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Tod eines Grenzgängers
ОглавлениеÜber den Mord ist inzwischen einiges bekannt. Das Opfer war ein rund 45 Jahre alter, drahtiger Mann. Seinem Zahnschmelz nach zu schließen stammte er aus der Gegend. Seine Gelenke sind nur wenig abgenützt, ein Zeichen, dass er nicht schwer arbeiten musste. Vielleicht jemand von besserem Stand. Dafür sind seine Bandscheiben nicht mehr die besten, und Gallensteine deuten auf einen hohen Cholesterinspiegel hin. Möglicherweise die Folge einer fleischlastigen Kost. Etwa eine Stunde vor seinem Tod gönnte er sich noch eine ordentliche Mahlzeit: Brot sowie ein Stück Steinbock und Hirsch. Der ungefähre Todeszeitpunkt: Frühling, zwischen 3359 und 3105 v. Chr.
Seit Ötzi 1991 hoch über dem Schnalstal aus dem Gletscher taute, machen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vieler Disziplinen an ihm rum. Trotz des hohen Alters der Mumie finden sie erstaunlich viel über den „Mann aus dem Eis“ und seine Zeit heraus: über sein Y-Chromosom eine entfernte Verwandtschaft mit jenem Schlag, der heute in Korsika und Sardinien zu Hause ist; dass sich mit seinen Pfeilen und dem selbstgebauten Bogen ein Reh noch aus 50 Metern Entfernung erlegen lässt; dass sein Kupferbeil aus einem Erz der südlichen Toskana geschmolzen wurde.
Doch was wollte er so hoch oben am Similaun , am Übergang ins Ötztal? Und wer hat ihm jenen Pfeil mit einer Spitze aus Feuerstein in den Rücken geschossen, an dem er schließlich starb? Trotz aller Forschung ist über die frühen Menschen im heutigen Tirol noch vieles Spekulation.
Die allerersten, die sich hier herumtrieben, waren wohl Neandertaler – vor vielleicht 120.000 Jahren, als zwischen einer Kaltzeit und der anderen das Klima für eine Weile erträglicher war. Die ersten noch vorhandenen menschlichen Spuren sind ca. 30.000 Jahre alte Reste von Wurfspeeren aus Bärenknochen. Sie sind bereits ein Werk des Homo sapiens. Er dürfte in einer erneuten Warmphase von Süden her in die Alpen vorgedrungen sein, bis ihn die vorerst letzte Kaltzeit wieder vertrieb.
Sie endete vor rund 12.000 Jahren. Die Gletscher zogen sich in größere Höhen zurück, Flora und Fauna breiteten sich wieder aus, und irgendwann war auch Homo sapiens wieder da. Vorerst als Jäger in kleinen Gruppen, mit inzwischen besseren Waffen: mit Speerspitzen und Dolchen aus messerscharfem Feuerstein, wie auch Ötzi noch einen bei sich trug.
Zu seiner Zeit, am Übergang von der Stein- zur Kupferzeit, hatten die Menschen auch im Alpenraum begonnen, sesshaft zu werden und Ackerbau zu betreiben (ohne je ganz von der Jagd zu lassen; noch heute gibt es in Südtirol über 6000 Jäger, mehr als Weinbauern). An sonnigen Hügeln entstanden erste Siedlungen. Ganglegg im Vinschgau zum Beispiel, wo ungefähr zu Ötzis Lebzeiten erste Siedler Hütten bauten und sich an Nutzpflanzen versuchten. Forschungen an diesen prähistorischen Siedlungen und an Ötzi selbst, an seiner im Eis konservierten Kleidung, seinen 61 Tätowierungen, seinen Waffen und seinem Feuerzeug ermöglichen eine ungefähre Rekonstruktion des Lebens in dieser Epoche.
Aus Resten von Mauerwerk, aus Werkzeugen und Schmuck ist zu schließen, dass es dann in der Bronzezeit schon recht viele Siedlungen gab – bewohnt von einzelnen Stämmen, die man später als Räter bezeichnete. Allein auf dem bewaldeten Plateau an der Westseite des Schlern, zwischen den heutigen Ortschaften Völs und Kastelruth, gab es ein halbes Dutzend Siedlungen. Die Bewohner trafen sich oben auf dem Schlern zu Festen und rituellen Opfern. Das jedenfalls wollen Archäologinnen und Archäologen aus Knochenresten, Aschen und Keramikscherben herausgelesen haben. Und am Fuß des Schlern, bei Hauenstein , hat jemand ein verziertes Bronzeschwert liegen lassen, vielleicht ebenfalls ein ritueller Akt. Das alles ist natürlich kein Vergleich zum sensationell gut erhaltenen Ötzi. An die 300.000 Besucherinnen und Besucher kommen Jahr für Jahr in sein Museum in Bozen, um ihn durch ein kleines Fenster in seiner Tiefkühlkammer zu bestaunen.
Oben am Similaun lag Ötzi nur 92,56 Meter vor der Grenze zu Österreich. Zum Glück für Südtirol und sein Tourismusmarketing spannte der Mörder seinen Bogen nicht etwas später. Einige Schritte weiter, und Ötzi wäre jenseits der Demarkationslinie umgefallen, die seit 1919 die Staatsgrenze zwischen Italien und Österreich markiert. Dann wäre die älteste bekannte Mumie der Welt heute im Besitz von Nordtirol und läge nicht in Bozen, sondern in Innsbruck. Nicht auszudenken.