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I bin vom Land I bin vom Land

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Meine Kindheit war, typisch Landleben, ehrlich, sauber, rein. Du bekommst erst mal nichts mit von den Abgründen des familiären Zusammenlebens. Es gab Sommer, Herbst, Winter und Frühling. Jede Jahreszeit war in ihrer Ausprägung wunderschön. In meinen ersten Jahren auf diesem Planeten und unter den Menschen die als Familie bezeichnet werden, muss einiges los gewesen sein. Ich weiß nichts mehr davon. Naja, Bruchstücke, schemenhafte Erinnerungen gibt es, aber wenn wir ehrlich sind haben wir alle keine echte Erinnerung an die ersten drei Lebensjahre. Das ist vielleicht auch gut so.

Ich gehe davon aus, dass diese ersten Jahre einfach für mich wunderbar waren. Das erste, prägende und in Erinnerung bleibende Ereignis war nicht unbedingt angenehm. Ich liege in meinem Bett, ich war in etwa 5 Jahre alt, es kracht im Flur vorm Zimmer. Ein Schrei, noch einer und ich renn raus. Die Mutter liegt am Boden, der Vater steht da und schreit sie an. Das Gefühl, das ich hatte, ich kannte das nicht. Es war Angst! Das erste mal Angst, und ich hab es nicht gekannt, es brennt, alles zieht sich zusammen, mein Körper ist starr. Ich merke wie Tränen langsam, unaufhaltsam, über meine Wangen laufen, keinen Ton bringe ich hervor, ich bin wie gelähmt. Die Mama steht auf, nimmt mich hoch und bringt mich ins Bett. Schlafen? Wie? In mir ist alles in Bewegung, ich kann damit nicht umgehen und weine, leise, nur für mich. Das schlimmste daran war, ich war allein, niemand nahm mich in den Arm, niemand gab mir Sicherheit und Geborgenheit. Wenn Du Kinder mit Ihrer Angst allein lässt wird diese Angst nicht verschwinden, sie wird größer. Egal wie es Dir geht, halte Deine Kinder fest, gib ihnen die Sicherheit, dass Du da bist. Das ist Deine Verpflichtung. Kinder können das nicht einfach so wegstecken, sie brauchen ihre Eltern, deren Liebe und Kraft.

Das Gefühl wird mich nachts noch lange begleiten. Ich nenne diese Angst heute „Deifiangst“. Ein absolut negatives Gefühl das den Schlaf raubt.

Jetzt muss man wissen, in dieser Zeit war es noch „normal“, dass die Eltern sich streiten, es laut wird, Kinder nichts zu sagen haben, Ehefrauen auch nicht unbedingt. Das soll nicht heißen, dass mein Vater ein schlechter Mensch war, diese Generation ist anders aufgewachsen, Wertschätzung, Respekt und auf Augenhöhe zu kommunizieren war da nicht gelehrt worden. Frauen haben Ihre heutigen Rechte und auch den gebührenden Respekt zwar von Gesetzes wegen erhalten, in den meisten Familien war dies jedoch noch am Anfang der Umsetzung, oder eben nicht. Um selbst arbeiten gehen zu dürfen brauchte meine Mutter die Unterschrift Ihres Ehemannes oder der Eltern, obwohl sie volljährig war, das sagt einiges aus, über diese Jahre. Versuch mal einer Frau das heute zu sagen, da ist es besser du fängst an zu laufen und schläfst ein paar Tage bei Freunden, bis der Rauch verzogen ist.

Es gab, soweit ich mich erinnern kann, keine Vorfälle dieser Art mehr. Vielleicht lag es daran, dass jeder der beiden ein Stück weit eigene Wege ging, schon damals. Es war immer nur ein Elternteil zuhause um sich um mich zu kümmern, mir war das egal, ich genoss die Freiheit, und meine Großeltern waren eh immer da für mich.

