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Nach 30 Minuten wurde Charly durch mehrere laute Rufe und Schreie aus seinem Schlaf gerissen. Er hatte immer noch starke Kopfschmerzen, wobei der brennende Schmerz am Rücken nachgelassen hatte. Er versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Durch den beißenden Benzingeruch und den modrigen Gestank der Sitzpolster registrierte er, dass er sich immer noch im hinteren Bereich des Polizeiwagens befand. Er versuchte neben sich zu blicken, doch er wurde durch das grelle Licht der Sonne so stark geblendet, sodass er mehrmals krampfhaft blinzelte. Erst danach registrierte er, dass der Truppenführer verschwunden war. Die hintere Tür des Bestattungswagens war weit aufgerissen.

Charly hörte wie zwei Männer sich draußen lauthals anbrüllten. Mühevoll kletterte er aus dem Wagen und trat dabei mit seinen weißen löchrigen Turnschuhen auf einen Gegenstand auf dem Boden, der dabei zerbrach. Es handelte sich um die gelbe Sirene vom Dach des Wagens, die in mehrere Glassplitter zerschellt war, deren Splitter sich aber wie durch ein Wunder nicht in sein Fleisch bohrten.

Draußen angekommen, sah er was passiert war. Der Polizeiwagen war mit einem Baum kollidiert und die Motorhaube wurde dabei stark eingedrückt. Die Tür der Beifahrerseite war durch mehrere dicke Äste, an denen Blut klebte, durchbohrt. Charly blickte auf einen besonderen Strauch des kleinen Laubwaldes, der direkt an den Baum gewachsen war, mit dem der Wagen kollidiert war. Dort sah er den Strauch mit rot-orangenen Rosen, die mit spitzen schwarzen Stacheln bestückt waren. Daneben befand sich ein Erdbeerstrauch. Charly erinnerte sich an die helle rötliche Farbe und als er den frischen Erdbeerduft der angrenzenden Erdbeersträucher roch, verspürte ein warmes Kribbeln in seinem Bauch, das ihn an schöne Tage während seiner Kindheit erinnerte.

Als er gerade eine Erdbeere pflückte und diese vernaschen wollte, hörte er einen lauten Schrei. Charly ließ die Erdbeere auf den Boden fallen und ging einige Schritte um den Baum herum.

Der Captain und der junge Truppenführer befanden sich unweit des Baumes. Sie schrien sich bedrohlich und wild gestikulierend an. Der Captain kniete mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden, während der junge Polizist neben ihm stand und ihn permanent anschrie.

»Dass er das Bewusstsein verloren hat, war alleine Ihre schuld! Nur wegen Ihnen sind wir letztendlich von der Straße abgekommen und in dieser verdammten Lichtung gelandet. Um Sie zu schützen, hat er sich dazwischengeworfen und wurde mit dem verschmutzten Messer des Rebellen von letzter Woche verletzt. Sie wussten, dass seine Wunde sich immer mehr infiziert hatte. Deshalb ist er ohnmächtig geworden. Und jetzt wollen Sie, dass ich Ihnen helfe?! Er war mein Onkel und es ist ihre Schuld, dass er tot ist. Und es ist nur gerecht, wenn Sie jetzt auch verbluten!«

Im Hintergrund waren die Rufe von Krähen zu hören, die das Szenario von den Baumwipfeln aus beobachteten. Charly blickte auf eine klaffende Fleischwunde am Bauch des Captains und begab sich zur Fahrertür des Wagens, ohne dass die beiden Männer ihn wahrnahmen. Der Fahrer saß leblos auf dem Sitz des Polizeiwagens. Seine Augen waren weit aufgerissen und seine Hände umschlungen das Lenkrad. Er trug keine Handschuhe. An der Außenfläche der rechten Hand des Mannes bemerkte Charly eine große eitrige Wunde. Charly begab sich zurück zu den anderen beiden Männern und sah wie sich der junge Polizist von dem Captain abgewandt hatte und auf Charly zuging.

»Schön! Sie leben! Wir müssen noch warten bis Captain Epi tot ist und dann werde ich Verstärkung holen«, sagte der junge Truppenführer aufgebracht und leicht hysterisch, während er mit seinen Fingern mehrmals nervös auf ein kleines Funkgerät tippte, das er in seiner linken Hand trug.

»Wieso verbinden wir nicht seine Wunde?«, fragte Charly.

Der Polizist schaute ihn verwundert an.

