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Lydda 1948

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„Allah hat uns verlassen“, seufzte der 40jährige Orangen- und Mandelbauer Ibn Gossarah. „Sie werden kommen und uns vertreiben, wenn sie nicht noch Schlimmeres mit uns anstellen. Wie sie es bisher überall getan haben“. Er schlürfte dabei aus einer Tasse Tee. Ibn Gossarah war von großgewachsener Gestalt, hager und sein würdiger pechschwarzer Vollbart und der wache Blick seiner Augen zeugten von klarem Verstand und Klugheit.

„Aber warum denn, Vater?“, fragte Ibrahim, sein ältester Sohn. „Wir leben doch schon Jahrhunderte hier in Lydda. Wir sind doch ein Teil dieses Landes. Es gehört uns doch. Warum sollte uns irgendwer vertreiben wollen?“

„Irgendwer?“, widersprach Ibn Gossarah. „Nicht irgendwer! Die Juden werden es sein! Unersättlich ist ihr Hunger nach Land und wir, die Kinder Allahs, sind zu ihren Feinden geworden. Nur flehen können wir zu Allah, dass er unseren tapferen Brüdern von der Liga den Sieg und den Tod über das erbarmungslose jüdische Pack schenken möge. Wie weise hat doch der große deutsche Führer gedacht, der die Juden ebenso hasste, wie wir es jetzt tun. Glaube mir, mein Sohn, so wie sich verhalten sind sie der Abschaum des menschlichen Geschlechts. Allah möge sie in die tiefste Dschehenna verbannen. Und mit ihnen auch gleich die hundsföttischen Briten, die unser Land geteilt haben. Niemand hat uns vorher gefragt, ob wir das wollten!“

Er setzte fort: „Höre! Niemand kann wissen, welches Los uns Allah bestimmt hat. Im Garten unter den Wurzeln des Orangenbaums habe ich eine kleine Truhe vergraben. Goldstücke sind es, mühselig von unseren Vätern und mir zusammengetragen. Merke es dir und wenn du unser Land verlassen musst, nimm sie mit. Das kann der Beginn eines neuen Lebens, irgendwo, für dich werden!“

„Aber Vater!“

Doch der hatte sich bereits abgewandt und horchte nach draußen. Das Haus der Familie Gossarah und die gediegene Einrichtung zeugten von einem gewissen Wohlstand. Im kleinen Gärtchen standen zwei schattenspendende Mandelbäume und ein Orangenbaum Das gepflegte Gemüsebeet lieferte ausreichend Vitamine und Proteine. Beide Begriffe kannten sie zwar nicht, aber frisches Gemüse schätzten sie sehr. Ein kleiner Stall war die Heimat einiger Hühner und Kaninchen, die zu festlichen Tagen geschlachtet und gegessen wurden. Seit Generationen waren sie Bauern gewesen. Am Markt von Lydda boten sie und andere Händler ihre frischen Waren an.

Allah aber ignorierte das Flehen der Palästinenser! Wahrscheinlich war er anderweitig beschäftigt oder hatte sich mit dem hebräischen Jahwe in irgendeiner Form geeinigt.

Die Israelis kamen. Mit militärischer Übermacht und ausgestattet mit dem festen Willen, das Land, das ihnen ihr Gott versprochen hatte, nun endlich wieder in Besitz zu nehmen. Die neue israelische Luftwaffe bombardierte die beiden Städte Lydda und Ramle, um die Zivilisten zur Flucht zu bewegen. Und das, obwohl Lydda und Ramle außerhalb der neuen Grenzen des neuen israelischen Staates lagen, die im Teilungsplan der UNO von 1947 festgelegt worden waren und innerhalb des Gebiets, das für einen künftigen arabischen Palästinenserstaat bestimmt war. Beide Städte sind heute hauptsächlich von Israelis bewohnt und werden in Israel und im deutschen Sprachraum als >Lod> und >Ramla> bezeichnet. Der israelische Oberst Mosche Dajan führte den brutalen Überraschungsangriff auf Lydda aus. Mit einem Konvoi aus Jeeps, angeführt von einem Panzerwagen, den man tags zuvor der Arabischen Liga abgenommen hatte, unternahm er den Angriff am Tage, indem er durch die Stadt fuhr und alles beschießen ließ, was sich bewegte. Alte Männer und Frauen flüchteten entsetzt und voller Angst in ihre Häusern und Wohnungen. Dajans Mörderbande aber kannte kein Erbarmen. Bald lagen Dutzende Leichen auf den Straßen und zwischen den Häusern, darunter auch zahlreiche Frauen und Kinder.

