Читать книгу Hilf und Stirb - Josef Bach - Страница 6
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Epi führte Charly wieder nach unten. Über mehrere Fahrstühle gelangten sie auf die unterste Ebene des Schlosses. Charly folgte Epi zu einem kahlen kopfsteingepflasterten Platz, auf dem sich lediglich ein einziges, großes weißes Kreuz befand, welches aber von seinem Umfang alle anderen Kreuze im Schloss übertraf. Epi zeigte mit dem Zeigefinger seiner verbliebenen Hand auf den grünen Schriftzug. Es waren sechs Regeln und Gesetze in nummerierter Reihenfolge, die sehr klein und vom Boden aus kaum lesbar waren, auf die breite horizontale Leiste des Kreuzes graviert. Unter dem Kreuz befand sich ein Blatt in einer Vitrine, auf dem die Gesetze in Handschrift als Großbuchstaben verfasst waren.
»Bevor wir in die Bibliothek gehen will ich dir erst das hier zeigen. Siehst du? Das sind unsere Gesetze. Wer sich nicht an das Gesetz hält, der erleidet dasselbe beschissene Schicksal wie dein Sohn. Ich rate dir gut, dir diese Regeln einzuprägen. Die Gesetze beruhen zum Teil auf den Erkenntnissen des Forschers Charles Darwin, der in der Antike gelebt hat. Nach ihm ist auch unsere Stadt benannt. Einige Gesetze ändern sich leider oft, aber diese sechs Grundsätze sind schon sehr stabil.«
Charly rieb sich seine Augen. Dann las sich leicht angestrengt das erste Gebot durch.
1.DIE EVOLUTION IST UNSER RICHTER. AUF DER GANZEN WELT HERRSCHT DIE SELEKTION DER NATUR. NUR DIE STÄRKSTEN ÜBERLEBEN. DIE NATUR WÄHLT AUS, WER LEBEN DARF UND WER STERBEN MUSS. DIE POLIZEI HANDELT IM DIENSTE DER NATUR UND SORGT FÜR DIE KONSEQUENTE EINHALTUNG DER GESETZE.
Charly versuchte von dem Platz aus den Turm mit Judas‘ Kreuz zu sehen, auf dem er sich noch eben befunden hatte. Doch der Turm wurde von einem anderen Schlossturm verdeckt.
So begann Charly hintereinander die anderen Gesetze zu lesen.
2. WER SICH GEGEN DIE NATÜRLICHE SELEKTION RICHTET UND ANDEREN MENSCHEN HILFT ZU LEBEN, IST AN AIDS ERKRANKT UND WIRD GEKREUZIGT. WER NACH VIER TAGEN NOCH LEBT, DEM WIRD DIE RECHTE HELFERHAND ABGEHACKT. SOLLTE DERJENIGE DANACH OHNE FREMDE HILFE WEITERLEBEN SO IST ES IHM GESTATTET WEITER AUF DER WELT ZU EXISTIEREN. WER AN AIDS ERKRANKT IST, WIRD AUTOMATISCH ZU EINER UNWÜRDIGEN PERSON, DEREN RECHT AUF HILFE VERWELKT!
3. MENSCHEN, DEREN LEBEN ERFOLGREICH DURCH ANDERE GERETTET WURDEN, WERDEN UNVERZÜGLICH UMGEBRACHT UND WIE TOTES FLEISCH BEHANDELT.
4. WÜRDIGE MENSCHEN, MIT DEN BESTEN GENEN SOLLEN DEN WAHREN MENSCHEN IN DER EVOLUTION REPRÄSENTIEREN. NUR WÜRDIGE MENSCHEN DÜRFEN SICH FORTPLANZEN UND BIS ZU VIER KINDER ZEUGEN. ALLE ANDEREN DÜRFEN NICHT MEHR ALS EIN KIND AUF DIE WELT BRINGEN. MENSCHEN, DIE IN DER WÖCHENTLICHEN FERNSEHLOTTERIE EINE NIETE ZIEHEN DÜRFEN SICH ÜBERHAUPT NICHT FORTPFLANZEN. DIE ÄRZTE SORGEN DAFÜR, DASS SICH NICHT ZU VIELE UNWÜRDIGE FORTPFLANZEN.
