Читать книгу Hilf und Stirb - Josef Bach - Страница 5
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»Wach auf! Wir sind gleich da!«, sagte eine tiefe männliche Stimme. Charly merkte, wie ihm in die Seite gestoßen wurde. Er öffnete seine Augen. Er saß auf dem Beifahrersitz eines Polizeiwagens und erblickte in der Ferne ein großes weißes Schloss, welches von außen die Kontur eines gigantischen Sarges hatte. Verschwommen sah Charly verschiedene Erhebungen auf den jeweiligen rechteckigen Türmen des Schlosses, die er nicht zuordnen konnte. Er schaute mehrmals blinzelnd neben sich und sah eine kleine Gestalt in schwarzer Uniform, die einen schwarzen Helm trug.
»Geht es dir gut? Du sag mal, hast du beobachtet wie Captain Epi es vollbracht hat, sich selber zu verarzten? Ich meine damit, dass so etwas doch sehr kompliziert sein muss, oder?«
Die Stimme der Person war sehr tief und basslastig. Charly schüttelte den Kopf.
»Ich bin jetzt erst aufgewacht. Und wer ist Epi?«, fragte Charly unschuldig, aber sichtlich nervös.
»Epi ist der Typ, der es wohl geschafft, sich eine tiefe Wunde am Bauch selber zu nähen. Das ist noch niemanden hier gelungen, weil kaum ein Mensch mehr außer den Ärzten über große medizinische Kenntnisse verfügt. Es grenzt schon ein Wunder, wie er das alleine geschafft hat. Das hat er uns zumindest zu Protokoll gegeben, als wir euch vorhin abgeholt haben. Und was ist eigentlich mit Truppenführer Ryan und seinem Onkel passiert? Wir haben zwei gute Polizisten verloren und jeder hier würde gern wissen, was da draußen geschehen ist.«
Die Gestalt mit dem Helm schaute Charly an, während dieser versuchte, den Blick nicht zu erwidern und zu schweigen anfing. Charly fühlte sich beobachtet, auch wenn er nicht wissen konnte, ob die Gestalt unter der Verkleidung ihn wirklich anstarrte. Er drehte sich nach hinten, doch er erblickte keine weitere Person auf der Ladefläche des Wagens. Die beiden waren allein.
»So etwas können meistens nur noch Ärzte. Na gut, zugegeben, auch diese machen das heute so gut wie gar nicht mehr«, sagte die Gestalt. Charly vernahm ein leicht aufgesetztes Lachen, welches unter dem Helm zu hören war.
»Also, du weißt wohl nichts darüber. Hm. Egal. Wenn einer so etwas schafft, dann Epi. Vermutlich war es ja wirklich selber. Er ist ein wahrer Überlebenskünstler«
Der Wagen näherte sich immer näher dem Schloss. Nun war Charly in der Lage die Silhouetten auf den Türmen des Schlosses zu erkennen. Es waren große Holzkreuze, die mit weißer Farbe lackiert und in mindestens sechs Metern Höhe über den Türmen angebracht waren. Je länger er auf die Kreuze blickte, erkannte Charly, dass sich etwas an ihnen befand. Die Gestalt neben ihn drehte ihren Kopf erneut in Charlys Richtung.
»Wenn du belegen könntest, dass Epi die Unwahrheit sagt, dann würde er auch dort landen.«
Erst jetzt verstand Charly, dass Menschen an diese Kreuze genagelt worden waren. Er schwieg, fokussierte seinen Blick auf die Kreuze und versuchte der Gestalt nicht ins Gesicht zu schauen, das sich hinter dem Helm mit dem großen verspiegelten Visier verbergen musste.
»Epi behauptet, dass er Truppenführer Ryan erschießen musste, da dieser versucht hatte, seinem Onkel zu helfen«
Charly schwieg weiterhin und kratzte sich am Hinterkopf. Er schaute auf seine Finger, die allesamt nicht mehr mit Blut verschmiert waren.
Der Polizeiwagen näherte sich immer weiter dem weißen Schloss. Eine riesige geteerte Zugbrücke wurde heruntergelassen. Charly schaute in den Rückspiegel des Polizeiwagens und sah eine große Kolonne von Polizeiwagen mit gelben Sirenen, die ihrem Wagen hinterherfuhren. Der Reihe nach überquerten alle Wagen die Brücke, die über einen sehr tiefen und fünf Meter weiten Graben führte, dessen Boden dank eines großen Nebelschleiers nicht zu erkennen war.
