem Korridor, ausgehbereit, Vielleicht, so überlegt er voller Zweifel und Bekümmernis, hat sich da jemand in der Nummer geirrt, kommt ja vor, Genaues werden wir aber nie erfahren, es ist lediglich eine Annahme, doch sollten wir die Hypothese nutzen, sie würde den Korrektor ruhiger stimmen, was im Übrigen, recht besehen, nur unüberlegtes Gerede ist, wenn man bedenkt, dass ebenjene Beruhigung, unter den gegenwärtigen Umständen, insgesamt kaum mehr wäre als eine bezweifelbare Erleichterung durch bares Aufschieben, nimm diesen Kelch von mir, sprach jener andere, ihm aber brächte es weiter nichts, er würde ihm ein andermal wieder vorgesetzt.

Während Raimundo Silva die schmale, steile Treppe hinabsteigt, überlegt er, dass es noch nicht zu spät ist, die Unglücksstunde zu vermeiden, da sein dreister Eingriff an den Tag käme, er braucht nur ein Taxi zu nehmen und in die Druckerei zu eilen, wo Costa sicherlich zugegen ist, glücklich darüber, einmal mehr große Effizienz bewiesen zu haben, die sein ganz besonderes Kennzeichen ist, Costa, die Herstellung in Person, er kommt leidenschaftlich gern in die Druckerei, um, sozusagen, das Startkommando zu geben, und gerade eben will er es tun, da stürzt Raimundo Silva zur Tür herein, mit lautem Ruf, Halt, anhalten, das ist wie im Roman, wenn der königliche Bote außer Atem noch in letzter Sekunde dem Todgeweihten den königlichen Gnadenerlass bringt, welch eine Erleichterung, freilich, heikel auch dieser Fall, doch es ist ein grundlegender Unterschied, gemeinhin zu wissen, dass wir eines Tages sterben müssen, und andererseits nun aber das unmittelbare Ende vor Augen, das Erschießungskommando mit angelegter Waffe, solches weiß der am besten, der zuvor wundersam entkam, nun aber, unentrinnbar endgültig, dem Tod ausgeliefert ist, Dostojewski entwischte beim ersten Mal, beim zweiten Mal nicht mehr. Im hellen und kalten Licht der Straße scheint Raimundo Silva noch zu überlegen, was er letztlich tun will, doch das Nachdenken ist Verstellung, ist nur Schein, der Korrektor spielt sich selbst einen Widerstreit vor, dessen Ergebnis von vornherein feststeht, hier galt der bekannte Satz der kompromisslos unnachgiebigen Schachspieler, Berührter Stein ist gesetzter Stein, mein bester Aljechin, was ich schrieb, hab ich geschrieben. Raimundo Silva atmet tief, im Blick die Häuserzeilen zur Rechten und zur Linken, er mit einem seltsamen Gefühl von Besitznahme, das die Erde, die er tritt, einbezieht, er, der keinerlei Güter im Mondschein besitzt, auch nicht die Hoffnung, sie jemals zu erlangen, diese ging längst verloren, in fernen Zeiten, die Illusion von Pfründe, in Gestalt der Taufpatin Benvinda, Gott hab sie selig, sofern ihr Stärkung sind die Gebete der rechtmäßigen und ausgezahlten Erben, sie selbst nicht geringere und nicht größere Egoisten als es eben ihre Art, die überall gleiche. Wahr aber ist, dass der Korrektor, der schon so lange in diesem Viertel an der Burg lebt, so ungezählt viele Jahre, dass er auch mit nur geringstem Anhaltspunkt heimfände, nun außer dem erwähnten Genuss, grad eben Besitz genommen zu haben, auch ein Gefühl von Befreiung und grenzenloser Wonne verspürt, von dem er nicht weiß, ob es weiter anhalten wird, wenn er um die nächste Ecke in die Rua Bartolomeu de Gusmão einbiegt, in die Schattenzone. Beim Hinschreiten fragt er sich nach dem Woher einer solchen Selbstsicherheit, weiß er doch ebenso gut, dass über ihm das berüchtigte Damoklesschwert schwebt, in Gestalt eines mehr als gerechtfertigten Kündigungsschreibens seitens der Firma, wegen Untauglichkeit, arglistiger Täuschung, vorsätzlichen Betrugs, Anstiftung zur Perversion. Er fragt, und er stellt sich vor, dass der von ihm begangene Fehler ihm die Antwort geben wird, nicht der Fehler an sich, sondern dessen offenkundige Folgen, Raimundo Silva nämlich, der sich soeben an den Örtlichkeiten der vormaligen Maurenstadt befindet, ist dieses historische und topographische Einssein vielfältig, kaleidoskopartig bewusst, sicherlich weil er formell bestimmt hatte, dass der Beschluss der Kreuzfahrer dahin ging, den Portugiesen nicht zu helfen, sollten die zusehen, wie sie zurechtkämen mit ihren spärlichen nationalen Kräften, sofern wir sie bereits national nennen können, ist doch gewiss, dass sie sieben Jahre zuvor, obwohl von einem anderen Kreuzzug unterstützt, vor Lissabons Mauern zum Stehen kamen oder sich ihnen gar nicht erst zu nähern wagten, es blieb bei Streifzug, Verwüstung von Gärten und Landgütern und bei sonstigen Übergriffen auf das Privateigentum. Nun, diese sehr ins Einzelne gehenden Betrachtungen bezwecken, obwohl es im Lichte der nackten Tatsachen schwer zu glauben ist, lediglich Klarstellung, dass für Raimundo Silva, bis auf Widerruf oder bis Unser Herrgott es anders verfügt, Lissabon eine Maurenstadt ist, denn, man erdulde die Wiederholung, noch sind seit der fatalen Minute, da die Kreuzritter das schimpfliche Nein aussprachen, keine vierundzwanzig Stunden vergangen, und in der äußerst kurzen Zeit könnten die Portugiesen keineswegs von ganz allein gelöst haben die komplexen taktischen und strategischen Fragen der Umzingelung, Belagerung, Schlacht und Erstürmung, diese dann, hoffentlich, wenn es erst so weit ist, in ihrer Abfolge von jeweils verminderter Dauer.