Die jüdischen Truppen verhielten sich nicht anders, wie seinerzeit die deutsche Wehrmacht in den eroberten Gebieten. Rücksichtslos, menschenverachtend und brutal. Der Angriff auf Lydda dauerte 47 Minuten und kostete nach Angaben des Bataillons 100 – 150 Arabern das Leben. Auf israelischer Seite gab es 6 Tote und 21 Verletzte. Dieser ungeplante Angriff begründete den späteren Ruhm Mosche Dajans. Am Abend begannen sie dann mit der systematischen Vertreibung der Araber. Eine kleine Zahl arabischer Kämpfer harrte in der Polizeistation von Lydda aus und kämpfte bis zur letzten Patrone. Sie waren Mitglieder der arabischen SS-Legion3 gewesen und wussten genau, was ihnen geschehen würde, wenn sie den Israelis lebendig in die Hände fielen. Sie starben alle. Eines der unzähligen und sinnlosen arabischen Opfer. Geschockt von dem Überfall marschierten die Überlebenden aus eigener Initiative in die Gefangenenlager, die die Israelis blitzartig in den Moscheen und Kirchen der Städte eingerichtet hatten.

Ibrahim hatte mit Entsetzen mit ansehen müssen, wie drei israelische Soldaten seinen Vater und seine Mutter ermordeten. Es waren junge Kerle mit stumpfsinnigem Gesichtsausdruck und voll mit dem Gefühl des triumphalen Sieges über die verhassten Moslems.

„Dawai, dawai“, brüllten sie; sie waren erst vor kurzem aus Stalins Reich eingewandert. Niemand verstand sie. „Tol'ko chemodan4!“, brüllten sie. Ibn Gossarah, um Gnade oder wenigstens um mehr Zeit flehend, streckte ihnen seine Hände entgegen.

Umsonst!

Einer der Drei rammte ihm sein aufgestecktes Bajonett in den Bauch und ließ ihn blutend liegen. Ibns Frau stürzte schreiend zu ihrem Mann und wurde kurzerhand von einem anderen erschossen. Die Mörder lachten. Einer richtete seine Waffe auf Ibrahim. Der war vor Angst bewegungsunfähig und machte sich in die Hose. Er erwartete den tödlichen Stoß oder Schuss. Aber einer der Drei, vermutlich der Anführer schlug seinem Kumpel das Gewehr zur Seite. Er bedeutete Ibrahim, er solle verschwinden.

Ibrahim sprang auf und rannte so schnell er konnte hin zur Moschee. Dort, so meinte er, wäre er in Sicherheit! Die Juden würden es doch nicht wagen, in das Haus Allahs einzudringen. Die Moschee war bereits so überfüllt, dass sich die Eroberer dazu gezwungen sahen, die Frauen und Kinder wieder nach Hause zu schicken. Darunter war auch Ibrahim. Die Männer allerdings verblieben im Innern. Stumpfsinnig erwarteten sie ihren Tod. Sie mussten nicht allzu lange darauf warten.