Der Wagen fuhr anschließend durch eine Hauptstraße bis zur höchsten Ebene des Schlosses, welches viele gläserne Wohnungen und Gebäude enthielt. Durch das Fenster sah Charly viele Zivilisten, die durch die Straßen und Gassen flanierten.
Als der Wagen anhielt, stieg die Gestalt mit dem Helm aus dem Wagen. Erst jetzt nahm Charly war, dass die Person, verglichen mit den anderen Polizisten, die er zuvor gesehen hatte, sehr klein war. Sie humpelte zudem leicht und zog ständig ihr rechtes Bein nach, welches ein wenig über den Boden zu schleifen schien.
Charly schaute sich um und atmete durch die inzwischen ganz heruntergekurbelte Fensterscheibe tief ein. Er spürte, dass er diesen Ort zuvor schon einmal gesehen hatte und versuchte eilig aus dem Wagen auszusteigen. Doch es ging nicht. Die Beifahrertür war verriegelt. Charly blickte aus dem Fenster. Plötzlich stand Epi in krummer Haltung vor ihm und grinste Charly zynisch an. Danach verzog er vor Schmerzen leicht das Gesicht, legte seinen Zeigefinger senkrecht auf seine Lippen und zwinkerte Charly zu. Er öffnete die Tür des Polizeiwagens mit einem Schlüssel. Überall um den Wagen herum standen weitere Polizisten.
»Herr Dr. Spencer. Ich hoffe, dass Sie sich bald wieder an alles erinnern können, was Ihnen widerfahren ist. Wir freuen uns sehr, dass es Ihnen gut geht!«, sagte Epi während ein sichtlich älterer Mann um die 70 Jahre mit Halbglatze, grünen Augen und einer schiefen Nase, aber ohne viele Falten im Gesicht, hinter Epi auftauchte. Die meisten seiner Haare waren bereits ergraut, nur wenige verbliebene Härchen ließen darauf schließen, dass er früher einmal rote Haare gehabt hatte.
Die anderen Polizisten salutierten stramm vor dem älteren Mann und begrüßten ihn mit dem ausgestreckten Mittelfinger. Der Präsident grüßte die Polizisten mit derselben Geste zurück.
»Dr. Spencer, ich bedaure es ebenfalls sehr, dass Sie unter einem Gedächtnisverlust leiden und ich hoffe, dass Sie sich bald erinnern und dem Schloss Darwins und unseren Einwohnern hier bald wieder zur Verfügung stehen.«
Charly blickte irritiert auf den Mann. Er spürte, dass er ihn kannte, ihn mehrmals gesehen und schon oft hitzig mit ihm diskutiert hatte. Krampfhaft versuchte Charly sich genauer zu erinnern. Doch die Erinnerungen kehrten nicht zurück.
»Herr Präsident, wenn Sie gestatten würde ich Herrn Dr. Spencer nun gerne die Stadt zeigen, in der Hoffnung, dass er sich bald erinnert«, sagte Epi.
»Sind Sie sicher, dass Sie dazu schon in der Lage sind? Sollte er sich nicht zunächst etwas Frisches anziehen?«, fragte der Präsident.
»Je eher er sich erinnert, desto besser wird es für uns sein. Schließlich ist er im Moment der einzige Arzt in ganz Darwin. Wir brauchen ihn unbedingt. Es kann also nur in Ihrem Interesse liegen, ihm zu helfen. Danach kann er sich immer noch etwas anziehen. Vielleicht kehren ja jetzt schon einige Erinnerungen zurück.«
Epi blickte den Präsidenten ernst an. Dieser nickte ihm billigend zu. In diesem Moment schaute Charly auf einen großen Schornstein innerhalb des Schlosses. Aus ihm stieg schwarzer Rauch auf. Ein paar Sonnenstrahlen kamen zum Vorschein und enthüllten aus der Ferne, dass viele Stellen der weißen Marmorsteine des Schlosses durch den Rauch bereits schwarz gefärbt waren.