»Hat man es Ihnen immer noch nicht erklärt? Das ist das Gesetz!«

»Aber er ist doch ein Captain ?!«

»Ja, aber er ist nicht würdig! Nur Personen, die würdig sind, dürfen behandelt werden. Nur Menschen mit einem roten D auf ihrer Brust, so wie ich, sind wirklich würdig«, sagte der junge Mann. Er legte das Funkgerät auf den Boden, zog sich die weiße Lederjacke und das sich darunter befindende weiße Hemd aus. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Markierung auf seiner freigewordenen Brust.

»Wofür steht das D?«, fragte Charly.

»Es stammt, wenn ich mich nicht irre, von dem Wort „dignus“, welches ein altes antikes griechisches Wort ist. Es bedeutet „würdig“«, sagte der Polizist mit fester Überzeugung.

»Und Epi ist nur ein einfacher verkrüppelter geisteskranker Captain. Mehr nicht. Er ist unwürdig behandelt zu werden!«

Charly schaute sich Captain Epi genauer an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Epi unter seiner Uniform keinen rechten Arm mehr hatte. In der Hektik hatte Charly darauf nicht geachtet.

»Und was ist mit mir? Bin ich auch unwürdig?«

»Schauen Sie doch auf ihre Markierung! Sie sind würdig. Zumindest nach der neuesten Gesetzesänderung von gestern, wie Captain Epi mir gerade berichtet hat. Ob sie auch vorgestern schon würdig waren, das weiß ich beim besten Willen nicht. Dafür ändert der Präsident zu oft die Gesetze.«

Der junge Polizist stoppte kurz mit seiner Ausführung, ehe er fortfuhr.

»Da steht ein M! M steht für Mediziner. Das heißt Sie sind Arzt und Sie dürfen den Auserwählten mit den besten Genen helfen, am Leben zu bleiben, damit sich die besten von uns fortpflanzen und irgendwann nur noch die Würdigen auf diesem Planeten existieren. Alle anderen werden früher oder später von der Natur ausselektiert. Und nun ist endlich Epi an der Reihe! Dieser elende unwürdige Wurm!«

Der junge Polizist drehte sich zu Epi und schaute ihn hasserfüllt und mit einem Gefühl der Überlegenheit an.

»Endlich muss die Welt so einen Krüppel wie Sie nicht mehr ertragen! Ach, warum Sieze ich dich überhaupt noch?! Du bist es nicht wert. Der Genpool wird bereinigt, indem du ausscheidest.«

Epi blickte hoch und schaute dem jungen Mann direkt in die Pupillen. Er schwieg und grinste nur während seine giftgrünen Augen aufblitzten.

»Genieß‘ die letzten Sekunden auf dieser Welt mit einem Lächeln. Gleich hast du nichts mehr zu lachen!«, sagte der junge Truppenführer.

Epi, der immer noch hämisch grinste, fing an zu sprechen.

»Weißt du was der Unterschied zwischen mir und deinem toten Onkel dort auf dem Fahrersitz ist? Ich bin klüger und deshalb lebe ich noch, auch wenn ich nicht solche genetischen Werte habe wie du! Und sei mit dem Wort Krüppel ganz vorsichtig. Dein Onkel war schließlich auch ein Unwürdiger! Ich werde jeden Atemzug, der mir hier bleibt genießen und mich daran erfreuen, dass ich noch hier bin, während dein Onkel schon verwest!«

Epi fing, an den jungen Truppenführer auszulachen. Mit der Zeit wechselte sich das Lachen mit einem leichten Stöhnen vor Schmerzen ab. Epi legte sich auf den Rücken und lachte weiter während er die weißen Wolken am Himmeln beobachtete, die in aller Ruhe friedlich über die Waldlichtung hinweg zogen.

Der junge Polizist nahm seinen silbernen Revolver aus der weißen Lederjacke, die auf dem Boden lag und ging auf seinen Captain zu. Er zielte mit der Waffe auf sein Gesicht und drückte den Lauf auf Epis Auge, der für kurze Zeit blinzelte.

»Willst du mich wirklich so schnell erlösen und für mich Munition verschwenden? Denk an die Regeln! Besorg‘ dir doch lieber eine Flügellanze oder ein Messer!«

Der junge Polizist schaute Epi tief in seine provokanten Augen, die immer noch voller Leidenschaft leuchteten.

»Du hast Recht. Ich schau dir lieber beim Sterben zu, anstatt mich verführen zu lassen.«

Der Polizist nahm seinen Arm wieder herunter und begab sich zu Charly.

»Was macht Ihre Wunde am Kopf?», fragte er Charly mit einem erzwungenen Lächeln.

