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Оглавление„Bildung – Privilegien – Schule“
Von Heinz Hülsdünker
Endlich! Monatelang fieberte ich meiner Einschulung entgegen. Meine Geschwister und die Kinder in der Nachbarschaft – jedenfalls die, zu denen man so „aufblickte“ – gingen ja auch alle dorthin. Die da noch anwesenden jüngeren Kinder, auch meine „kleine“ Schwester, waren ja eh weder „Maßstab“ noch interessant.
In der Klasse, unter uns I-Männchen, fand ich mich schnell zurecht. Es war ja auch sehr gut überschaubar mit acht Kindern – zumal wir uns ja teilweise schon länger kannten. In der Schule, d.h. in dem Klassenraum, hier in einer Bankreihe platziert, war´s auch übersichtlich. Wir I-Männchen saßen in der ersten von vier Bankreihen, direkt neben der wenig einladenden dunklen Wand – i-Männchen eben. Blickte ich nach links, hin zur Fensterseite des Raumes, folgten dann drei weitere Bankreihen – ebenfalls je eine Klassenstufe. Am Fenster bzw. in der Fensterreihe zu sitzen war das Ziel eines jeden hier. Es war das Privileg der ältesten Schüler - der Viertklässler. Schaffte man eine ebenso lange Schulprozedur über vier Bankreihen ein zweites Mal, aber in dem anderen Raum der Endelner Schule, war die Volksschulzeit geschafft.
Von meinem neuen Platz in der Bankreihe und in der Blickrichtung zum Fenster war das Gewusel, die Lautstärke und natürlich Alter und Körpergröße der dort platzierten Schüler deutlich ansteigend. Und wenn die Hälfte aller Schüler einer achtklassigen Volksschule in einem Raum vereint ist, so bringt das eben bewegungsreiches, pulsierendes und lautes Leben mit sich; auch dann, wenn Fräulein Lehrerin - wie in dieser Zeit und dieser Schule üblich - auf einem Podest und Katheder thronte.
Bei so einem Blick zur Fensterseite des Raumes war´s dann gar nicht mehr so anheimelnd; und bekannt waren mir die vielen Gesichter, die ich dabei entdecken konnte, schon gar nicht. Das änderte sich erst im Laufe der Zeit.
Einen gewissen „Halt“ im Raum fand ich immerhin und immer wieder – zumindest mit den Augen – in der zweiten und dritten Bankreihe. Da konnte ich direkt in der Nebenreihe schnell meinen Bruder ausfindig machen. In der dann folgenden dritten Bankreihe saß ein Cousin – ein richtig gut bekannter Cousin. Schließlich spielten wir schon in frühen Kindertagen häufig zusammen; manchmal „Zeche“ in unserem Sandkasten und hin und wieder – mit zunehmenden Alter – Fußball. Aber das nur unter den „dicken Böcken“ in Holtkamp´s Busch. Zum Schulhof, wo sich richtige Tore befanden, aber auch viele andere Jungs spielten, durfte ich nachmittags nicht. Anlässlich von Namenstagen sahen wir uns auch immer – dann adrett angezogen mit einer obligaten „Novesia-Goldnuß“ Schokolade als Namenstagsgeschenk. Mal war sie zu verschenken, mal hat man sie bekommen, im steten Wechsel.
Diese vertrauten Gesichter in der zweiten und dritten Bankreihe gaben mir also ein wenig Sicherheit in dem neuen Umfeld. Dieser „Sicherheit“ stand allerdings die Sitzverteilung bzw. die Sitzvorgaben seitens der Lehrerin entgegen! Ich musste neben einem Mädchen sitzen! Das war ein schweres Los, traf aber alle Jungs meines Jahrgangs. Kein Wunder, wenn von acht Schülern vier „anders“ waren. Und die in der pädagogischen Fachwelt gerade entdeckten Vorzüge der Koedukation fanden hier in unserer Endelner Volksschule ganz konkrete Anwendung. Das mussten wir Jungs „aushalten“. Allerdings war es hier ansonsten eher etwas rückständig: schließlich konnten wir Jungs in der Klasse keine „Lieblingsschüler“ von Fräulein Lehrerin werden. Ob wir das tatsächlich gewollt hätten – bei einem kurz vorm Pensionsbeginn stehenden, sehr fraulichem bis korpulentem Fräulein – mag ich nicht mehr genau erinnern.
Viele Jahre später: Heinz Hülsdünker als Berufsschullehrer vor „seiner“ Berufsschule in Neubrandenburg
Einschränkend sei aber erwähnt, dass einer von uns Jungen – er war übrigens nicht in der Lage „richtig“ Fußball zu spielen – quasi zu den Mädchen „überlief“ und den Status „Lieblingsschüler“ erreichte. Seine etwas zierlichere Art, vielleicht auch ein etwas feminineres Erscheinen mit den langen blonden Haaren begünstigte diesen „Überlauf“ ebenso wie die Tatsache, dass unser Fräulein Lehrerin häufig bei seinen Eltern verkehrte.