Epi bat Charly, mit einer winkenden Gestik aus dem Wagen auszusteigen.
»Herr Spencer, bitte folgen Sie mir.«
Charly stieg zögerlich aus.
»Zeigen Sie mir jetzt meine Wohnung?«
»Gewiss doch. Die zeige ich Ihnen sofort nach dem Schlossrundgang.«
»Dürfte ich mich eventuell kurz ausruhen und mir was anziehen, bevor wir den Rundgang unternehmen? Angeblich bin ich ja ein Arzt und da meine ärztliche Intuition mir sagt, dass ich mich sehr schwindelig fühle, wäre es ratsam, dass ich mich kurz erhole«, sagte Charly trotzig und fasste sich fröstelnd an seinen immer noch nackten Oberkörper.
»Keine Sorge, Herr Spencer, Sie werden noch genug Zeit für die Erholung finden. Ich zeige Ihnen nur kurz das Schloss.«
Die Stimme von Epi wirkte nun bedrohlicher und das Weiße in seinen Augen fing an zu blitzen, wie es zuvor auch im Wald aufblitzte.
Charly schaute sich in dem monströsen Bauwerk um. Es schien kein typisches Schloss zu sein.
Er sah mehrere Zivilisten in grüner verblichener Kleidung, die durch die Gassen und Straßen des Schlosses spazieren gingen. Andere trugen weiße Hemden und schwarze Hosen.
»Wieso tragen einige von ihnen eine ähnliche Kleidung, wie die Leute aus der Stadt?«
»Das ist ganz einfach. Diese sind Leute aus der Stadt. Alles Unwürdige! Und diese tragen nun mal grüne Kleidung.«
Charly ging nicht weiter auf die Äußerung ein und beobachtete was ihm sonst noch innerhalb des Schlosses auffiel.
Es enthielt drei Ebenen und beherbergte eigentlich eine ganze Stadt. Charly befand sich auf der höchsten Ebene des Schlosses. Die Kolonne der Polizeiwagen hatte direkt vor dem Hauptgebäude gehalten, welches sich in einer gläsernen Kuppel befand. In das Glas war das Wort „Dignus“ in Großbuchstaben eingraviert.
»Einverstanden. Zeigen Sie mir das Schloss. Ich möchte was lernen«, sagte Charly leicht widerwillig und rieb mit seinen Händen seinen fröstelnden Oberkörper warm.
»Sehr gut. Das freut mich.«
Epis aufgesetztes Grinsen bereitete Charly Unbehagen. Er fühlte sich noch unwohler als in dem Moment, als er ohne Erinnerungen in der Stadt aufgewacht war.
»Da hat mich wenigstens keiner beobachtet«, dachte sich Charly.
»Wenn ich es mir recht überlege, fühle ich mich doch noch sehr unwohl. Dürfte ich mich nicht doch noch etwas ausruhen?«, sagte Charly nun mit deutlich lauterer Stimme.
Charly nahm die bohrenden Blicke der anderen wahr. Gleichzeitig stieg ihm ein ätzender Geruch in die Nase, als erneut schwarzer Rauch aus dem großen Schornstein auf der untersten Ebene des Schlosses stieg. Der Präsident und die Gestalt mit dem schwarzen Helm, die ihm im Wagen über Epi ausgefragt hatte, verabschiedeten sich kurz von Epi und begaben sich in die gläserne Kuppel.
»Ok. Nun sind wir endlich alleine. Hör auf dich so dumm anzustellen. Du solltest dich mit mir gut stellen. Ansonsten lebst du nicht mehr lange. Verstanden?! Was denkst du mickriger Arzt eigentlich, wer du bist?«
Epi starrte wütend auf Charly, während er sich mit seiner Hand an seine Wunde fasste.
»Du kommst jetzt sofort mit. Ich habe dich in der Hand und wenn du nicht aufpasst, könnte die Situation für dich ganz böse enden.«
Charly nickte wortlos und folgte Epi. Zusammen begaben sie sich zu dem Nordturm des Schlosses, der größer war als alle anderen Türme. Sie bestiegen einen elektrischen gläsernen Fahrstuhl und fuhren bis auf das Dachgeschoss des rechteckigen Turmes hinauf. Das Innere des Fahrstuhls war mit einem großen Spiegel ausgestattet. Geschockt schaute Charly sein Spiegelbild an und fixierte sein faltiges Gesicht sowie seinen verdreckten nackten Körper. Mit seinen Fingern fuhr er sich über seine tiefen Falten, als ob er nicht glauben konnte, dass dieses gealterte Gesicht zu ihm gehörte. Danach drückte er auf den eintätowierten Buchstaben auf seiner Brust.