Ibrahim rannte, so schnell er konnte in das Haus seiner Eltern zurück. Sie lagen noch genauso da, wie sie getötet wurden. Heere von Fliegen und Scharen anderer gieriger Insekten krabbelten auf ihren Körpern herum. Als er das sah und auch die üblen Gerüche schmeckte, die von den Toten ausgingen, wurde ihm schlecht. Er musste sich in einer Ecke übergeben. Was sollte er jetzt tun? Zu wem sollte er gehen? Seine nächsten Verwandten, das wusste er, lebten in Ramallah. Wie er aber dorthin kommen sollte, wusste er nicht. Dann fielen ihm die letzten Worte des Vaters ein. Er schnappte sich also eine kleine Schaufel und begann beim Orangenbaum zu graben. Immer darauf achtend, dass ihn kein Jude dabei ertappte.

Und da war was! In etwa 30 Zentimeter Tiefe stieß er auf eine kleine Metallbox. Vorsichtig hob er sie heraus und rannte damit gleich wieder zurück ins Haus. Dort öffnete er sie. Es lagen kleine Goldbarren und etliche silberne Maria-Theresien Taler drinnen. Er wusste natürlich nicht, welchen Wert der Fund hatte, aber er verstaute alles sorgfältig in seinem Burnus. Irgendwer würde ihm schon sagen, welchen Wert der Inhalt hat und was er damit anfangen könnte.

Die Welt war geschockt! Eine derartige Brutalität und Grausamkeit hatte man von den Israelis nicht erwartet. Diese aber, euphorisch ob ihres neuen Staates, voll von Hass gegen die Araber, die immer noch den Massenmörder Hitler verehrten und geprägt durch die unvorstellbaren Ereignisse der Shoa kannten kein Erbarmen. Zwar setzte die israelische Regierung ein Komitee ein, das sich mit den Flüchtlingen und ihrem zurückgelassenen Eigentum befassen sollte. Dies war aber lediglich eine Augenauswischerei, um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Gehalten an das Verbot, arabische Städte und Dörfer nicht zu zerstören, zu verbrennen oder zu beschädigen, die Einwohner aus ihren Dörfern, Wohngebieten und Städten zu vertreiben hat sich niemand.

Beim Todesmarsch von Lydda – so nannte man die Vertreibung später - wurden 50.000 bis 70.000 palästinensische Araber aus ihren Häusern vertrieben. Sie begannen mit dem Auszug am Morgen des 13. Juli. Sie mussten zu Fuß gehen, vielleicht entweder, wegen ihres vorherigen Widerstands oder weil Fahrzeuge fehlten. Sie liefen entlang staubiger Straßen bei Temperaturen von 30 – 35° Celsius, transportierten ihre Kinder und ihren Besitz in Karren oder auf dem Rücken. Manche wurden auf dem Weg von der israelischen Soldateska ihrer Wertsachen beraubt. Auch Vergewaltigungen waren durchaus die Norm.

Persönlicher Besitz und auch Menschen wurden allmählich zurückgelassen, wenn sie als müde wurden oder zusammenbrachen. Zunächst wurden Utensilien und Möbel zurückgelassen, am Ende lagen die Körper von Männern, Frauen und Kindern entlang des Weges. Die Menschen waren wegen des Ramadan außerdem am Fasten. Es gab Wasser nur in ganz kleinen Mengen. Manche verdursteten. Bei einigen toten Frauen hingen ihre Babys noch an den Brüsten. Auch sie starben bald.

Ibrahim war mitten unter ihnen. Hin und wieder, wenn er sichtbar am Zusammenbrechen war, fand er notdürftig Platz auf einem der Ochsenkarren und erhielt auch einige Schlucke Wasser. Nach drei Tagen des Wanderns wurden die Flüchtlinge endlich von der Arabischen Legion aufgelesen und nach Ramallah gebracht. Da war die Hölle zur Realität geworden. Zehntausende aus Lydda und Ramle strömten in die Stadt hinein. Zumeist hatten sie kein Geld, keine Nahrungsmittel und kein Wasser, und stellten ein hohes Gesundheitsrisiko dar, nicht nur für sich selbst. Der Stadtrat von Ramallah bat den jordanischen König sie wegzubringen.

Vergeblich! Einige der Flüchtlinge erreichten Amman, den Gaza Streifen, den Libanon und Obergaliläa. Es gab wütende Demonstrationen gegen König Abdullah und die Arabische Legion wegen ihres schmählichen Versagens bei der Verteidigung der beiden Städte.