Freilich befand sich die Milchbar A Graciosa, die der Korrektor nun betreten wird, im Jahre elfhundertsiebenundvierzig noch nicht hier, unter diesem, trotz der von See durch die Flussmündung hereinwehenden frischen Brise, wundervollen warmen Junihimmel. Milchbars sind seit jeher Orte, wo man Neuigkeiten erfahren kann, gemeinhin sind die Gäste nicht in Eile, und da dies ein Viertel der niederen Schichten ist, wo jeder jeden kennt und der tagtägliche Umgang miteinander die Gesprächseinleitungen bereits auf ein Mindestmaß schrumpfen ließ, ausgenommen freilich einige schlichte Formeln, etwa Guten Tag, Wie geht’s, Zu Hause alles wohlauf, was man so sagt, ohne recht auf die eigentliche Bedeutung des Gefragten und Erwiderten zu achten, ist es nur natürlich, dass man zügig zu den Tagesproblemen übergeht, den verschiedenen und zusamt ernsten. Die Stadt ist gleichsam ein Chor von Gejammer, angesichts all dieser Leute, die hierherflüchten, hergetrieben von den Truppen des Ibn Arrinque, des Galiciers, möge Allah ihn niederschmettern, ihn verdammen zu tiefster Hölle, und in erbärmlichem Zustand treffen die Unglücklichen ein, mit blutenden Wunden, weinend und wehklagend, nicht wenige weisen nur Stümpfe auf statt der Hände, anderen wurden, grausam, die Ohren abgeschnitten, oder sie haben keine Nase mehr, es ist die vom portugiesischen König vorausgeschickte Warnung, Und, sagt der Besitzer der Milchbar, offenbar auf dem Seeweg sind Kreuzritter im Anzug, verflucht sollen sie sein, dem Vernehmen nach an die zweihundert Schiffe, das sieht hässlich aus diesmal, wahrhaftig, Ach wir Ärmsten, sagt eine dicke Frau und wischt sich eine Träne aus dem Auge, ich komme grad eben vom Eisernen Tor, ein Ort voller Elend und Unglücke, die Ärzte wissen nicht, wo zuerst Hand anlegen, ich sah Menschen mit blutüberströmten Gesichtern, einem waren die Augen ausgestochen, Gräuel, ein Gräuel, möge das Schwert des Propheten die Mörder treffen, Das wird es, bemerkte ein junger Mann, der, an der Theke lehnend, einen Becher Milch trank, sofern unsere Hand das Schwert ergreift, Wir werden uns nicht ergeben, sprach der Besitzer der Bar, schon vor sieben Jahren kamen Portugiesen und Kreuzritter und zogen ab mit dem, was ihnen gebührte, O ja, sprach der junge Mann, nachdem er sich mit dem Handrücken den Mund abgewischt hatte, aber Allah hilft nur dem, der sich selbst hilft, ich frage mich, diese seit sechs Tagen da im Fluss ankernden fünf Kreuzfahrerschiffe, warum greifen wir sie nicht an und versenken sie, Das wäre nur gerecht, sagte die dicke Frau, zur Heimzahlung für das, was sie den Unseren Schlimmes angetan haben, Zur Heimzahlung nicht, sprach der Besitzer der Milchbar, unsere Rache war stets mindestens das Hundertfache, Aber meine Augen sind wie die toten Tauben, sie kehren nie mehr zurück in ihre Nesthöhlung, sagte der Muezzin.