Charly fasste sich an den Hinterkopf und blickte anschließend auf seine Finger. Es war kein frisches Blut mehr zu erkennen. Auch der Rest seiner eitrigen Fingerkuppen blutete nicht mehr und der Schmerz hatte deutlich nachgelassen. Er zeigte dem jungen Polizisten die Hand. Dieser lächelte daraufhin.

In diesem Moment spürte Charly einen starken Luftzug, der an seiner rechten Wange vorbeizog. Charly war sich nicht sicher, ob er einen Schuss gehört hatte. Erst jetzt nahm er auch das Krächzen der Krähen war, die panisch die kleine Lichtung im Wald verließen und in den Himmel schossen. Der junge Truppenführer drehte sich um. In diesem hörte Charly nun definitiv einen weiteren Schuss. Der junge Polizist sank regungslos zu Boden, während Charly etwas Kaltes und Nasses in seinem Gesicht spürte. Mit seinen Fingern fuhr er sich über seine Stirn. Seine Finger waren nun mit Blut verschmiert und Charly blickte auf den leblosen Körper des Truppenführers. Erst in diesem Augenblick sah er wie sich Epi langsam aufgerichtet hatte und mit einem Revolver auf ihn zielte.«

»Willst du leben oder enden wie der kleine dumme Junge hier?«, fragte Epi trocken, während er immer weiter auf Charly zuging.

Charly starrte paralysiert auf den Lauf des Revolvers, der deutlich länger war als die Revolver der anderen Polizisten. Er konnte sich nicht erinnern, ob er jemals mit einer Waffe bedroht wurde.

»Ich frage dich das kein drittes Mal. Willst du leben Doktor Karl Spencer?«

Charly nickte intuitiv.

»Gut! Dann haben wir beide ja etwas gemeinsam«, sagte Epi unter starken Schmerzen, während seine Wunde am Bauch immer stärker blutete.

»Wir beide werden nie darüber reden was jetzt passiert! Hast du gehört?! Das musst du mir versprechen. Ansonsten werde ich dich irgendwann töten müssen. Hast du das verstanden?«

Charly nickte erneut.

»Ja. Ich habe verstanden!«, sagte er leise.

»Du wirst jetzt genau das tun, was ich dir sage. Dann gibt es eine gute Chance, dass wir beide hier heil rauskommen.«

Charly nickte noch einmal, während Epi mit dem Revolver auf die Stelle zwischen Charlys Augen zielte. Er schaute Charly skeptisch an und begann hektisch zu atmen als seine Hand, in der er den Revolver hielt, zu zittern begann. Danach ließ er die Hand sinken und nickte Charly ebenfalls zu.

»Na gut! Folge mir!«

Epi humpelte zu der Tür der Beifahrerseite. Er öffnete die mit Ästen durchbohrte Tür und kramte nach einem Gegenstand unter dem Beifahrersitz. Er zog eine kleine schwarze Box hervor, auf dem ein weißer Totenkopf abgebildet war. Über dem Symbol thronte das Wort „Danger“ in weißen Großbuchstaben. Epi drückte Charly die Box in die Hand. Dieser öffnete vorsichtig den kleinen Kasten und blickte hinein. Dort befand sich ein kleines Notfallset, welches aus Verbandzeug, einer Wundsalbe, einer Schere, Desinfektionsspray und einer kleinen verdreckten Pinzette bestand. Charly schaute Epi ratlos an.

»Du versorgst nun meine Wunde und stoppst die Blutung!«

»Ich weiß nicht, wie das geht. Ich kann das nicht. Ich weiß es doch nicht! Ich bin kein Arzt. Wirklich! Ich weiß es nicht. Was verlangen Sie von mir?«, stotterte Charly aufgeregt vor sich her.

»Doch! Du bist Arzt! Glaub‘ mir, auch wenn dein Beruf zu 90 Prozent aus anderen Aufgaben besteht, weißt du, wie das geht! Du bist Dr. Karl Spencer! Fang an und wir zwei hoffen dann, dass dein Gedächtnis zurückkehrt. Ansonsten sieht es für uns beide düster aus!«

Epi richtete den Revolver erneut auf Charly und legte seinen Finger auf den Abzug. Charly schloss die Augen und ließ vor Schreck den geöffneten Verbandkasten fallen, wodurch sich alle Utensilien auf dem Boden verstreuten. Seine Lippen zitterten.