Bei ihrer täglichen Fahrt mit dem Fahrrad zur Arbeit, d.h. vom Dorf Lembeck hin zur Schule in der Bauernschaft Endeln und zurück, passierte Fräulein Lehrerin nämlich das Gehöft, das Zuhause des Schülers. Bei diesen Gelegenheiten wurden – was ich so mitbekam – immer wieder „Nettigkeiten“ ausgetauscht; mal in Form von kurzen Gesprächen über Neuigkeiten im Dorfleben, bisweilen aber auch in Form von Naturalien; eben Lebensmittel vom Bauernhof oder gar einer Mitgift aus den Beständen, der mit Brennrechten erzeugten Produkte. Genaueres aus der damaligen Gerüchteküche und aus Überlieferungen: bei mir Fehlanzeige. Dass die Beziehung zur Familie des Mitschülers ungewöhnlich intensiv war, lag wohl auch darin begründet, dass zwei ältere Schwestern die vier Klassen der Volksschule bei Fräulein Lehrerin - ebenfalls sehr erfolgreich - durchlaufen hatten. Resümierend ist zu konstatieren, dass das „Lieblingskind“ – neben den Mädchen – für unser Fräulein Lehrerin gefunden war.
Lieblingskind und Mädchen. Da gab es aber noch eine erwähnenswerte Einschränkung: Dumm durfte eine Schülerin nicht sein! Konnte ein Mädchen diese Bedingung nicht erfüllen, so drohten starke Erziehungs- bzw. Sanktionsrituale, fast täglich und anlasslos kamen die dann zur Anwendung. Schläge! Backpfeifen! Nackenschläge! Bis Tränen flossen. Manchmal über Wochen! Uns Jungen traf diese Form der Erziehung selbstverständlich auch, fast wie ein Naturgesetz.
Eine gewisse Unruhe in der Klasse und vielleicht mein allgemeines Desinteresse am Lernstoff ließ auch mich einmal von unterrichtlichen Aufgaben abschweifen. Die langen Haare der vor mir sitzenden Mitschülerin und das vollgefüllte Tintenfass in unserer Schulbank fanden gerade mal mein besonderes Interesse. Nicht das übliche, etwas neckende Ziehen am Zopf oder ähnliches war angesagt, sondern in all meiner Experimentierfreude kam es zu einer „Farbprobe“ mit dem echten, zuvor aus einer großen Vorratsflasche in jedes Bank-Tintenfass eingefüllte, „Königsblau“ von Pelikan. Obendrein dann noch der ein oder andere Tropfen auf Bank und Hefte und auch auf dem Fußboden ließ Fräulein Lehrerin mehr als aufmerksam werden. Die klassische Erziehungsmaßnahme wurde prompt und furios angewandt. In dieser Situation kam intuitiv unser brüderlicher Zusammenhalt zur Geltung. Josefs kurzer Warnruf: „Heinz pass auf!“ war die Ankündigung für das unmittelbar drohende Unheil in Form der üblichen Nackenschläge. Meine sofortige Reaktion: „Kopf runter“ ließ den ersten Schlag von Fräulein Lehrerin ins Leere sausen. Nähere Ausführungen zu den dann folgenden, wegen des ersten „Fehlschlags“ vielleicht noch etwas engagierter angewandten Erziehungsmaßnahmen seitens Fräulein Lehrerin sollen an dieser Stelle unerwähnt bleiben. - Ein Indianer kennt keinen Schmerz!
Bezüglich des Status „Lieblingsschüler“ bei Fräulein Lehrerin gab man bisweilen auch mal sein Bestes bzw. konnte Dinge machen, die eher nicht geahndet wurden. So hatten wir, die treuen Kirchgänger, Kinder von alteingesessenen, bodenständigen Familien, die auch als Messdiener an der Endelner Kapelle in kirchliche Pflichten eingebunden waren, – nicht nur an Herz Jesu Freitag! – das Privileg, bei den üblichen kleineren Rangeleien während des Nachhauseweges von der Schule auch schon mal in konzertierten Aktionen Mitschülern zu zeigen, wer die Stärkeren waren. Ging diese Lektion mal gegen Flüchtlingskinder, die obendrein evangelisch waren – ja eben „Zugezogene“ -, dann blieben die klassischen Erziehungsmaßnahmen am folgenden Tag – oh Wunder! - aus. Aber wehe die „Demonstration der Stärke“ war mal gegen „ordentliche Mitschüler“ gerichtet – dann gab´s am folgenden Vormittag sofort – obwohl die „Klapp-Stunde“ (Anmerkung: Klapp-Stunde: abgeleitet von „verklappen“ bedeutet so viel wie „petzen“, „verpetzen“) noch gar nicht vorbei war - die gefürchteten, manchmal tränenreichen Erziehungshilfen. Die „Handschrift“ unserer Fräulein Lehrerin war nicht ohne.