Raimundo Silva trat herein, grüßte, ohne sich nach den Gästen umzuschauen, und setzte sich an einen Tisch hinter der Vitrine, in der die üblichen verführerischen Zuckerwerke prangten, die Sahnebaisers, Nussröllchen, gefüllten Hörnchen, Sandkuchen, Reistörtchen, Plundertaschen und, unabkömmlich, die Croissants, in der Form, die ihnen den französischen Namen verlieh, Halbmond, zunehmender Mond, hernach, beim ersten Biss, ein abnehmender, schwindender also, bis dann auf dem Teller nur noch Krümel, winzige himmlische Körper, die Allahs riesiger Finger, der angefeuchtete, zum Munde führen wird, dann nur noch entsetzliche kosmische Leere da, sofern miteinander verträglich das Sein und das Nichts. Der kellnernde Angestellte, der nicht der Besitzer ist, beim Abwasch einiger Gläser, unterbricht sein Tun, bringt dem Korrektor den bestellten Kaffee, er kennt den Gast, obwohl der nicht alle Tage, sondern nur hin und wieder kommt, dabei es stets den Anschein hat, er wolle nur eben eine gelegentliche Zwischenzeit ausfüllen, diesmal scheint er sich müßiger niedergelassen zu haben, einer Papiertüte entnimmt er einen Packen loser Blätter, der Kellner sucht ein freies Fleckchen, um die Tasse und das Glas Wasser abzusetzen, er legt das Zuckertütchen auf die Untertasse, und bevor er sich zurückzieht, wiederholt er, was er schon den ganzen Vormittag gesagt hat, dass Kälte herrscht, Glücklicherweise kein Nebel heute, der Korrektor lächelt, als hätte er gerade eine erfreuliche Nachricht vernommen, Das ist wahr, glücklicherweise kein Nebel heute, doch die dicke Frau vom Tisch nebenan, die ihrem Blätterteigkuchen mit einem Milchkaffee Begleitung gibt, verkündet, dass, laut Wetterbericht, sie sagt fälschlicherweise metrologischer Bericht, gegen Abend voraussichtlich wieder Nebel aufziehen wird, wer würde das für möglich halten, bei so klarem Himmel jetzt, so strahlender Sonne, eine poetisch verschönernde Feststellung, die die Frau nicht macht, die hier aber, da so unumgänglich, festgehalten wird, Das Wetter ist, wie das gütige Geschick, unbeständig, bemerkte der Korrektor und war sich der Dämlichkeit des Satzes bewusst. Der Kellner erwiderte nichts, auch die Frau nicht, das ist noch am klügsten im Falle letztgültiger Sinnsprüche, hören und schweigen, darauf harren, dass die Zeit sie zerbirst, die sie indes nicht selten weiter verfestigt, wie die Sprüche der Griechen und der Römer, doch auch die am Ende dem Vergessen anheim, wenn die Zeit in Gänze abgelaufen sein wird. Der Kellner kehrte zum Gläserabwasch zurück, die Frau wandte sich den Resten des Blättergebäcks zu, bald wird sie, heimlich, da es ja von schlechter Erziehung zeugt, aber unwiderstehlich ist, mit dem benetzten Zeigefinger die Krümel auflesen, doch wird es ihr nicht gelingen, sie, einen um den anderen, allesamt einzusammeln, weil Blätterteigbruchstückchen, das wissen wir aus Erfahrung, kosmischem Staub vergleichbar, myriadenhaft viele sind, uneinholbare winzige Tröpfchen eines unendlichen Nebels. In dieser Milchbar befände sich ebenso ein junger Mann, würde er nicht im Kriege gefallen sein, und was den Muezzin betrifft, wollen wir uns nur erinnern, dass wir im Begriff waren zu erfahren, wie er endete, in barmherzigem Schrecken, als Kreuzritter Osberno sich auf ihn stürzte, jedoch ein anderer, das Schwert schwingend, dabei frisches Blut floss, dass Allah sich erbarmen möge seiner Kreaturen, der gleichwohl unglücklichen.

Beim Kaffeetrinken suchte Raimundo Silva die ihn zur Geschichte der Belagerung von Lissabon interessierenden Korrekturbögen hervor, nicht die Ansprache des Königs, nicht die Kampfepisoden, keinesfalls scherte ihn die Frage, ob fundas baleares oder baláricas, und nun will er auch nichts wissen von Einnahme und Plünderung. Schon hat er gefunden, was er suchte, vier Blätter, die er von den anderen trennt und aufmerksam durchliest, dabei er mit einem gelben Leuchtstift über die wichtigsten Stellen fährt. Die dicke Frau verfolgt achtungsvoll argwöhnisch die ihr rätselhafte Operation, dann, unvorhergesehen, und viel weniger noch verstehbar aus einer unmittelbaren Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, zwischen einer fremden Handlung und einem eigenen Gedanken, sammelt sie die Krümel hastig zu einem Häufchen, und mit den Kuppen der vereinten fünf Finger nimmt sie diese auf, presst sie zusammen, führt sie in den Mund, saugt sie wollüstig ein. Von dem Geräusch gestört, schaute Raimundo Silva scheel hinüber, etwas strafend, wahrlich, so sein Gedanke, die Menschheit neigt beständig zu Rückfällen, wenn Dom Afonso Henriques gefräßig derb mit den Fingern isst, mag das noch angehen, es war dies zu seiner Zeit Sitte, wiewohl schon damals einige Neuerungen erkennbar, etwa dass einer den Fleischhappen auf Messers Spitze gespießt zum Munde führte, nun fehlt nur noch, dass einer die einleuchtende Idee hat, der Klinge vornan Zähne zu geben, eine längst fällige Erfindung, reichte doch ein Blick der unaufmerksamen Erfinder auf die grob aus Holz gefertigten Forken, mit denen die Bauersleute das gemähte Korn und die Gerste zusammenbringen und dann hoch- und hinaufschwingen auf die Wagen, hinlänglich hat die Erfahrung bewiesen, dass in Kunst und Leben es nicht weit bringt, wer sich von den Bequemlichkeiten des Hofes gefangen nehmen lässt. Für diese Frau in der Milchbar indes gibt es keine Entschuldigung, haben ihr doch die Eltern unter Mühen Tischmanieren beigebracht, sie aber wird rückfällig, vielleicht hat sie zu viel von jenen derben Zeiten in sich, als Mauren und Christen einander in ihren Sitten glichen, eine übrigens sehr umstrittene These, behaupten doch manche, und wollen es beweisen, dass Mohammeds Gefolgsleute zivilisatorisch höher standen, und dass die anderen, vollendete Kaffer und selig in ihrer Ungeschliffenheit, in guten Manieren nur erst Pickelknaben waren, doch alles wird sich ändern, wenn erst der eifervolle Kult um Maria ihre Seelen erfasst, so gewaltig erfasst, dass sie deren Göttlichen Sohn vernachlässigen, nicht zu reden von der schimpflich geringen Aufmerksamkeit, die der Ewige Vater im tagtäglichen Umgang erfährt. Und so wird denn offenbar, auf welche Weise man, ganz natürlich, ohne Anstrengung, durch ein sanftes Gleiten von Gegenstand zu Gegenstand, aufsteigt vom Blätterteiggebäck, das eine Frau in der Milchbar A Graciosa verspeiste, zu Jenem, der Speisung nicht benötigt, uns jedoch, ironischerweise, tausend Begierden und Bedürfnisse einpflanzte.