5. DIE EINZIGEN MENSCHEN, DIE HILFE EMPFANGEN DÜRFEN, SIND WÜRDIGE.
6. ALLE MENSCHEN, DIE DAS 60. LEBENSALTER ÜBERSCHRITTEN HABEN, WERDEN HINGERICHTET, ES SEI DENN SIE GEHÖREN ZU DEM RAT DER OBERSTEN.
»Das sind unsere Gesetze. Wie gesagt: diese sechs sind meistens unantastbar und gelten auf der gesamten Welt. Aber unser Präsident neigt dazu, einige manchmal ein wenig nach seinem Vorteil zu biegen. Aber darauf solltest du selber nicht spekulieren«, sprach Epi.
»Was ist AIDS?«, fragte Charly.
»Es ist die Krankheit, die jemanden überfällt und dazu verleitet anderen Menschen zu helfen, die bestimmt sind, zu sterben. Schwache Menschen sterben und haben auf dieser Welt nichts mehr verloren. Der Ausdruck steht für das Hilfe- Syndrom und stammt von einer Sprache ab, die Englisch genannt wurde, wenn ich mich richtig erinnere. In dieser Sprache bedeutete das Wort „aid“ so viel wie „Hilfe“. Und wer anderen hilft und ihnen das unverdiente Leben schenkt und rettet, leidet demnach unter dem „Hilfe“- oder auch AID-Syndrom. Wir hier nennen es nur AIDS. Die englische Sprache war vor langer Zeit einmal die Verkehrssprache auf der Welt. Vor vielen Jahren wurde in unserem Land, hier in Alt- England diese Sprache noch benutzt. Das hat mir zumindest der Präsident erzählt. Mehr weiß ich darüber nicht. Also tu‘ mir bitte einen Gefallen und stell‘ mir bloß keine Fragen mehr. Wenn du Antworten willst, solltest du die Bibliothek aufsuchen.«
»In Ordnung. Bring mich sofort dahin!«
»Das ist gar nicht so einfach. Nur autorisierte Menschen dürfen dorthin. Der Rat der Obersten mag es nicht, wenn zu viele Fragen gestellt werden und dass jeder dort herumschnüffelt.«
»Hast du eine Ahnung wie ich dafür autorisiert werden könnte?«
»Es ist einfach…“, Epi heilt inne und zog an seiner Zigarette „…einfach schwierig, dorthin zu gelangen. Nicht einmal ich durfte sie jemals betreten. Aber du bist Arzt. Vielleicht warst du schon mal da?«
Charly schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht! Kann gut sein. Aber das nützt mir auch nichts. Wie gelange ich nun in die Bibliothek? Ich muss ihm helfen. Vielleicht finde ich dort medizinische Ratschläge oder andere Tipps.«
»Sie befindet sich neben dem Sitz des Rates der Obersten, direkt innerhalb der Kuppel.«
Charly wusste nicht viel mit dem Rat der Obersten anzufangen. Er konnte sich nicht an den Begriff erinnern und dachte viel eher an den Mann am Kreuz und fragte sich, ob dieser tatsächlich sein Sohn war und warum Epi ihn zu seinem Kreuz geführt hatte. Charly schaute zu Epi und wunderte sich, was dieser im Schilde führte. Epi grinste ihn argwöhnisch an und fasste sich leicht nachdenklich an die Stelle an seinem Bauch, an der er verwundet worden war.