»Was guckst du denn so dumm? Ja du bist einfach alt! Akzeptier‘ es!«, sagte Epi.
Ein mulmiges Gefühl umgab Charly je höher der Fahrstuhl fuhr. Er konnte sich an kaum etwas erinnern, doch er wusste, dass er in seinem ganzen Leben noch nie solch eine negative Emotion gespürt hatte. Als sich die Fahrstuhltür öffnete, wurde seine Vorahnung immer dunkler.
Auf dem Dach des Turmes war es sehr windig. Die gleißende Sonne brannte in Charlys Augen. Während sein Körper fror, spürte er eine Art innerlichen Angstschweiß. Er fasste sich unter seine Achseln, doch er schwitzte nicht. Als er seinen Kopf zur Seite drehte, sah Charly eines von den großen weißen Kreuzen, welches laut seiner Einschätzung bestimmt sechs Meter hoch über dem Turm hing. Es war an einer Metallhalterung angebracht.
An dieses Kreuz war ein junger schwarzhaariger Mann mit krausem voluminösem Haar und kurzem Bart genagelt. Durch insgesamt acht schwarze Nägel waren seine beiden Füße und beide Hände mit dem Kreuz verbunden. Charly stellte sich unter das Kreuz und schaute auf den Mann, dessen malträtierter Körper leblos wirkte. Erst bei näherem Hinsehen, nahm Charly war, dass die Brust des Mannes, auf der ein rotes D eingraviert war, sich noch langsam wölbte und der Mann noch atmete.
»Schau ihn dir genau an! Kennst du dieses Gesicht? Für ihn haben wir extra acht und nicht nur vier Nägel verwendet. Das ist unser Komfortservice.«
Charlys Miene verfinsterte sich. Er wurde blass.
»Von der ersten Sekunde an wusste ich, dass ich dieses Gesicht kannte. Schon im Aufzug habe ich gespürt, dass die Person, die du mir zeigen würdest, mir niemals unbekannt ist. Ich spüre etwas Vertrautes. Sag mir wer da ist!«, befahl Charly mit ernstem Ton. Epi blickte Charly zornig an.
»Wie kannst du es wagen, mir einen Befehl zu erteilen? Mach‘ das noch einmal und du wirst es bereuen!«
»Wieso bin ich hier?! Was willst du mir mit dieser Aktion sagen?!«, schrie Charly Epi an.
»Du bist hier, um zu sehen, was mit dir passiert, wenn du mich verarschst!«
»Ich kenne diese Person! Wer ist das?«
»Nur ein weiterer Todgeweihter.«
Charly blickte auf den erschlafften, müden Körper des jungen Mannes. Danach ging er wütend auf Epi zu und baute sich mit seinen verbliebenen Kraftreserven vor ihm auf. Er erhob seine Hand und griff mit ihr in Epis Richtung.
Der junge Mann am Kreuz öffnete seine Augen und starrte auf Charly.
»Vater? Bist du es?«, sprach er mit zittriger Stimme.
Charly blickte auf den jungen Mann. Er erkannte ihn nicht wieder. Charly zögerte. Dann schaute er Epi an.
»Ist das wirklich mein Sohn?«, fragte Charly.
Epi nickte.