Raimundo Silva steckt die Korrekturen dieser Geschichte der Belagerung von Lissabon in die Papiertüte zurück, mit Ausnahme der vier abgesonderten Blätter, die er zusammenfaltet und sorgsam in eine Innentasche seiner Jacke verstaut, hierauf begibt er sich zur Theke, wo der Kellner einem jungen Mann gerade einen Becher Milch und ein Stück Sandkuchen vorsetzt, einem jungen Mann mit der Miene eines Arbeitssuchenden und dem gefassten Ausdruck dessen, der voraussieht, dass dies für ihn das üppigste Mahl des Tages gewesen sein wird. Der Korrektor ist ein recht guter und feinfühliger Beobachter, mit einem einzigen Blick vermag er eine so umfassende Information aufzunehmen, wir dürfen sogar vermuten, dass er eines Tages im Spiegel seines Heims derlei Augen gewahrte, die eigenen, dies zu sagen erübrigte sich wohl, weshalb es denn auch nicht lohnt, ihn danach zu fragen, uns interessiert an ihm vor allem die Gegenwart, und wenn von der Vergangenheit irgendeine Erinnerung, dann viel weniger von der seinen als von der Vergangenheit allgemein, und zwar der vom dreisten Wort abgewandelte Teil. Nun wollen wir sehen, wohin es uns führt, zweifellos, und in erster Linie, zu Raimundo Silva, denn das Wort, ein beliebiges, es hat die Fertigkeit oder Tugend, stets zu dem zu führen, der es ausspricht, und dann, vielleicht, vielleicht, zu uns, die wir ihm wie ein Hühnerhund hinterherspüren, dies hier freilich eine voreilige Betrachtung, hat doch die Belagerung noch gar nicht begonnen, die in die Milchbar tretenden Mauren heben im Chor zu singen an, Wir werden siegen, wir werden siegen, mit den Waffen, die wir in den Händen tragen, mag sein, doch auch da muss Mohammed nach bestem Vermögen mithelfen, denn Waffen sehen wir keine, und das Arsenal, sofern Volkes Stimme wahrhaftig die Stimme Allahs, ist nicht reich bestückt, nicht im Maße des Erforderlichen. Raimundo Silva sagt zum Kellner, Verwahren Sie mir dieses Päckchen, ich hole es noch vor Geschäftsschluss, versteht sich, dass damit die Milchbar gemeint ist, und der Kellner steckt die Tüte zwischen zwei Gläser mit Bonbons, da hinter ihm, Hier rührt niemand dran, sagt er, und kam nicht auf den Gedanken zu fragen, warum Raimundo Silva die Tüte nicht nach Hause trägt, da er doch so nahe wohnt in der Rua do Milagre de Santo António, gleich um die Ecke, nun, die Kellner, entgegen landläufiger Meinung, sind diskrete Menschen, mit Engelsgeduld gegenüber den Gerüchten, Tag um Tag, das ganze Leben, und die Eintönigkeit ermüdet sie längst, freilich aber, von Berufs wegen zur Höflichkeit verpflichtet, und auch um den Kunden nicht zu verstimmen, dem er ja das tägliche Brot verdankt, tun sie sehr interessiert und aufmerksam, in Wahrheit sind sie gedanklich stets bei anderen Dingen, diesen Mann, zum Beispiel, würde es herzlich wenig scheren, wenn der Korrektor ihm zur Antwort gäbe, Ich befürchte, das Telefon könnte klingeln. Der junge Mann hat das Stück Sandkuchen verspeist, nun spült er sich mit der Milch insgeheim die zwischen den Zähnen und am Gaumen klebenden Speisereste fort, den Vorteil nutze man gewinnlich, lehrten unsere guten Altvorderen, doch sie machte so vollkommene Weisheit nicht reich, auch war, sofern wir wissen, nicht dies die Quelle der alsdann betrauerten Güter von Taufpatin Benvinda, Gott verzeih ihr, falls er es vermag.

Recht tut der Kellner der Milchbar, dass er dem Gerede sein Ohr nicht leiht. Zu gut weiß man im Falle ernster internationaler Spannungen, dass von den Wirtschaftsbranchen als erste der Tourismus nervös und mit Rückgang reagiert. Nun, wäre die Situation in dieser Stadt, in Lissabon, wirklich so, dass ihr Belagerung und Erstürmung unmittelbar bevorstünden, blieben diese Touristen da fort, es sind die ersten am Vormittag, zwei Autobusse voll, in dem einen Japaner, Brillen und Fotoapparate, in dem anderen Anoraks und Hosen von amerikanischen Farben. Sie scharen sich nun hinter den Dolmetschern, und Seite an Seite, in zwei getrennten Kolonnen, nehmen sie den Hang in Angriff, sie werden in die Rua do Chão da Feira tauchen, den Zugang zur Burg, mit der Nische des heiligen Georg, sie werden den Heiligen bewundern, und den schrecklichen Drachen von lächerlich kleinen Maßen, dies in den Augen der Japaner, die weitaus erstaunlichere Bestien dieser Art gewohnt sind. Dagegen man den Amerikanern nachgerade vom Gesicht das beschämende Eingeständnis ablesen wird, dass ein den Jungstier mit dem Lasso einfangender Cowboy des Westens doch eigentlich eine erbärmliche Figur abgibt verglichen mit dem silberbepanzerten Ritter da, dem in allen Kämpfen unbesiegten, wiewohl nun aber Verdacht aufkommt, dass er neue Gefechte meidet, vom einst errungenen guten Ruf zehrt. Schon sind die Touristen um die Ecke und verschwunden, die Straße ist mit einem Mal friedlich still, am liebsten schriebe man, sie döst vor sich hin, wenn das nicht zwingend den Eindruck von geistiger und körperlicher Schlaffheit zur heißen Sommerszeit erweckte, so im Widerspruch zum kalten Vormittag heute, auch wenn der Ort ruhig ist und die Menschen leise. Von hier aus kann man den Fluss sehen, hinweg über die Schartenzeilen der wegen der Hanglage fast verdeckten Kathedrale, deren Türme wie ein Gesteck aus lauter Stöckchen anmuten, und auf dem Fluss, so spürt man, trotz der beachtlichen Entfernung, herrscht heitere Stille, man errät sogar den drängenden Flug der Möwen über den schillernden wogenden Wassern. Ankerten dort hinten wirklich fünf Kreuzfahrerschiffe, sie hätten die reglos daliegende Stadt sicherlich schon unter Beschuss genommen, solches wird nicht geschehen können, wissen wir doch, dass den Mauren von jener Seite her Gefahr nicht droht, nachdem gesagt, und aus dem Gesagten ein Geschriebenes wurde, damit es bezeuge und Kunde gebe, dass die Portugiesen dieses Mal nicht mit der Hilfe derer rechnen können, die hier nur landeten, um Wasservorrat zu nehmen, und zur Erholung von den Strapazen der Fahrt und den Peinigungen durch die Stürme, ehe sie weiterführen, den Händen der Ungläubigen nicht eben eine so gemeine Stadt zu entreißen wie diese, sondern den kostbaren Boden, der des Herrgotts Gewicht einst spürte und der, an irgendeinem Ort, den kein anderer je wieder betrat, einem von Regen und Wind unberührten, die göttlichen Spuren seiner nackten Fußsohlen bewahrt.