Der Rote Halbmond und das Rote Kreuz versuchten nach besten Kräften den Vertriebenen zu helfen. Sie stellten Zelte, Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente zur Verfügung. Letztendlich war es aber immer zu wenig. Um die meist traumatisierten Waisenkinder unter den Flüchtlingen bemühte man sich auch besonders. Reiche Araber in Ägypten, Jordanien und anderen islamischen Staaten sollten sie aufnehmen oder adoptieren.

Ibrahim aber hatte Verwandte in der Stadt. Bloß, er kannte sie nicht und hatte auch keine Ahnung, wie und wo er sie finden sollte. Verzweifelt hockte er sich am Marktplatz in eine Ecke und schluchzte still vor sich hin. Einer der Händler versuchte ihn mit einer Orange zu trösten. Er nahm sie dankbar an. Nach zwei Tagen, die er am Markt verbracht hatte, erschien endlich eine Art Polizist und fragte ihn, was er denn hier mache. Ibrahim erzählte seine Geschichte, verschwieg vorsichtigerweise das verwahrte Gold und fragte den Sicherheitsmann, ob er vielleicht wisse, wo er seinen Onkel fände. Zu seiner Überraschung sagte der ja. Er kannte Dawud Gossarah und seine Frau. Sie wohnten sogar Tür an Tür. Er ging, um ihn zu holen. Kurze Zeit später kam ein etwas älterer Mann in Begleitung einer verschleierten Frau. „Du bist der Ibrahim?“, fragte er. „Der Sohn meines Bruders?“

Ibrahim nickte.

„Dann komm an mein Herz, Neffe.“ Er umarmte ihn. Die Frau tat das gleiche. „Komm mit uns. Beim Essen kannst du uns alles berichten.“ Dawud und seine Frau, Kinder hatten sie keine, bewohnten zwei kleine Zimmer in der Nähe des Löwenbrunnens am Manarah Platz. Mit wütender Miene hatten die Gossarahs die Schilderung Ibrahims verfolgt.

„Allah verdamme die Juden und Briten in die tiefste Hölle“, knurrte Dawud, nachdem Ibrahim geendet hatte. „Mir tut es sehr Leid um meinen Bruder. Er ist zum Märtyrer geworden. Ein Platz im Paradies ist ihm gewiss. – Was aber, machen wir jetzt mit dir?“

„Ich habe was dabei“, stammelte Ibrahim. Dann zog er aus seinem Burnus die Goldbarren und die Maria-Theresien Taler hervor und knallte alles auf den Tisch. Dawud pfiff anerkennend, als er das kleine Vermögen sah. „Da hattest du aber Glück, dass es die Juden nicht entdeckt haben. Morgen früh, nach dem Gebet gehe ich damit zu meinem Freund, er ist ein ehrlicher Goldschmied, und frage ihn, wieviel das Zeug wohl wert ist. Aber jetzt ist es an der Zeit schlafen zu gehen. Du musst ja hundemüde sein.“ In der Tat, das war er auch. Er wusch sich kurz, legte sich auf einen Teppich und schlief sofort ein.

Ramallah ist eine Stadt in den Palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland. Während des Sechstagekrieges 1967 wurde die Stadt von der israelischen Armee besetzt und von der israelischen Verwaltung übernommen. Erst 1994 wurde Ramallah wieder an die Palästinenser übergeben. Ramallah ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der palästinensischen Autonomiegebiete. Jassir Arafat, der Gründer der Hamas, liegt hier begraben. Die Stadt liegt in den Hügeln Zentralpalästinas, 15 Kilometer nordwestlich von Jerusalem. Ramallah war ursprünglich ein fast ausschließlich von arabischen Christen bewohnter Ort. Erst im Zuge der Ansiedlung von vielen muslimischen Flüchtlingen nach dem Entstehen Israels änderten sich die Mehrheitsverhältnisse. Dadurch hat die Stadt eine muslimische Bevölkerungsmehrheit. Die arabischen Christen bilden jedoch weiterhin eine zahlenmäßig starke Minderheit.