Wenn Du als Kind so viel Freiheit hast, fällt Dir natürlich auch das ein oder andere ein das die Erwachsenen nicht als großartige Leistung beurteilen. Es war der Sylvester Tag 1981, sonnig, aber kalt. Ich freute mich auf das Feuerwerk, das durfte ich immer ansehen, gigantisch für mich. Allerdings muss der Tag ja erst rumgebracht werden, mein Freund und ich waren auf dem Spielplatz, später Nachmittag, die Geräte dort waren, wie damals üblich, alle aus Holz. Da wir froren kamen wir auf die Idee ein Lagerfeuer zu machen, Jungs hatten damals immer ein Taschenmesser und Feuerzeug in der Hosentasche, die Eltern wussten natürlich nichts davon, so dachten wir. Heute denke ich da anders, Eltern wissen und sehen alles, immer und überall. Wir sammelten etwas kleines Holz, legten es auf den Boden in der kleinen Hütte, die dastand. Mein Feuerzeug war nagelneu, ein Traum. Schnell entfachte das Feuer, es wurde wirklich warm, zu schnell zu warm. Der Boden der Hütte war aus Holz, einigermaßen trocken, genau da lag auch das Problem. Mein Opa war in diesem Moment zu seinen Tauben unterwegs, der Taubenschlag befand direkt neben dem Spielplatz, nur durch einen ca. 1,8 Meter hohen Zaun getrennt. Er schaute zu uns rüber, ohne zu zögern rannte er zurück, um den Wasserschlauch zu holen. Noch nie hatte ich ihn so schnell laufen gesehen, der Wahnsinn was der draufhatte. Mein Freund war ebenfalls so schnell, nur in eine andere Richtung, zu sich nach Hause. So stand ich neben meinem Feuer, dem löschenden Opa und einem ziemlich wütenden Vater, allein. Ich freute mich über die Wärme, da war ich aber auch der einzige. Meine Frage, ob ich denn das Feuerwerk noch sehen dürfte, hatte sich somit auch erledigt. Zwei Wochen Hausarrest und kein Besuch, das war extrem langweilig, war ich doch immer im Dorf unterwegs. Der Schaden hielt sich in Grenzen, der Geschwindigkeit meines Opas zu verdanken. Als Ortssprecher regelte er die Angelegenheit auch ohne größeren Aufwand. Danke dafür! Er regelte im Hintergrund alles, ohne jedoch mir die Konsequenzen meines Handelns jemals zu ersparen. Äpfel aus einem Garten gestohlen, Ziegen aus einem Stall gelassen, diese machten zwei Stunden das Dorf unsicher. Oder der Versuch einen Kaugummiautomaten abzumontieren und zuhause dann unendlich viele Kaugummis zu haben. Immer durfte ich meine Strafen ertragen, und Opa regelte den Rest. Mein erster echter Freund und Lehrer.

Mit 7 Jahren komme ich im September 1982 in die Schule, erster Schultag und ich spüre eine neue Art Gefühl in mir, es ist eine andere Art Angst, gemischt mit Aufregung. Der Schultag war echt ok, irgendwie kam am Ende des ersten Schultages dann der Satz: „Ich freue mich darauf euch das ganze nächste Jahr als Klasse zu haben.“ Keiner hat mir vorher gesagt, dass ich da wieder hingehen muss. Das war nicht ganz mein Plan, aber irgendwie spielte mein Plan hier keine Rolle. Na dann, auf in was Neues. Diese Art Angst begegnet mir auch immer wieder im Leben, heute nenn ich das Gefühl „Freuangst“. Ein positives Gefühl das ich sogar genießen kann. Wie bei allen Schülern ist das mit der Freude aber auch mal vorbei. Die ersten beiden Jahre waren noch großartig, lesen, schreiben und Zahlen schubsen. Dann kamen plötzlich Schulaufgaben und Noten, eine Welt, die ich heute noch nicht verstehe, nicht verstehen möchte. Wenn ich unser Schulsystem ansehe, die Lehrpläne, die Bewertungen, da wird mir manchmal übel.

Im Dezember 1982 kommt die Mama wieder ins Krankenhaus, mein Bruder wird geboren. Hatte ich da Angst? Definitiv nicht. Hat mich das Ereignis geprägt, bestimmt. Immerhin wird mich das Baby mein Leben lang begleiten, und das macht mir heute noch irgendwie Angst.

1984 endet das Thema Angst um die Mama oder auch um mich. Die Eltern trennen sich, ich bin ca. 9 Jahre alt, kein Papa mehr da. Ich brauche ihn aber doch! Wer ist dann jetzt noch da? Wieder ein neues Gefühl, ich nenn es heute „i-woas-ned-angst“. Ein negatives Gefühl, das unbeschreiblich ist.