Raimundo Silva bog in die Rua do Milagre de Santo António ein, und als er an seinem Haus vorbeikam, wollte ihm für einen Augenblick lang scheinen, vielleicht weil er halb bewusst auf die Laute ringsum achtete, dass ein Telefon klingelte. Es wird meines sein, dachte er, doch es war sehr nahe gewesen, vielleicht beim Barbier auf der anderen Straßenseite, da fällt ihm noch eine weitere Möglichkeit ein, wie unvorsichtig von ihm, wie ausgemacht töricht zu glauben, Costa würde zwangsläufig das Telefon benutzen, Wer weiß, vielleicht kommt er da grad eben, und die Phantasie, dienstbar, malte ihm sogleich das Bild, Costa mit Auto braust zornentbrannt die Rua do Limoeiro herauf, noch hallt das Reifenkreischen von der Kurve an der Kathedrale durch die Lüfte, falls Raimundo nicht auf der Stelle die Flucht ergreift, taucht Costa hier auf mit fauchendem Motor, heftig bremsend vor der Eingangstür, und außer Atem ruft er, Einsteigen, steigen Sie ein, wir haben etliches zu bereden, nein, nicht hier, hier nicht, Costa ist trotz allem wohlerzogen, er bringt es nicht über sich, ihm auf der Straße eine Szene zu machen. Den Korrektor hält es nicht mehr, er hastet die Escadinhas de São Crispim hinab, und erst hinter der Krümmung, Costas bang suchendem Blick verborgen, hält er ein. Er setzt sich auf eine der Stufen dieser langen Stiege, um sich vom Schrecken zu erholen, verscheucht einen Köter, der sich mit vorgereckter Schnauze witternd näherte, aus der Tasche zieht er die dem Paket entnommenen Blätter, faltet sie auseinander, glättet sie auf den Knien.

In seinem Erker, beim Anblick der wie Stufen bis zum Fluss hinabsteigenden Dächer, hatte er den Einfall gehabt, den Verlauf der maurischen Mauer abzuschreiten, folgend den ehrlich eingestanden kargen und bezweifelbaren Angaben des Historikers. Eben hier aber, vor seinen Augen, hat Raimundo Silva ein Stück Mauer, und falls es nicht die ursprüngliche, echte ist, so doch eine Mauer an haargenau dem Fleck, längs der Stiege abwärts, unterhalb einer Reihe breiter, von hohen Giebeln überspannter Fenster. Raimundo Silva befindet sich folglich außerhalb der Stadt, er gehört zur belagernden Armee, fehlte nur, es täte sich eines dieser Riesenfenster jetzt auf, ein Maurenmädchen erschiene und stimmte einen Gesang an, Lissabon, hab acht, ist wohlbewacht, Christ, der sie erkoren, ist selbst verloren, und als sie dies gesungen, schlug sie das Fenster zu, ein Zeichen der Verachtung, doch da schob sich, falls den Korrektor das Auge nicht täuschte, der Musselinvorhang sacht zur Seite, und schon diese einfache Geste hob die in den Worten enthaltene Drohung auf, sofern wir sie wortwörtlich nehmen, denn sehr wohl konnte es sein, dass Lissabon, dem Anschein entgegen, nicht Stadt war, sondern Weib, und das Verloren würde nur mehr ein verliebtes sein, falls das einschränkende Adverb hierhin passt, falls ein solches Verloren nicht das einzige glückhafte ist. Wieder näherte sich der Köter, diesmal mustert Raimundo Silva ihn argwöhnisch, wer weiß, vielleicht hat er die Tollwut, einmal, er erinnert sich nicht mehr recht wo, las er, ein Anzeichen für jenes schreckliche Übel sei der gesenkte Schwanz, und dieser da hängt recht schlaff, doch das mag von der schlechten Kost herrühren, bei dem Tier kann man ja die Rippen zählen, und ein Anzeichen, ein allerdings bestimmendes, ist auch der unheilvolle Geifer, der dem Tier von den Lefzen und Reißzähnen trieft, nun, wenn diesem Köter der Speichel rinnt, so sicherlich angeregt durch den Duft der hier entlang der Escadinhas de São Crispim in Vorbereitung befindlichen Garspeisen. Der Hund, beruhigen wir uns, hat nicht die Tollwut, wäre dies zu Zeiten der Mauren, dann vielleicht, nicht aber jetzt, in einer Stadt wie dieser, in einer modernen, hygienisch sauberen, organisierten, überhaupt merkwürdig solch Exemplar an streunendem Hund, wahrscheinlich entging er dem Häschernetz nur, weil er bevorzugt diesen abseitigen steilen Weg nutzt, der einen flinken Fuß und eine jugendliche Lunge erfordert, was bei den Hundefängern nicht unbedingt in eins geht.