»Da befindet sich doch ein rotes D auf seiner Brust. Er ist doch würdig. Warum hängt er dann am Kreuz?«
»Er hat versucht, seinem unwürdigen Sohn und seiner unwürdigen Frau das Leben zu retten. Das ist die Strafe dafür.«
»Ich habe einen Enkelsohn?«
»Nein. Du hattest einen! Außerdem war nicht dein leiblicher Enkel. Er war ein Bastard, den die Frau deines Mannes aus einer anderen Beziehung mit angeschleppt hat. Deshalb war er auch, wie seine Mutter unwürdig, Hilfe zu empfangen. Judas hat ihnen trotzdem geholfen.«
Charly sehnte sich in diesem Augenblick nach einem Schwindelanfall, durch den er sein Leiden vergessen und ausblenden konnte, doch er blieb vollkommen klar. Er blickte auf den Mann am Kreuz, der ihm vertraut, aber dennoch auch fremd war.«
»Wenn du willst, dass ich dich nicht verrate, dann holst du ihn sofort da runter!«
»Das ist nicht so einfach. Dein Sohn hat nämlich AIDS. Dann ist es egal, ob jemand würdig ist oder nicht.«
»Wie lange hängt er da schon?«
»Zwei Tage. An dem Tag, an dem du Hitler umgebracht hast wurde er kurz zuvor hier aufgehängt. Du warst schließlich fast zwei Tage verschollen.«
Charly wirkte sehr besorgt und schaute irritiert hin und her. Danach blickte er tief in die Augen des Mannes am Kreuz.
»Mein Sohn, wie heißt du?«
»Daddy. Mein Name lautet Judas. Wieso weißt du das nicht mehr? Was ist mir dir passiert?«
Charly blickte auf den Mann. Er konnte sich weder an den Namen noch an eine gemeinsame Vergangenheit mit ihm erinnern. Doch er spürte, dass der Mann am Kreuz die Wahrheit gesagt hatte. Langsam sackte Charly zu Boden und schaute in die Augen seines Sohnes. Judas‘ Gesicht war völlig abgemagert, sein Blick war leer. Charly umklammerte mit seinen Händen Epis muskulöse Waden.
»Du musst mir helfen! Hilf meinem Sohn!«
»Das ist fast unmöglich. Sie werden mich dann auch töten. Darauf habe ich eher weniger Bock.«
»Aber es handelt sich um mein Kind.«
»Kinder. Kinder. Ich kann das Wort nicht mehr hören! Ich habe auch keine Kinder. Heutzutage muss man froh sein, wenn man selber lebt. Kinder sind doch nur Ballast. Ich verstehe gar nicht, warum ihr alle so scharf darauf seid, euch fortzupflanzen. Genießt lieber euer eigenes Leben. Das ist doch schon kurz genug.«
»Ich verstehe nicht, wie man in solch einer grausamen Welt leben möchte. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Mutter mir vorgelebt hat, dass Kinder der wichtigste Grund zum Leben sind und dass man einander helfen muss«, beklagte sich Charly während, seine Finger sich immer fester in die Epis Waden bohrten, bis dieser ihn mit einem Tritt von sich stieß.
»Du bist alt. Die Welt hat sich geändert. Akzeptier‘ es endlich!«
Epi nahm Charlys Hand und drückte sie mit voller Kraft vor Charlys Gesicht, so dass dieser seine alte, faltige und schlaffe Haut mit dutzenden hervorstehenden Adern begutachtete. Charlys Blick versprühte Angst und Demut.
»Rette meinen Sohn! Ich weiß nicht mal, ob er mein einziger ist. Aber auch wenn ich weitere Kinder hätte, du musst ihn retten!«
»Warum? Er wäre der Schwächste von allen. Die Natur hat ihn sich ausgesucht. Dein Sohn hat AIDS. Leb‘ damit!«
»Wieso ist diese Welt so kalt und herzlos?!«
»Ich weiß es nicht. Das ist die Welt, in der ich groß geworden bin. Ich finde sie gar nicht einmal so brutal wie viele sagen.«
Charly wurde sichtlich nervös. Er ging auf das Kreuz zu und sprang in die Luft. Mit seinen Armen streckte er sich nach den Beinen von Judas.