Nach der Trennung war es so dass wir Kinder bei den Großeltern, diese wohnten gleich nebenan, gut aufgehoben waren. Mein Opa, ein strenger Mann mit Prinzipien, war immer für mich da, er nannte mich seinen Prinzen, mein Gott wie sentimental. Meine Großeltern sind noch heute für mich ein Maßstab, ich habe lang gebraucht das zu erkennen. Heute weiß ich, dass ein großer Teil meiner eigenen Einstellung und Werte von Oma und Opa kommen. Niemals habe ich einen der beiden jammern hören, niemals habe ich gehört, dass sie sich beschweren, wie hart doch alles ist. Die Oma hat sich um Kinder, Enkelkinder, Haus, Garten, ihren Job als Zeitungsausträgerin, und um den Opa gekümmert. Erzähl mal heute jemanden er solle das tun, da kommt aber Angst auf.

Der Opa ging arbeiten, kümmerte sich um den riesengroßen Rasen und seine Brieftauben. Er versorgte den Dorfwirt mit Umsatz, war Vorstand im Brieftaubenverein und so eine Art Ortssprecher. Er war für die Einhaltung der Regeln in der Familie verantwortlich, die Einhaltung, nicht die Erstellung, das wiederum war die Aufgabe von Oma, unsere „Regierung“. Ich hatte oft mit Opa meine Themen, eine tote Taube, das Auto verdreckt, den Hof verwüstet, oder später seine Zigaretten geraucht. Die tote Taube, nun, irgendwie ist mir diese in starker Erinnerung geblieben. Ich fand das Tier auf dem Boden sitzend, im Gras. Warum sie da saß weiß ich nicht, weggeflogen ist sie nicht. Mein Freund, der mit mir das Tier beobachtet hatte, meinte nach einiger Zeit. „Meinst die stirbt?“ Ich antwortete: „Wenn ned jetzt, dann bald, des können wir abwarten.“ Und es war dann doch so dass sie plötzlich umfiel und unserer Ansicht nach tot war. Wir waren jung und neugierig. Wie schaut es wohl in so einer Taube aus? Das haben wir uns dann auch genauer angesehen. Ich bedachte nicht, dass mein Opa seine Tauben alle kennt, und merkt, wenn eine fehlt. Um ihn zu schonen bat ich Oma um Hilfe unser Forschungsobjekt fachgerecht zu entsorgen. Nach dem Abendessen lernte ich dann was Loyalität heißt. Sie hat Opa doch wirklich erzählt was mit dem fehlenden Vogel passiert ist. In allen Einzelheiten, das war nicht das was ich gehofft hatte. Um den Folgen dieses Gesprächs zu entfliehen ging ich wortlos, aber schnell in mein Zimmer, raus aus dem Fenster, um irgendwie meinem Opa aus dem Weg zu gehen. Ich sah noch zum Fenster als ich plötzlich gegen eine Wand lief die da definitiv vorher nicht Stand. Als ich nach oben blickte, noch immer auf dem Boden sitzend, sah ich ihn. Ein liebevolles Lächeln sieht anders aus. Er sagte kein Wort, sein Blick deutete mir ihm zu folgen. Das was folgte hatte ich nicht erwartet. Kein Schimpfen, keine körperliche Reaktion, ich musste den Taubenschlag säubern, eine Woche lang. Seit dieser Woche macht mir schlecht riechende Luft wenig aus, meine Nase scheint noch immer unter den Dämpfen zu leiden. Nur der Geruch von Bananen löst in mir eine erhebliche Abneigung aus. Meine liebe zu Tieren ist wohl auch in diesen Tagen entstanden. Wozu die Sezierung eines totgeglaubten Vogels doch führen kann. Keine einzige Lausbubentat blieb unentdeckt. Immer wieder war er draufgekommen, dass ich doch nicht so ein Prinz war, eher ein Bazi oder Saubua. Unser Verhältnis war jedoch nie getrübt, immer sauber und gradaus. Meine Wertschätzung für meine Großeltern drückt ein Song von STS gut aus, „Großvater“. Heute vermisse ich meinen Opa mehr als ich dachte. Sein Tod 1999 hinterließ in mir ein Loch, eine Lücke, die nicht zu schließen ist. Er war wirklich mein erster, bester Freund. Es dauerte lange bis ich das verstand. Mit dem Thema echter Lehrer verhielt es sich ähnlich, heute weiß ich, dass er mein erster echter Lehrer war. Nicht die Noten in der Schule waren es die er beurteilte, sondern wie ich als Mensch war, war ihm wichtig. Er war kein Engel, auch kein Traumehemann, aber er war respektvoll und wertschätzend. „I muss ned alles hören was die Oma sagt, aber ich lieb sie, des reicht. Red ned von Liebe und Treue, red von Respekt, da is alles dabei. Leb immer so dass du dich im Spiegel anschauen kannst, mit offenen, klaren und wachen Augen. Dann basst des scho.“ Das sagte er mir bei unserem letzten Gespräch. Dieses Gespräch war für mich nicht gleich als Abschied zu verstehen, ich hatte nicht damit gerechnet was am nächsten Tag passiert. Ein Sonntag, vormittags der Anruf, er hat mich nie angerufen. Er fragte, ob ich Nachmittag vorbeikommen möchte, auf ein Bier und ein paar Worte. Wir saßen in seiner offenen Garage, sein Lieblingsplatz. Ich erzählte ihm, dass ich am nächsten Tag für eine Woche zu einer Schulung für eine Maschine fahre. Er freute sich für mich, dass ich das Vertrauen meines Arbeitgebers hatte das zu machen. Ein paar Wochen vorher war er aus der Klinik entlassen worden, wir wussten nicht, warum er wirklich dort war. Es schien ihm gut zu gehen. Wir hatten viel Spaß, lachten viel, an diesem Nachmittag. Seine letzten Worte waren: „Pass auf Dich auf Bub, bleib immer grad, steh zu Deiner Meinung und hab keine Angst, egal vor was oder wem. I bin stolz auf Di.“