Wie versprochen verließ Onkel Dawud die Wohnung am Morgen. Sorgsam bewahrte er die Goldbarren und die Münzen auf. Nach etwa zwei Stunden kam er wieder zurück. Aus der Tasche seines Burnusses zog er ein Bündel Pfundnoten hervor. „Mein Freund hat mir alles abgekauft, Ibrahim“, strahlte er und knallte das Geld auf den Tisch. „Da sind 25.400 britische Pfund5. Für unsereinen ein kleines Vermögen!“

Ibrahim konnte die Freude seines Onkels nicht teilen. Gut, ein kleines oder größeres Vermögen. Schön. Was sollte er damit aber anfangen? Er, ein entwurzelter Vollwaise.

„Du könntest Ramallah verlassen, vielleicht nach England gehen. Studieren und langsam damit beginnen, deine Rache an den Juden zu planen.“

Er allein? In ein Land, das er nicht kannte, von Ungläubigen bewohnt und dessen Sprache er nicht verstand? „Ich? Allein?“, stammelte er.

Ibrahims Frau kam dazu. Sie hatte das Gespräch zwischen Onkel und Neffe vom anderen Raum aus mitangehört. Sie beugte sich zu ihrem Mann und flüsterte ihm was ins Ohr. Der schaute überrascht, zögerte etwas und nickte dann zustimmend. „Nein, Neffe. Du fährst nicht allein. Wir werden dich begleiten, dich irgendwie gut unterbringen und dann wieder hierher zurückkehren.“

Ibrahim nickte erleichtert.

Die Gossarahas sprachen bei der Irischen Vertretung in Ramallah vor. Die irische deswegen, weil die Engländer keine Vertretung in Ramallah hatten. Dafür war ihnen vermutlich, nach dem kompletten Desaster mit ihrer Nahostpolitik, das Risiko noch zu hoch. Der irische Konsul erwies sich als äußerst entgegenkommend. Er hörte sich an, was ihm Dawud Gossarah über das Schicksal seines Neffen berichtete und dass man plane, nach der Ankunft in Dublin, nach England weiter zu reisen. Als ihm Dawud noch dazu vom Geld erzählte, dass Ibrahim zur Verfügung stünde, wurde er noch entgegenkommender. Die Gossarahs würden dem irischen Staat nicht zur Last fallen. Den Engländern auch nicht. Obwohl ihm die Engländer eigentlich scheissegal waren. Also stellte er ihnen die nötigen Papiere aus. Von Tel Aviv aus – Ramallah besaß keinen Flughafen – ginge in zwei Tagen ein Flug nach Dublin.

Dawud verzog zwar das Gesicht, als er hörte, sie müssten in israelisches Territorium, Ibrahim riss erschrocken seine Augen auf, aber anders ging es halt nicht. Der Konsul beruhigte. Sie bräuchten keine Angst zu haben. Die ausgestellten Papiere wiesen sie als irische Staatsbürger aus und denen würden die Israelis sicher nichts antun. Wie der Konsul prophezeit hatte, war es letztendlich auch.

Die Gossarahs packten einige Sachen ein und fuhren dann zum Flughafen. Die Kontrollen der Israelis waren merkwürdigerweise äußerst lax und sie bestiegen pünktlich eine Maschine der British Airways. Ibrahim hatte einen Fensterplatz ergattert, war entsetzlich aufgeregt und staunte über die Fähigkeit dieses eisernen Vogels so hoch in der Luft zu bleiben. Das kapierte er einfach nicht. Onkel und Tante übrigens auch nicht. „Allah hat seinen Kindern großartige Dinge schaffen lassen“, zeigte sich Dawud anerkennend. „Wir werden ihm immer und ewig dafür dankbar sein!“ Das verstanden alle Gossarahs.