Raimundo Silva befragt die Papiere, verfolgt im Geiste den Weg, das Tier insgeheim im Auge, und da fällt ihm jene Stelle ein, wo der Historiker über die nach monatelanger Belagerung unter den Eingeschlossenen aufgetretene schreckliche Hungersnot schreibt, kein Hund und keine Katze habe überlebt, sogar die Ratten seien verschwunden, nun, falls das stimmte, hatte jener recht, der da sagte, ein Hund habe gebellt, an jenem friedvollen Morgen, als der Muezzin das Minarett bestieg, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen. Im Irrtum sein mochte hingegen, wer behauptete, die Mauren ertrügen den Anblick des Hundes nicht, weil der für sie ein unreines Tier. Nun, räumen wir ein, dass sie ihn aus dem Hause verbannten und ihm Liebkosung und Fressnapf verwehrten, nimmer aber war er aus dem geräumigen Islam ausgeschlossen, denn, wahrhaftig, wenn wir so sehr imstande sind zu einem friedvollen Eins mit unseren eigenen Unreinheiten, warum da so heftig fremde Unreinheiten von uns weisen, in diesem Falle von hündischer Natur, und also weitaus unschuldiger als jene andere der Menschen, die so schlechten Gebrauch machen vom Namen Hund, ihn, sei es zu Recht oder zu Unrecht, ihren Gegnern ins Gesicht rufen, die Christen den Mauren, die Mauren den Christen, und sie alle den Juden. Reden wir nur von denen, die wir am besten kennen, von den da ankommenden portugiesischen Adligen, ihre ganze Sorge und Hingabe gilt ihren Doggen und sonstigen scharfen Hunden, in einem Maße, dass sie sich am liebsten mit ihnen betten möchten, so gern wie mit ihren Konkubinen, oder noch lieber, aber sieh an, für ihren ärgsten Feind haben sie kein übleres Schimpfwort bereit als eben Hund, und es scheint, keine Beleidigung trifft härter, als Sohn einer Hündin genannt zu werden, all das aus willfähriger Entscheidung der Menschen, sie zeugen die Wörter, den Tieren indes, den ärmsten, ist solcherlei Grammatik fremd, sie wohnen dem Streit bei, Hund du, sagt der Maure, Hund ei du, antwortet der Christ, und da bekriegen sie sich mit Lanze, Schwert und Degen, während die Köter einander versichern, Die Hunde, das sind wir, und es schert sie nicht.

Nun schon in Kenntnis über den einzuschlagenden Weg, erhebt sich Raimundo Silva, er klopft den Staub von der Hose und beginnt den Abstieg. Der Hund folgt ihm, aber in gehörigem Abstand, alterfahren in Steinwürfen, schon wenn der Mensch sich bückt, vermeintlich nach einem Stein, erschrickt er. Am Fuße der Stiege angelangt, zögerte er, so als überlegte er, Folge ich ihm, folge ich ihm nicht, dann war es entschieden, er trottete dem Korrektor hinterdrein, der nun die Calçada do Correio Velho hinabschreitet. Hier, oder ein bisschen weiter drin, in gerader Fortführung des Abschnittes von São Crispim, führte die Mauer, rechts, vermutet man, stracks hinunter bis zum berühmten Eisernen Tor, andere sagen Eisentor, von dem heute nicht Rest noch Spur mehr vorhanden sind, außer wir rissen dieses moderne Pflaster vom Largo de Santo António da Sé auf und grüben tief, dann vielleicht würden wir auf eine Grundmauer jener Zeit stoßen, auf irgendwelche Rostschuppen vormaliger Waffen, auf Grabgeruch, auf zwei ineinander versunkene Skelette von Kriegern, nicht von Liebenden, die im selben Augenblick Hund schrien und im selben Augenblick einander umbrachten. Autos fahren aufwärts und abwärts, in der Kurve bei der Magdalenenkirche kreischen Straßenbahnen, die der Linie achtundzwanzig, der von den Filmleuten so geschätzten, und weiter hinten, an der Kathedrale einbiegend, fährt noch ein Autobus voller Touristen, wohl Franzosen, die sich in Spanien wähnen. Der Hund zögert nun, die ihm nächste und vertraute Welt ist die der oben gelegenen Gassen, und obwohl er sieht, dass der Mann zurückschaut, indessen er die Rua da Padaria hinabschreitet, entlang dessen, was vor Jahrhunderten Mauerfläche gewesen sein mag, die bis zur Rua dos Bacalhoeiros ging, wagt er sich nicht weiter vor, vielleicht wächst die Angst nun ins Unermessliche, in Erinnerung an einstiges Erschrecken, verbrühte Katze scheut selbst das kalte Wasser, der Hund ebenso. Er macht kehrt, läuft den Weg zurück, hin zu den Escadinhas de São Crispim, den nächsten Menschen zu erwarten, der da kommen mag.