»Ich könnte für dich ein gutes Wort einlegen. Schließlich bist du Arzt und musst die Würdigen versorgen. Dafür brauchst du Wissen. Aber wenn ich dir helfen soll, dann musst du auch mir helfen! Epi entledigte sich seiner weißen Lederjacke, zog sein weißes Hemd hoch und zeigte auf den Verband, der mit Blut durchtränkt war. Es tropfte nun auch an seinen Hüften herunter.
»Mist. Anscheinend erinnerst du dich echt noch nicht an genügend medizinische Dinge. Du bist im Moment eher eine Gefahr als eine Hilfe für deine Patienten.«
»Ich werde den Präsidenten selber fragen. Ich brauche deine Hilfe nicht«, sagte Charly schnippisch.
Epi blickte Charly wütend an und ging mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie.
»Dir ist schon klar, dass ich dich kurz vor meinem Tod verraten werde. Dein Schicksal ist mir egal und wenn du mir nicht mehr von Bedeutung bist, dann werde ich dich einfach töten lassen. Ich werde allen sagen, dass du mir geholfen hast. Sie werden dich ans Kreuz nageln, weil du dich mit AIDS angesteckt hast. Auch würdige Ärzte dürfen sich nicht mit AIDS anstecken. Du darfst dir nicht allzu viel erlauben. Noch brauchen wir dich, aber bald wirst du ersetzt und dann kann nur ich dir helfen!
»Dann sterbe ich halt. Hauptsache, du Monster bist dann tot«, sagte Charly mit leerem Blick.
»Wenn wir beide sterben, dann stirbt auch dein Sohn.«
»Ich muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass er verbluten wird, wenn sie ihm einen Arm abhacken. Und wer sagt mir überhaupt, dass er auch in Wahrheit mein Sohn ist und das nicht alles eine riesengroße Finte von dir ist?«
»Das garantiert dir keiner. Wir leben in einer unsicheren Welt. Meine Mutter hat mir eine wichtige Sache für das Leben beigebracht. Die Wahrheit ist nur das was du ertragen kannst. Und deine Wahrheit ist wohl im Moment, dass du denkst du seist ein guter hilfsbereiter Mensch gewesen. So soll es im Moment sein und wir anderen sind alle nur Lügner, Betrüger und Mörder. Das ist das was du ertragen kannst, so ist es deine Wahrheit. Aber wenn du magst, zeige ich dir gerne deine Wohnung. Dort gibt es bestimmte Bilder von euch beiden, die beweisen, dass ich nicht lüge. Ich kann dir auch gerne Einwohner im Schloss zeigen, die bestätigen, dass du nicht der herzensgute Arzt bist, der du zu sein gedenkst. Und ich kann dir gerne mehr über Hitler erzählen. Auch du, Karl Spencer, hast Menschen getötet auch wenn du bei Hitler eher im Sinne von uns allen gehandelt hast und es eine herzlose, aber richtige Entscheidung war.«
Charly blickte Epi fassungslos an und packte sich vor Schmerzen an den Hinterkopf. Danach nickte er angestrengt. Er konnte sich schwammig daran erinnern, dass er zu Beginn seiner Arztkarriere noch Leben gerettet und Menschen glücklich gemacht hatte. Er wusste nicht mehr was danach passiert war und warum sich alles geändert hat.
»Ok. Aber zuerst gehen wir zum Präsidenten«, sagte Charly energisch.