Am nächsten Morgen erreichte mich auf dem ausgeborgten Handy, ein riesengroßer „Knochen“, kaum in der Hand zu halten, ein Anruf von meiner Frau. Ich solle doch bitte rechts ranfahren und zuhören. Das tat ich sofort. „Der Opa ist gestorben.“ Sagte Sie. Ein Schlag ins Gesicht, ich legte wortlos auf. Was hätte ich sagen sollen, ich verstand sofort was am Tag vorher passierte, es war ein Abschied gewesen. Ich war der einzige, von dem er sich persönlich verabschiedet hatte. Es tat weh.

Bei meiner Oma wurde kurz darauf Alzheimer diagnostiziert, eine Krankheit die gnadenlos für den Zerfall des menschlichen Geistes und Körpers sorgt. Zehn Jahre lang war sie als Pflegefall noch unter uns. Ich hasste es. Der Schmerz, das Leid und der Verfall, wie soll ein Mensch das ertragen? Die beiden Menschen, die ich so sehr verehrte, die in meinem Leben immer als so stark erschienen. Ich habe sogar jetzt beim Schreiben Tränen in den Augen.

Ich möchte klar machen, meine Großeltern waren die Menschen, die mir in meinen Kindheitsjahren schon gelernt haben, was Respekt heißt. Niemals jedoch haben sie mir wirklich Angst gemacht, erst als ich mit Mama umziehen musste kam wieder Angst. Ich hatte Angst die beiden nie mehr zu sehen, was natürlich unbegründet war. Diese Angst, so unbegründet sie war, wurde bei mir wieder bewusst als erst Opa, und dann Oma gehen mussten. Ich konnte damit umgehen, ich machte mir klar, dass ich eine sehr intensive Verbindung hatte, ich denke nur an die Momente mit den beiden die mir ein Lächeln auf mein Herz gezeichnet haben. Das hilft bei Angst und Schmerz.

1985 passierte es, Mama lernte einen Mann kennen. Da war sie wieder, die „i-woas-ned-Angst“. Die Vorstellung, dass da einer kommt der in der Zukunft eine Rolle spielen soll. Einer der mir und meinem Bruder wohl auch noch sagt wo´s langgeht. Krass! Wie hört des auf, wie wird des weiter gehen?

Naja, ich habe ja keine Wahl, muss mich damit auseinandersetzen. Irgendwie war er nett, also gib ihm eine Chance dachte ich mir. Er hatte mir Star Wars nah gebracht, ein unglaublich großartiger Typ, könnte er doch auf meiner Wellenlänge sein? Meine Zweifel daran waren trotz Darth Vader und Co größer als gedacht. Ich liebe diese wunderbaren Filme noch heute, ausnahmslos alle die zu dieser Reihe gehören. Eine Mischung aus Han, Luke, Darth Vader und Yoda steckt auch in mir. So vorlaut wie Han Solo, gutmütig wie Luke Skywalker, launisch wie Darth Vader und ein weiser Schelm wie Yoda. Es gab auch mal die Aussage ich wäre eine Mischung aus Einstein und Schwarzenegger, vom Einstein die Figur und vom Schwarzenegger der Intellekt. Fand ich persönlich nicht so nett, immerhin habe ich mehr mit Chewbacca gemeinsam.