»Bitte. Nein. Ich kann das nicht!«, jammerte Charly. Seine Stimme wurde immer leiser. Mehrmals wiederholte er diesen Satz, ehe ein weiterer Schuss durch den Wald hallte und Charly laut aufschrie. Als er seine Augen aufriss, sah er wie sich der Captain von ihm entfernt und seine Waffe auf die Leiche des jungen Polizisten gerichtet hatte. Es ertönte ein weiterer Schuss. Die Kugel trat in den rechten Oberschenkel der Leiche ein. Unterhalb dieser Wunde sah Charly trotz seiner verweinten Augen eine weitere Wunde im leblosen Körper des jungen Truppenführers.

»So. Die letzte Kugel trifft dich, wenn du mir jetzt nicht hilfst!«

»Ok«, flüsterte Charly ängstlich.

Epi legte unter sichtbar starken Schmerzen die Waffe auf den Boden und ließ sich behandeln. Als Charly ihm die Uniform abnahm, kam ein rotes Symbol auf seiner linken Brust zum Vorschein. Dieses Symbol war kein eingraviertes rotes D, sondern entpuppte sich als ein eintätowiertes, etwas unförmiges rotes Herz.

»Was soll das?! Also so viel weiß ich selber dann doch noch. Wo das Herz liegt, hab‘ ich nicht vergessen!«, sagte Charly.

»Das soll meinen Gegnern Angst einflößen und mich daran erinnern wie vergänglich das Leben ist. Das Herz symbolisiert den Tod. Wenn es aufhört zu schlagen, ist man verreckt und beginnt zu verwesen. Es spornt mich an, auf mich selber und auf meine Gegner zu achten und so…Ahhhh. Das Tut weh!«, Epi unterbrach seine Rede vor Schmerzen, als Charly damit begann, seine Bauchwunde mit einer Pinzette zu säubern.

»…so alt werden wie du es bist. Das wollte ich sagen. Aua. Doc, ich muss schon sagen, du weißt wie man jemanden quälen kann. Du wärst ein richtig guter Polizist geworden.«

Epi lächelte verkrampft und biss sich auf seine Lippen, die dadurch leicht zu bluten begannen.

Charly entfernte mit der Pinzette die restlichen, von außen kaum sichtbaren, Zweige und Schmutzpartikel aus Epis Bauch. Dieser verzog keine Miene und zog mit seiner Hand eine Zigarette aus seiner Uniform. Danach steckte er sich zunächst die Zigarette in den Mund. Anschließend zückte er ein silbernes Feuerzeug in Form eines Minirevolvers und zündete die Zigarette in seinem Mund an. Das Feuerzeug ließ er auf den Boden fallen.

Danach zückte er aus seiner ausgezogenen Uniform einen kleinen Flachmann, legte die Zigarette auf den Boden und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Als Charly in seine Augen blickte, war er von dem Überlebenswillen des Mannes verblüfft. Seine Augen glühten wie die eines Tigers; wie die eines Tigers in Gefangenschaft, der nur darauf wartete wieder in die Freiheit zu gelangen und zu leben. Charlys Augen folgten dem Verlauf des Zigarettenqualms, der langsam von einer kleinen Brise verweht wurde.

Nach einiger Zeit verlor Epi langsam das Bewusstsein. Charly säuberte die Wunde und nähte sie anschließend routiniert zu. Auch wenn er sich nicht erinnern konnte, war Charly ab diesem Moment der festen Überzeugung so etwas schon einmal gemacht zu haben. Als er den Verband angelegt hatte und die Blutung gestillt schien, stand er auf.

Während Epi immer noch schlief, blickte Charly auf den Revolver, der auf dem Boden lag. Er hob ihn auf, zögerte kurz und richtete ihn dann mit beiden Händen auf Epi. Charlys Hände zitterten. Epi lächelte leicht im Schlaf. Sein Blick wirkte unschuldig.

»Als ob er in seinem Leben noch nie einem anderen Menschen Schaden hinzugefügt hätte«, dachte sich Charly.

Charly fühlte sich unwohl und als er merkte, wie ihm immer schwindeliger wurde, senkte er den Revolver und legte ihn an die Stelle auf dem Boden, wo er sich zuvor befunden hatte. Mit den letzten Kraftreserven schleppte er sich zurück in den umgebauten Bestattungswagen und legte sich an jenen Platz, wo er vor dem Unfall aufgewacht war. Aus der Ferne vernahm er das Geräusch von Sirenen, die sich der Lichtung näherten. Zu müde, um sich zu fürchten, schloss Charly langsam seine Augen und schlief ein.

Hilf und Stirb

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