»Ich werde ihn alleine darum bitten. Du kannst mir in diesem einzigen Punkt vertrauen.«
»Eine Frage habe ich noch. Ist das Amt des Präsidenten das höchste Amt, was man bekleiden kann?«
»Ja. Nach dem öden normalen Polizeistatus fängt man als Truppenführer an, dann kommt das Amt des Captains, das ich innehabe und dann kommen schon die Ämter des Königs und das des Präsidenten. König und Präsident kann nur einer sein. Von den Truppenführern und den Captains gibt es mehrere.«
»Und wieso hält sich ein Captain wie du so lange mit einem nutzlosen Arzt wie mir auf?«
»Ganz einfach. Jetzt wo Hitler tot ist, brauche ich dich. Ich will nicht sterben. Der einzige Luxus auf dieser Welt ist das Leben, lieber Herr Doktor, und du kannst mir das gewährleisten. Karriere interessiert mich nicht. Gon, den ich schon kannte, als er noch ein kleiner Junge war…, für ihn war das wichtig, aber nicht für mich.«
»Nein. Der einzige Luxus ist es, Leben weitergeben zu können und Kinder zu bekommen«, sagte Charly leicht benommen, aber voller Überzeugung. Das Pochen in seinem Kopf nahm zu.
»Du klingst schon wie König Gon und der Rat der Obersten.«
»Wieso?«
»Ihnen geht es auch nur um den Genpool. Die Hauptsache ist du bleibst im Spiel des Lebens. Es gibt nur ein Leben und das solltest du voll auskosten. Alles andere ist Spekulation.«
»Was ist daran falsch? Deine Kinder sind ein Teil von dir. Durch sie lebst du auf ewig weiter.«
»Bla bla bla. Mein Leben endet mit meinem Tod. Aber da du schon bald 60 wirst, ist es für dich wirklich sinnvoller an das Leben deines Sohnes zu denken. Da hast du schon Recht.«
Epi grinste hämisch. Charly erschrak als er in Epis blitzende Augen blickte und erkannte, dass dieser nicht gelogen hatte.
»Wieso? Bin ich wirklich schon so alt?«
Charly schaute tief in die Augen von Epi. Dieser nickte.
»Ich habe eben in den Akten nachgeschaut. Nächsten Monat ist dein 60. Geburtstag. Und eigentlich würde man dich dort hinrichten, weil du dein Leben gelebt hast, aber da du cleverer Fuchs Hitler umgebracht hast, benötigt man dich noch. Die Würdigen und besonders der Rat der Obersten würden es nicht wagen, ohne einen Arzt hier zu leben. Und es kann Monate dauern bis der nächste hierher gesandt wird. Im ganzen Land gibt es nicht einmal mehr 100 Ärzte, soweit ich gehört habe.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern jemals einen Menschen getötet zu haben. Sag mir, wie habe ich ihn umgebracht?«
»Hörst du mir nicht zu? Du hast ihn vergiftet, um deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Du hast dafür deinen eigenen Freund verraten. Du sagtest immer, Hitler sei so etwas wie dein zweiter Sohn gewesen. Tja. Jetzt hast du einen Sohn weniger. Er hat dich immer liebevoll „Charly“ genannt und ihr zwei schient unzertrennlich. Aber deine eigenen Gene waren dir am Ende dann doch wichtiger.«
Charly schüttelte ungläubig den Kopf und fasste sich an seinen immer intensiver pulsierenden Hinterkopf.
»Das kann nicht sein. Ich würde niemanden aus solch einem banalen Grund töten. Das ist nicht wahr. Du lügst.
»Eben nicht. Die Wahrheit ist immer nur, was man selber ertragen kann. Und du bist alt und schwach. Glaub doch was du willst, alter Mann.«
Charly breitete seine Hände vor sich aus. Er betrachtete wieder die faltige Haut auf seinem Handrücken. Mit der rechten Hand drückte er auf eine große alte Ader. Im selben Augenblick spürte er, wie sehr nicht nur sein Kopf, sondern auch sein Rücken schmerzte. Es handelte sich nicht um die leichten Verbrennungen am Rücken, sondern um seine in die Jahre gekommenen Knochen, die er bei jeder Bewegung spürte.