In dieser Zeit hatte ich bereits angefangen, dass ich lauter wurde. Die Stille meiner ersten Lebensminute löste sich nun immer mehr auf. Ich muss zugeben, dass ich nicht einverstanden war mit einem „fremden“ Mann der sich als neuer Papa aufspielt. Ich hatte wieder eine neue Angst entdeckt, ich nenne die heute „scheiß-zukunft-Angst“.

Nun, als wir unser erstes vier-Augen-Gespräch hatten, der „Neue“ und ich, war schnell der Rahmen abgesteckt. Ich war echt überrascht, der ist nett und gleichzeitig auch noch mit der Gabe des Gedankenlesens gesegnet, dachte ich mir. Er wusste um meine Sorgen und Ängste, und irgendwie hat er mir das Gefühl gegeben, dass alles gut wird. In dem ganzen Chaos, das in meinem Kopf war, war es plötzlich zum Stillstand gekommen. Da war sie wieder, die „Freuangst“. Irgendwie könnte es eine coole Story werden. Wir waren in den nächsten Monaten zu einer Familie geworden, Mama, der neue Mann, mein Bruder und ich. Da war ein neues Gefühl, Geborgenheit in einer Familie, ohne Angst. Krass! Da war also an den Märchen doch nichts Wahres dran, böse Stiefeltern und so. Das wiederum zerstörte dann doch ein Stück meiner Kindheit. Immerhin bin ich mit den bluttriefenden, gewalttätigen Märchen der Gebrüder Grimm aufgewachsen. Nein, ich bin deswegen nicht zum Serienmörder geworden, und seelisch gebrochen bin ich auch nicht. Falls Du, lieber Leser, selbst Kinder hast, nein, wir aus den 1970´ern haben keine seelischen Schäden wegen der Märchen oder Spielen, wie „Völkerball“ oder „wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“, auch bin ich kein Rassist, weil ich Zigeunerschnitzel oder Negerküsse gegessen habe. Ganz im Gegenteil, wir haben Respekt, Wertschätzung, Zuverlässigkeit und soziale Kompetenz mit der Muttermilch aufgesogen.

Wenn das meine einzigen Probleme waren ist alles gut, dachte ich mir dann.

Irgendwann im Jahr 1987, ziemlich am Anfang, stand die Mama im Kinderzimmer, mit feuchten Augen. Verdammt, was war passiert? Er hat es doch nicht gewagt?! Alter Verwalter was ging in meinem Kopf ab?! Ich war echt durch und durch sauer als ich gesehen habe, wie ihr die Tränen über Wangen liefen. Ehrlich gesagt, ich war elf Jahre alt, was hätte ich machen können? Egal, da war ein Gefühl, das mir alle Ängste raubte, das mir Kraft gab. Beschützerinstinkt, oder so ähnlich. Ich sagte zu ihr, dass ich ihn sofort aus der Wohnung werfe.

Sie schaut mir in die Augen, beginnt zu lachen, nimmt mich und den kleinen Wurm neben mir, mein Bruder, in den Arm, und sagt: „Alles gut, Ihr bekommt ein Geschwisterchen!“. Oh Mann, muss das sein? Weißt Du was kleine Geschwister bedeuten? Die schreien, stinken, können nichts allein, nicht mal reden oder ähnliches. Vor allem bedeutet das für mich, ich habe schon wieder einen kleinen Menschen ein Leben lang an der Backe. Womit habe ich diese Strafe verdient? Was habe ich Dir getan, Herrgott! Das schlimmste ist wohl, dass Du als ältester dann plötzlich nur als Babysitter existierst. „Das musst du doch verstehen, der ist ja noch so klein.“ Nein, ich muss erst mal gar nichts verstehen. Mein innerer Widerstand war deutlich spürbar, die Veränderungskurve kannte ich damals natürlich noch nicht. Hätte ich diese gekannt, wäre es mir leichter gefallen damit umzugehen. Das ist Entwicklung, das lernt Dir eben nur das Leben. Finde Deinen Weg, auch wenn dieser nicht gleich sichtbar ist, er ist da.