Der Korrektor schaut wieder in den Blättern nach, er tritt durch den Arco Escuro, um jene Treppe in Augenschein zu nehmen, die, laut Versicherung des Historikers, eine von jenen war, die Zugang hinauf zu den Zinnen der Ringmauer gaben, vielmehr, sie befindet sich vermutlich an der Stelle der ursprünglichen, die Stufen der jetzigen wurden bestenfalls von zwei oder drei Generationen genutzt. Raimundo Silva betrachtet in Muße die dunklen Fenster, die von Salpeter zerfressenen, grindigen Fassaden und die Vermerke auf den Wandfliesen, hier ein Fliesengemälde mit dem Datum siebzehnhundertvierundsechzig und einer heiligen Anna darauf, die ihrer Tochter Maria das Lesen beibringt, und in seitlichen Medaillons, als Gehilfen, der heilige Martial, der vor Feuersbrunst schützt, und der heilige Antonius von Padua, der zerbrochene Krüge wieder ganz macht und abhandengekommene Gegenstände zum Vorschein bringt. Der Vermerk dient, da echte Beurkundung fehlt, als annähernder Beleg, sofern das aufgeführte Datum, sehr zu vermuten, das Jahr angibt, in dem dieses Gebäude errichtet wurde, und das war neun Jahre nach dem Erdbeben. Der Korrektor hatte sein Kapital an Kenntnissen geschätzt, und er findet es nun desto reicher, weshalb er, in die Rua dos Bacalhoeiros zurückkehrend, verächtlich herabschauen wird auf die Passanten und Ignoranten, die keine Ahnung haben von diesen Sehenswürdigkeiten der Stadt und des Lebens, ja außerstande sind, zwei einhellige Tatsachen einander nahe zu bringen. Kurz darauf aber, zum Arco das Portas do Mar gelangt und im Gefühl, dass dieser Name architektonisch eine andere Übersetzung verdiente, nicht ein Schild nach prosaischer Zollbeamtenart, in diesem Augenblick, sinnierend über die Abweichungen zwischen Wort und Bedeutetem, unterzog er sich selbst der Betrachtung, mit gestrengem Urteil, Was befugt denn mich, über die anderen zu richten, seit meiner Geburt lebe ich in Lissabon und hatte dennoch nie den Gedanken, mir mit eigenen Augen Dinge anzuschauen, von denen in Büchern geschrieben steht, Dinge, die ich bisweilen sah und wieder sah, aber nicht wahrnahm, fast so blind wie der Muezzin, und wäre nicht die Bedrohung durch Costa, ich hätte wahrscheinlich nie den Entschluss gefasst, mir den Verlauf der Ringmauer in Natur anzuschauen, und die Tore, dies hier, vermute ich, ist schon ein Teilstück der fernandinischen Mauer, wenn erst ans Ende meines Spaziergangs gelangt, werde ich freilich mehr wissen, doch ebenso gewiss ist, dass ich dann weniger weiß, gerade weil ich mehr weiß, anders gesagt, mal sehen, ob ich mich erklären kann, das Bewusstsein, mehr zu wissen, macht mir bewusst, dass ich wenig weiß, im Übrigen drängt es einen zu fragen, was heißt denn wissen, recht hatte der Historiker, ich neige eher zum Philosophen, zu den echten, die sich, einen Totenschädel in der Hand, ihr Leben lang befragen, welche Bedeutung ein Totenschädel im Weltgefüge hat und ob Grund gegeben ist, dass sich das Universum mit diesem Totenschädel befasst oder einer sich Gedanken macht über Universum und Totenkopf, und nun, meine Damen und Herren, Touristen, Reisende oder schlichte Kunstinteressierte, sind wir, so sagt der unentbehrliche Führer, sind wir zum Arco da Conceição gelangt, wo sich der Chafariz da Preguiça, der berühmte Springbrunnen des Müßiggangs, befindet, von köstlichstem Wasser, das vielen Menschen den Durst und den Hunger nach Arbeit stillte, bis auf den heutigen Tag.

Raimundo Silva spürt keine Eile. Gewissenhaft ernst studiert er den Marschweg, zu seinem Bedarf macht er sich minuziöse gedankliche Notizen, gewissermaßen zusätzliche, die Beleg sind für seine eigene Gegenwärtigkeit, da in der Calçada do Correio Velho ein düsteres Bestattungsinstitut, am blauen Himmel schaumige Weiße, von einem Düsenflugzeug, vergleichbar dem langen Kielschweif eines Schnellbootes auf dem Blau des Meeres, die Pension Casa Oliveira, gepflegte Zimmer in der Rua da Padaria, das Restaurant Nimm einen Imbiss Zahl und Geh, gleich neben den Portas do Mar, das Bierlokal Arco da Conceição, neben dem Bogen selbigen Namens, der aufragende Wappenstein der Mascarenhas an der Ecke eines Gebäudes am Arco de Jesus, wo sich ein Tor in der muselmanischen Ringmauer befunden haben mag, die Mauerinschrift belegt es feierlich, das neuklassische Portal des Palastes der Grafen Coculim, die zum Geschlecht der Mascarenhas gehörten, Eisenwarenhandlung, dahin führten Pracht und Herrlichkeit, eine Welt von flüchtigen, vergänglichen Dingen, und das freilich sind sie allesamt, ausnahmslos, denn schon hat sich die Spur des Flugzeugs in nichts aufgelöst, und vom Rest wird die Zeit zu ihrer Zeit Kunde geben, man habe nur Geduld zu warten. Der Korrektor betrat das Alfama-Viertel durch den Arco do Chafariz d’El-Rei, dort wird er zu Mittag essen, in einer Wirtschaft der Rua de São João da Praça, zum Turm des heiligen Peter hin gelegen, ein herzhaft portugiesisches Mahl soll es sein, aus gebratenen Stichlingen, mit Tomatenreis, und, großes Glück hatte er hier, eine Augenweide auf dem Teller die hauchzarten Blätter vom Innern eines Salatkopfs, in denen sich, und das ist wahrlich nicht jedermann bekannt, die unvergleichliche Frische des neuen Tags sammelt, der morgendliche Reif, der Tau, was alles eins ist, hier aber wiederholt wurde, weil schon das Niederschreiben der Wörter Wonne bereitet und das Hersagen erst recht ein Genuss ist. Am Eingang der Wirtschaft stand ein Zigeunermädchen von etwa zwölf Jahren, mit vorgereckter Hand, harrend, wortlos, starrte den Korrektor lediglich an, und dieser, seinen Gedanken nachhängend, sah statt der Zigeunerin eine Maurin, in der Stunde anfänglicher Not, als es noch jemanden gab, den man bitten konnte, und Hunde, Katzen und Ratten sich ihres Lebens sicher wähnten, bis zu ihrem natürlichen Ende, durch Krankheit oder Kampf der Arten, nun, der Fortschritt ist eine Tatsache, heute jagt in Lissabon niemand mehr diese Tierchen zum Verzehr. Doch die Belagerung dauert fort, sagen die Augen der Zigeunerin.