Dublin zeigte sich kalt, windig und verregnet. „Da möchte ich nicht leben“, meinte Dawud. Sie froren. Ihre leichte Kleidung erwies sich als völlig ungeeignet für das irische Wetter. Besonders Ibrahim schüttelte es vor Kälte. Es war höchste Zeit, für andere und wettermäßig passende Kleidung zu sorgen. Ihr erster Weg in Dublin führte sie also in ein Kaufhaus. Obwohl das Warenangebot nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren noch nicht das Vorkriegsniveau erreicht hatte, staunten die Gossarahs über die Fülle von Waren, die sich ihnen darbot. „Das ist ja wie im Märchenland“, wunderte sich Dawuds Frau. „Bei uns gibt es nicht einmal einen kleinen Teil davon!“

Dawud nickte dazu würdevoll. Ein arabischer Mann zeigt seine Begeisterung selten nach außen hin. Er war aber ebenso überrascht und begeistert. Sie kleideten sich alle neu ein und betrachteten sich mit ihren neuen und im englischen Stil gehaltenen Kleidern fasziniert im Spiegel. Ibrahims Tante hatte auf ihren Gesichtsschleier verzichtet und er sah sie so das erste Mal. Sie hatte halblanges schwarzes Haar, durchzogen von einigen grauen Strähnen, einen vollen Mund und sehr gütige Augen. „Tante, du bist schön!“, rutschte es Ibrahim heraus. Die Tante nahm es zur Kenntnis. Anscheinend freute sie sich über das Kompliment ihres Neffen. Ihr Mann verzog geringschätzig sein Gesicht.

Ein Taxi brachte sie zu einem billigen Bread-and-Breakfast am Stadtrand von Dublin. Gleich morgen würden sie von da aus zur Britischen Botschaft gehen und dort ihre Einreise nach England anleiern. Heute hatten mehr als genug erlebt und gesehen. Todmüde fielen sie ins Bett.

Am Morgen regnete es immer noch. Sogar stärker als Gestern. Sie absolvierten das vorgeschriebene Morgengebet und starrten danach missmutig aus dem kleinen Fenster ins verregnete Dublin. „Wir nehmen ein Taxi“, entschied Dawud. So war es dann auch. Der Sekretär in der Botschaft war ein typisch britischer Beamter. Hochgewachsen, überschlank und er verzog keine Miene, als ihm Dawud Ibrahims Geschichte referierte und den Wunsch äußerte, man möge dem Jungen Asyl gewähren, ihn passabel unterbringen und auch für seine Ausbildung sorgen.

„Wer soll denn das bezahlen?“ war seine erste Frage. „Wir sind ein armes ausgeblutetes Land. Die Regierung seiner Majestät kann keinesfalls für die entstehenden Kosten ihres Neffen aufkommen. Unmöglich!“

„Braucht sie auch nicht!“, kicherte Dawud. Mein Neffe verfügt über mehr als zwanzigtausend Pfund zu seiner persönlichen Verfügung!“

„Wo und wie?“, reagierte der Sekretär. Statt einer Antwort zog Dawud die Geldscheine hervor. Die Miene des Briten zeigte erstmals Emotion. Er nahm das Geld in die Hand, prüfte und zählte es. Dann nickte er. Fast wohlwollend. „Na ja, dann schaut die Sache schon besser aus. Die Regierung seiner Majestät bietet ihrem Neffen selbstverständlich Schutz und Obhut. Ich empfehle ihrem Neffen sich in der Stadt Blackburn niederzulassen.“

Blackburn? Keiner der Gossarahs hatte diesen Namen jemals gehört. „Blackburn?“, erkundigte sich Dawud. „Warum gerade in Blackburn?“

„Die Stadt Blackburn in der Grafschaft Lancashire im Nordwesten Englands. Sie hat in etwa 150.000 Einwohner, 52 Moscheen und in den Schulklassen werden bis zu 90 Prozent islamische Kinder unterrichtet. In dieser Stadt, so meine ich, wäre ihr Neffe am besten aufgehoben.“

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Zeit der Drachen

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