„Und warum weinst Du dann?“, fragte ich einfach mal. Es war mir eigentlich egal, ich wollte diese Stille beenden, die Antwort war mir nicht wichtig, ich hatte meine eigenen Gedanken, Widerstand.

Naja, ich sollte auch weinen, das Baby nimmt mir alles weg. Alle Aufmerksamkeit, den Platz im Zimmer, mein Spielzeug, alles halt. Und sie denkt ich finde das großartig! Nein! In diesem Augenblick eröffnet sie mir auch die Absicht den Mann, der ja auch der Vater des neuen Kindes ist, zu heiraten. Finde ich das toll? Nein! Nicht jetzt, da ist was anderes als Freude. Ich habe Angst verdammt nochmal! Diese Angst nenne ich heute „Neid-Angst“. Neid ist etwas Schlimmes, er kann so viel zerstören, und das ohne echten Grund, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, wir alle haben es schon erlebt. Es ist eine Kraft darin die nur böses hervorbringt, soziale Verhaltensweisen blendet dieses Gefühl einfach aus. Egoismus tritt hervor, wir verhalten uns wie Berserker, sprichwörtlich. Das Schlimme daran ist, unser Umfeld toleriert das nicht, versteht es nicht. Das in den Griff zu bekommen durfte ich lernen, mein ganzes Leben lang, immer wieder. Mittlerweile erzeugt Neid bei mir Ehrgeiz, der einzige Positive Effekt dieses Gefühls.

In der Mitte Jahres war es dann soweit, das neue Baby war unser neuer Mitbewohner. Ich hatte Recht, der Platz in der Wohnung, Drei-Zimmer-Küche-Bad, war zu wenig. Irgendwie kommen die beiden nun auf die Idee ein Haus bauen zu wollen, Schnapsidee, war mein Gedanke. Ich mag nicht umziehen, nicht schon wieder! Ich wäre sofort bereit gewesen zu meinen Großeltern zu ziehen, da fühlte ich mich wohl, das war meine Welt, meine Komfortzone. Mein Vorschlag fand kein Gehör bei meiner Mutter. Ihre Argumente waren, wir sind eine Familie, wir bauen uns eine gemeinsame Zukunft auf, das wird wunderschön, usw. Nun, in meinen Augen war nichts davon interessant für mich. Ich will nicht, alles wird anders, ihr habt eh keine Zeit mehr für mich, ihr braucht mich ja nicht, habt doch das neue Baby. Natürlich waren meine Argumente auch nicht haltbar, es waren nur Äußerungen meiner Angst. Und ich hatte keine Ahnung wie ich damit umgehen sollte. Da war sie wieder, die „i-woas-ned-Angst“.

Es hat sich schnell gezeigt, dass es mit Hausbauen nicht einfach ist. Grundstück, Bauunternehmen, Pläne, Genehmigungen, alles das hat zur Aufgabe des Projektes geführt. Was nicht bedeutet, dass wir nicht umziehen mussten. Ich gebe zu, die Wohnung war zu klein, mein Vorschlag immer noch nicht diskutabel, und es ist nun mal so dass die Eltern immer Recht haben. Nach einigen Tagen war die Entscheidung gefallen, es wird ein Haus zur Miete gesucht, und für die weitere Zukunft eines zum Kaufen. Ich war auch damit nicht einverstanden, wieder scheiterte meine Intervention. Hast du als Kind eigentlich irgendwas zu melden? Mir wurde klar, dass ich zwar von solchen Entscheidungen unterrichtet werde, eine Meinung äußern darf, aber nichts zu melden hab. Damit werde ich mich nicht den Rest meines Lebens zufriedengeben, soviel steht fest. Wieder muss ich nun aber zugeben, dass die eingeschlagenen Wege meiner Eltern durchaus positiv waren, im Nachhinein betrachtet. Nach intensiver Suche, und mit Unterstützung der Eltern meines Stiefvaters, auch wunderbare Menschen übrigens, war ein Haus gefunden. Zur Besichtigung durfte ich sogar mitkommen, warum auch immer. Ich war begeistert von diesem Haus, besonders vom Keller mit seinen vielen Räumen, dazu später noch eine kleine Anekdote, und der Umgebung. Noch heute denke gerne an dieses Haus zurück. Was mich weniger in Euphorie versetzte war die Tatsache, dass der Weg zu meinen Großeltern nun nicht mehr in zehn Minuten mit dem Fahrrad erledigt war. Wie dem auch sei, es stand fest, wir werden hier in Zukunft wohnen. Nun, da ich ein eigenes Zimmer bekam, sogar ein eigenes Bad war für mich dabei, war mein Veto nicht ganz so groß. Die Umgebung war absolut anders als ich es kannte, dieses Dorf war einfach um ein Vielfaches größer als meine Heimat. Irgendwie kam ein gutes Gefühl in mir hoch, nach all dem Widerstand war das sehr beruhigend für mich. Dann also ein Schulwechsel, neue Freunde finden, und auf die Zukunft freuen. Alles wird gut, oder?