»Akzeptiere es endlich! Du bist alt. Und für dich gibt es auf dieser Welt nicht mehr lange einen Platz.«
»Ich bin müde. Bitte bring‘ mich in mein Haus. Danach können wir in die Bibliothek gehen.«
»Was für ein Haus? Siehst du hier irgendein Haus? Die Menschen im Schloss von Darwin leben nicht in Häusern. Du lebst in einer kleinen Wohnung neben deiner Praxis. Alle leben hier in Wohnungen. Und durch die Humanregulierung und die Tatsache, dass wir gerade einen Ärztemangel haben sind wieder einige Wohnungen frei geworden. Aber keine Sorge, ich bring dich in deine richtige Wohnung.«
»In Ordnung. Dann bringe mich dorthin. Ich bin müde«, sagte Charly resignierend. Seine ozeanblauen Augen füllten sich mit Tränen der Erschöpfung.
Epi führte Charly wieder hinauf zu höchsten Ebene des Schlosses. Sie betraten die gläserne Kuppel. Am rechten Ende des Gebäudes gingen sie in die Arztpraxis, die von einem Polizisten bewacht wurde. Dieser salutierte mit ausgestrecktem Mittelfinger vor Epi und ließ beide gewähren. Epi übergab Charly einen verrosteten Schlüssel, von dem einige kleine Ecken bereits abgefallen waren. Dennoch ließ die Tür sich öffnen.
»Hier nimm! Das ist der Schlüssel für deine Praxis und deine Wohnung. Ich werde nun gehen und versuchen einen Termin beim Präsidenten zu ergattern.«
Als Epi sich ohne großes Zögern entfernt hatte, betrat Charly die Praxis und schaute sich in aller Ruhe um. Er konnte sich nicht erinnern jemals in dem leicht nach Desinfektionsmittel riechendem Komplex mit dem steril mintgrünen PVC Boden im Eingangsbereich gewesen zu sein.
Charly fühlte sich wie ein Kind in einem Museum und schaute sich Schritt für Schritt näher um. Die Praxis bestand aus einem Operationssaal, einem Büro, in dem sich ein Medizinschrank befand und einem großen Labor. Am Ende des Labors führte eine Tür nach rechts ab. Auf ihr stand in Großbuchstaben das Wort „PRIVAT“ geschrieben. Charly blickte auf die Klinke und drückte sie nach langem Warten hinunter. Danach ließ er wieder von ihr ab und starrte auf die Türe. Er war sich nicht sicher, ob er Details über seine Vergangenheit wissen wollte und den nächsten Schritt wagen sollte. Er drückte die Klinke erneut nach unten und blieb stehen. Nach mehreren Minuten zog er die Tür weiter auf und durchschritt sie.
Das Gemach, das angeblich seine Wohnung war, umfasste drei Zimmer und ein Bad. Die Wohnung war spartanisch eingerichtet. Zuerst betrat Charly ein Zimmer, in dem ein Doppelbett stand. Nur eine Seite des Bettes war bezogen und auf dem Nachttisch befand sich ein Bild. Charly trat näher heran. Auf dem Bild waren ein bärtiger Mann mit krausem roten Haar, eine Frau mit glatten, langen, brünetten Haaren und ein kleiner Junge zu sehen. Charly entdeckte ein Muttermal auf der linken Wange des Kindes.
»Da ist doch das Muttermal von dem Mann am Kreuz! Er ist es!«, dachte sich Charly.
Alle drei Personen lachten und wirkten glücklich und gelöst. Als Charly einen vertrauten Geruch wahrnahm, verließ er leicht panisch das Zimmer und stürmte nach Luft ringend nach draußen. Er ging zurück und erkannte in einer Ecke des Zimmers einige immer noch blühende Rosen, die er bereits im Wald gesehen hatte. Sie hatten einen angenehmen Duft. Während die anderen Blumen, wie eine alte Erdbeerpflanze, in dem Raum schon verwelkt waren, schienen diese Rosen ohne viel Wasser auszukommen und kaum etwas von ihrer Strahlkraft verloren zu haben. Er ging in die Küche, füllte eine Schüssel mit Wasser und goss die Rosen.