Raimundo Silva wird das ferner noch zu Besichtigende bedächtiger abschreiten, ein weiteres Stück Mauer im Patio do Senhor da Murça, die Rua da Adiça, wo die Mauer hangauf strebt, dann die Norberto de Araújo, in jüngerer Zeit so benannt, oben ein gewaltiges Mauerstück, zerfressen am Fuße, diese Steine sind wahrhaft lebende Zeugen, zugegen seit neun oder zehn Jahrhunderten, wenn nicht länger, seit Barbarenzeit, und sie halten stand, tragen unbekümmert den Glockenturm der Kirche von Santa Luzia oder von São Brás, bleibt sich gleich, an dieser Stelle, ladies and gentlemen, befanden sich vormals die Portas do Sol, dem Sonnenaufgang zugewandt, sie empfingen als Erste den rosigen Hauch des dämmernden Morgens, davon ist heute nur noch der Platz gleichen Namens übrig, und geblieben auch die besonderen Effekte der Morgendämmerung, ein Jahrtausend ist für die Sonne nicht mehr als uns ein kurzer Seufzer, sic transit, das ist klar. Die Mauer setzte sich nach dieser Seite hin fort, in stumpfem, sehr weitem Winkel, gradzu auf die Burgmauer, so schloss sich die Ummantelung der Stadt, vom Wassersaum unten bis zu den Verbindungsstellen an der inneren, kleinen Burg, hohes Haupt und robuste Einfügungen, geschwungene Arme, fest ineinandergelegte Finger, als hielte eine Schwangere ihren fülligen Bauch umfangen. Der Korrektor, müde, steigt die Rua dos Cegos hinan, tritt in den Patio des Dom Fradique, die Zeit öffnet sich in zwei Äste, um diese auf Felsen gewachsene Siedlung nicht zu berühren, so ist das recht eigentlich seit den Goten, oder Römern, oder Phönikiern, später folgten die Mauren, dann die Altvorderen der Portugiesen, dann deren Söhne und Enkel, also wir, und die Macht und der Ruhm, und an Niedergang der Erste, Zweite und Dritte, ein jeglicher noch unterteilt in Arten und Unterarten. Nachts, in diesem Raum zwischen den niederen Häusern, einen sich die drei Gespenster, die des Gewesen, des Hättseinsollen und des Hättgewesenseinkönnen, sie reden nicht, sie schauen einander an wie Blinde und schweigen.

Raimundo setzt sich auf eine steinerne Bank, da im kalten Schatten des Nachmittags, befragt ein letztes Mal die Papiere und stellt fest, dass es weiter nichts zu besichtigen gibt, die Burg an sich kennt er hinlänglich gut, kann sie sich heute ersparen, auch wenn dies der Tag der Bestandsaufnahme ist. Der Himmel nimmt nun Weiße an, vielleicht Vorankündigung des vom Wetterbericht versprochenen Nebels, die Temperatur fällt rasch. Der Korrektor tritt aus dem Hof in die Rua do Chão da Feira, da vorn das Tor des heiligen Georg, selbst von hier aus sieht man Leute den Heiligen fotografieren, immer noch. Keine fünfzig Meter entfernt, allerdings dem Auge verborgen, befindet sich sein Haus, und über diesem Gedanken wird ihm zum ersten Mal hell augenscheinlich bewusst, dass er genau am Fleck des einstigen Alfofa-Tors wohnt, ob innen oder außen, das ist heute nicht mehr feststellbar, anderenfalls wir schon hier erführen, ob Raimundo Silva ein Belagerter oder ein Belagerer ist, ob künftiger Sieger oder unrettbar ein Verlierer.

Unter der Tür fand er kein erzürntes Schreiben von Costa. Es kam die Dunkelheit, das Telefon klingelte nicht. Raimundo Silva verbrachte den Abend mit geruhsamem Suchen in den Regalen, nach Büchern, die ihm vom maurischen Lissabon erzählen könnten. Zu später Stunde trat er in den Erker, schaute nach dem Wetter. Nebel, aber nicht so dicht wie am Abend zuvor. Er hörte zwei Hunde bellen, und dies heiterte ihn noch mehr auf, unerklärlicherweise. Im Abstand von fünf Jahrhunderten bellten die Hunde, die Welt also unverändert. Er begab sich zu Bett. Tüchtig ermüdet vom Tagwerk, schlief er fest, doch wachte er etliche Male auf, sooft er von einem innen leeren Mauerrund träumte, das einem Sack mit schmaler Öffnung ähnelte, und sich verbreiterndem Bauch bis hinab ans Ufer des Flusses, und ringsum baumbestandene Hügel, Buschwerk und Täler, Bäche, Weiler, Gärten, Olivenhaine, ein breiter Wasserfortsatz, der landeinwärts führt, das Haff. Im Hintergrund, klar unterschieden, die Amoreiras-Türme.

Die Geschichte der Belagerung von Lissabon

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