Noch vor dem Umzug wurde im Oktober 1987 dann tatsächlich geheiratet, an einem Freitag, und ich musste doch wirklich noch in die Schule vorher, da fragst Dich doch! Da wird eine Hochzeit geplant und dann werden die Kinder zu den Großeltern oder in die Schule geschickt. Ich dachte wirklich an diesem Tag könnte ich einer Schulaufgabe entkommen, für mich wäre das der ideale Grund gewesen, eben nur für mich. Ich musste natürlich auf meine Klamotten aufpassen, nicht schmutzig machen! Wie soll das bitte funktionieren? Immerhin war da doch noch die große Pause, und ich soll mich nur in eine Ecke stellen und mein Brot essen, da habt ihr euch aber geschnitten, liebe Erwachsene. Der Druck, den ich bei der Schulaufgabe verspürte, die Nervosität wegen der Hochzeit, alles das musste ausgelebt werden. Meine Klamotten waren nicht in dem Zustand, den meine Mama erwartet hatte. Ihre Laune wurde dadurch nicht besser, nur Oma hatte alles im Griff, sie hatte, in typischer Omamanier, saubere Hosen und ein Hemd für mich dabei. Dass ich mich vor all den anwesenden Menschen umziehen musste störte wohl nur meine Mama. Ich fand es lustig.

Dann, Februar 1988, wir ziehen um. Neue Umgebung, neue Schule, neue Leute. Die Nacht vor dem ersten Schultag in der neuen Schule war nicht mit erholsamem Schlaf gesegnet, das war der pure Horror. Die Aufregung, gepaart mit einem Wochenende, das den Umzug zum Inhalt hatte, war dann Zuviel für mich. Ich war müde am Montagmorgen. Ich machte mich auf den Weg zur Schule, den war ich am Tag zuvor einige Male abgelaufen, um nicht zu spät zu kommen oder mich zu verlaufen. Diesmal aber keine Angst, nein, da war irgendwie was anderes. Ein Gefühl von Stärke, Mut, Zuversicht und Aufbruchstimmung. Komisch, dachte ich mir, irgendwie fühlt sich das gut an. Dieser Zustand war befreiend, ich hatte es doch echt geschafft mal nicht in irgendeiner Art Angst zu verharren. Ich hatte nicht nachgedacht, zum ersten mal habe ich bewusst meinen Ängsten verboten Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich war ja der Bursch vom Land, der hat keine Angst, der ist ein Baum von einem Kerl. War da sogar ein bissel Selbstvertrauen? Hat das etwas mit dem Thema „Angst-Kontakt-Verbot“ zu tun? Ich weiß heute, dass dies ein elementarer Bestandteil des Umgangs mit mir, und meinen Ängsten ist. Das zulassen der Angst ist in meinen Erfahrungen das Problem. Wir dürfen es spüren, aber nicht Besitz ergreifen lassen. Unsere Handlungen müssen uns erlauben den Weg durch die Angst zu gehen, nicht davor wegzulaufen. So machte ich mich auf den Weg in die Schule, mit einem Lächeln ins neue Leben.

Ich weiß es noch wie heute. Während ich so einen Fuß vor den anderen setzte, kam mir der Gedanke, dass ich schon bissel was erlebt hatte und einige Ängste kennengelernt hatte. Diese Ängste haben mich nicht beherrscht, weil die Ereignisse von nachfolgenden positiven Ereignissen aufgefangen wurden.

Was mich zu meinem Leitspruch brachte, dieser stammt aus einer Fernsehserie der 1980´er Jahre,

A bissel wos geht immer

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