Charly begab sich anschließend in das nächste Zimmer. Auf einer Kreidetafel links neben dem Zimmer standen die beiden Wörter „Kinderzimmer“ und „Judas“. Als Charly den Raum betrat fand er ein karges Zimmer, in dem alte Pappkartons lagerten, vor. Charly durchstöberte wild die Kartons. In ihnen befanden sich dutzende Krankenakten von zahllosen Patientenamen, die ihm nichts sagten. Schleunigst schob er die Kartons hin und her, durchwühlte sie und warf sie auf den Boden. Er suchte nach weiteren Fotos von Judas, um etwas zu finden, was ihn dabei helfen könnte, die Erinnerungen zurückzuerlangen. Am Fuße eines Kartonbodens fand er ein zweites Bild. Auf ihm war derselbe Junge zu sehen, wie auf dem Bild davor. Auf diesem Foto schien der Junge ein wenig älter zu sein. Sein Blick wirkte trüb und er lächelte nicht.
Als nächstes Zimmer betrat Charly das Bad. Als er in den Spiegel des Hängeschranks blickte, realisierte er, dass er der Mann auf dem Foto war. Seine Haare waren nun weiß, aber das markante Gesicht mit der großen Nase und die krausen fülligen Haare waren unverwechselbar. Charly sah nun deutlich älter als auf dem Foto, welches mindestens 15 Jahre alt war. Seine Falten bohrten sich nun wie gewaltige Fugen durch seine Stirn. Er fixierte lange sein Spiegelbild und blickte in seine ozeanblauen Augen, die als einzige Teile seines Körpers nicht alt, sondern lebendig wirkten. Er versuchte der Situation etwas Gutes abzugewinnen und lächelte mit offenem Mund sein Spiegelbild an, wobei seine schwarzen, leicht verfaulten Eckzähne zum Vorschein kamen. Charly packte sich an einen dieser Zähne, der nur noch von wenig Zahnfleisch umgeben war und mühelos in alle Richtungen zu verschieben war. Dennoch fiel der Zahn nicht ab.
Danach beobachtete er im Spiegel des Badezimmers seinen Rücken, der nur leichte Verbrennungen vorzuweisen hatte. Ebenso inspizierte er seine stark mitgenommenen Fingerkuppen. Charly ging in die Praxis und suchte nach Medikamenten und Salben, um seine Wunden zu behandeln. Doch die Schränke waren verschlossen. Er kehrte in seine Wohnung zurück und begann sich in der Nasszelle seines Badezimmers zu duschen. Er beobachtete lange die ganze Ansammlung von Dreck und Blut, die sich auf dem Boden staute und nur langsam strudelförmig durch den Abfluss verschwand. Danach trat Charly aus der Dusche, begab sich zum Spiegel und begann seinen großen, voluminösen roten Rauschebart zunächst mit einer Schere zu stutzen und die letzten Stoppeln mit einer kleinen, schon mehrfach benutzten, Rasierklinge minutenlang abzutrennen. Als er fertig war, kamen viele kleine Narben auf Kinnhöhe und oberhalb der Lippe zum Vorschein. Seine Haut wirkte noch älter als vorhin und Charly betrachtete mit Tränen in den Augen das Spiegelbild des Mannes, an dessen Vergangenheit er sich nicht erinnern konnte und der ihm so fremd erschien.
Er ging zurück in das Zimmer mit dem Doppelbett und schaute sich erneut das Foto an. Auf dem Bild hatte er noch keine einzige Falte. An die Frau neben ihm konnte er sich nicht erinnern. Charly lag sich erschöpft in das Bett. Während er mühevoll versuchte, die Augen offen zu halten, betrachtete er das Bild, welches er in seinen Händen hielt. Danach blickte er auf die sterile, unberührte Bettwäsche auf der Seite neben ihn und schlief ein.