»Wenn du das hier weiterhin probieren und seine Beine berühren solltest, dann muss ich und ja dann werde ich auch berichten, dass du mit dem AIDS-Virus infiziert bist. Da wird dich auch dein Ärztestatus nicht lange retten. Dann gibt es halt wieder eine Gesetzesänderung und der letzte Arzt stirbt. Da ist Präsident Schwarzenegger sehr flexibel.«
Charly fixierte Epis Pupillen, griff reflexartig dessen Schulter und sprach mit einem drohenden Tonfall sehr langsam und deutlich zu ihm.«
»Und wenn du mir nicht hilfst, dann werde ich allen erzählen was in Wirklichkeit in der Waldlichtung passiert ist. Du Krüppel bist unwürdig und ich glaube viele hier wollen deinen Tod. Auch wenn ich nicht viel weiß. Das sagt mir mein alter Instinkt.«
»Ach ja. Tust du das?! Das Spielchen beherrsche ich auch. Wenn du das machst, werden alle erfahren, was mit Hitler passiert ist.«
Charly durchfuhr ein eisiges Schaudern. Apathisch strich er mehrmals durch sein voluminöses Haar. Er fühlte sich ertappt. Er wusste, dass Hitler durch seine Hand gestorben war, auch wenn er sich nicht genau daran erinnern konnte was in Wirklichkeit passiert war und welches seine Motive für diese Tat waren.
»Das mag wohl auch stimmen. Aber im Moment weiß ich nicht einmal, wer Hitler eigentlich war.«
»Er war dein Freund und dein Arbeitskollege. Er sollte nächstes Jahr dein Nachfolger werden, wenn du zu alt bist für diese Welt. Aber du hast ihn umgebracht als Judas ans Kreuz gehängt wurde, weil du seine Amputation durchführen wolltest. Außerdem war er kein kompetenter Arzt. Du warst besser als er. Man könnte sagen, du hast ihn für uns und für deinen Sohn geopfert. Aber ich finde, dass du ihn einfach feige vergiftet hast. Na ja, egal. Die einzigen, die das wussten waren ich und Hitlers Frau Emma.
Die hat daraufhin deine Schwägerin und deinen Enkel vergiftet. Judas wollte sie reanimieren. Zum Glück war er zu spät, sonst hätte man ihn sofort getötet. Emma hat sich daraufhin umgebracht. Diese undankbare, dumme Schlampe hat das Geschenk des Lebens einfach weggeworfen. Naja. Es besteht jedenfalls nun die Möglichkeit, dass Judas deshalb nur der Arm abgehackt wird. Wenn er das überlebt, ohne dass er medizinisch versorgt wird, dann darf er leben. Das ist eines der neueren brillanten Gesetze des Präsidenten.«
Charly blickte auf Judas, der das ganze Gespräch mitbekommen hatte und entsetzt auf seinen Vater schaute. Er wollte etwas sagen, doch er war zu schwach. Stattdessen hustete er die ganze Zeit. Charly, der nicht einmal genau wusste, ob der Mann am Kreuz wirklich sein Sohn war, brach erneut zu Boden und weinte.
»Er muss noch einen Tag durchhalten. Nach vier Tagen enden die Qualen am Kreuz. Aber wenn du denkst er stirbt sowieso, dann habe ich etwas für dich, um seine Qualen zu beenden.«
Epi streckte Charly seinen Revolver entgegen. Charly nahm ihn zögernd an und blickte kurz auf Judas, der bereits wieder eingeschlafen war.
»Ich genieße gerade deinen Blick, alter Mann. Ich weiß, du würdest die Waffe nun allzu gerne gegen mich richten und abdrücken. Aber es würde dir nichts nützen.«
Charly sah sich den langen Lauf des Revolvers genauestens an. Er gab die Waffe an Epi zurück und lächelte den Mann am Kreuz an.
»Es ist egal, ob du wirklich mein Sohn bist oder nicht, aber ich gebe dir hiermit mein Wort, dass du nicht an diesem Kreuz verrecken musst.«
Der junge Mann hatte für einen kleinen Moment seine Augen wieder geöffnet und schaute Charly ungläubig an. Er versuchte zu sprechen. Beim Versuch das nächste Wort auszudrücken hustete er Blut. Er blickte Charly kurz an und spie er erneut einige Bluttropfen herunter. Ein Tropfen landete auf Charlys weißem Haar. Dieser wandte sich zu Epi.
»Erkläre mir die Welt, in der ich mich nun befinde. Warum ist sie so, wie sie ist? Wie funktioniert sie? Wie kann ich ihm morgen helfen?«
»Na gut. Das werde ich tun. Folge mir! Wir gehen in die Bibliothek. Diese enthält auch ein kleines Museum. Vielleicht findest du da deine Antworten.«
Charly schaute ein letztes Mal wehmütig auf Judas, der bereits wieder eingeschlafen war und schwor sich, an diese Stelle zurückzukehren.