Читать книгу Jetzt spuck's endlich aus - Josefine Melanie Klingner - Страница 10
ОглавлениеMit den Kontaktdaten der Sprachheilschule in der Tasche, machten sich meine Mutter und ich nach dem letzten Besuch bei der Logopädin auf den Weg nachhause. Wenige Tage später vereinbarte meine Mutter bereits einen Termin mit der Schulleiterin. Diese lud uns ein, die Schule und das dazu gehörige Internat zu besichtigen, um einen ersten Eindruck zu erhalten. Sie würde uns herumführen und wir könnten uns alles einmal anschauen. Gesagt, getan. Wir fuhren bald darauf nach Leipzig.
Für meine Kinderaugen war die schiere Größe dessen, was sich nach einer guten halben Stunde Autofahrt vor mir als Schule auftat, nicht zu erfassen. Ein riesiger mehrstöckiger Komplex mit mehreren Gebäudeteilen, Schulhof und Grünanlagen. Eine gewaltige Waschbetonfassade brachte mich zum Staunen. Große Braune Fenster waren von innen mit Basteleien beklebt. Vom Gehweg aus eröffnete ein kurzer, aber breiter Vorplatz das riesige umzäunte Areal. Eine breite Treppe mit einer Hand voll Stufen führte hinauf zum Eingangsbereich. Vier Flügeltüren reihten sich aneinander. Sie waren ebenfalls braun und hatten getönte Glaseinsätze.
An der Hand meiner Mutter stieg ich Stufe für Stufe hinauf Richtung Tür. Wir betraten das Gebäude. Aus seinem Pfortenhäuschen Seite begrüßte uns ein besonderer Mann. Es war der Pförtner. Das hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ein Mann, der in einem Glaskasten sitzt und aufschreibt, wer da vor ihm steht. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und presste neugierig meine Wange an die Scheibe, um zu sehen, was alles auf seinem Schreibtisch stand. Ich sah eine große Telefonanlage mit unzähligen Knöpfen und Schaltern. Einige leuchteten oder blinkten. Ich sah zu ihm hoch und er sah mir grinsend in die Augen. Ich sank von meinen Zehenspitzen zurück auf meine Füße und ging einen Schritt vom Pförtnerhäuschen zurück. Meine Mutter trat vor und meldete uns bei ihm an. Er bat uns einen Moment zu warten und nahm den Telefonhörer, um zu telefonieren.
Dort standen wir also und warteten in einem riesigen Foyer mit großen dunklen Mamorfliesen, die blau-schwarz und dunkelgrün schimmerten. Sie glitzerten auch bisschen. Einige Erwachsene und Kinder liefen an uns vorbei und verschwanden nacheinander in einem der unzähligen Gänge. Ich wusste gar nicht recht, wo ich hingucken sollte.
Lange Fensterfronten links und rechts des Foyers boten mir einen Blick in die Gärten, die sich auf beiden Seiten um das Gebäude herum befanden. Der rechte war eine Grünanlage und wirkte auf mich fast wie ein Dschungel. Große Pflanzen, Hecken, Büsche und Bäume und einem dunklen grün reihten sich wild aneinander. Der Garten auf der linken Seite wurde als Schulhof und Spielbereich genutzt. Alles war so groß, dass meine Augen schon müde wurden. Ich stand schüchtern und beeindruckt neben meiner Mutter und hielt ihre Hand ganz fest.
Kurze Zeit nach meinem optischen Rundflug wurden wir von der Schulleiterin empfangen und der Rundgang durch die Sprachheilschule und das Internat begann. Während ich aus dem Staunen nicht mehr rausfand und meine Augen immer müder wurden, ließ sich meine Mutter geduldig von A bis Z alles erklären. Entstehungsgeschichte, Betreuungs- und Therapiekonzept, Auslastung des Internats, Kindergartenbereich, Schultrakt, Tagesablauf, Freizeitangebote, Schlafräume, Außenanlage mit Spielplatz, Umgebung und so weiter.
Die Leiterin führte uns währenddessen durch die Räume. Als wir im Speisesaal ankamen, traute ich meinen Augen kaum. Es war der größte Raum, den ich jemals gesehen hatte. Ich konnte schon zählen, aber es waren zu viele Stühle und Tische, die in mehreren Reihen den gesamten Raum ausfüllten. An der hinteren Wand hing ein riesiges Holzmosaik. Es zeigte verschiedene Märchenfiguren, wie Rotkäppchen und mit dem bösen Wolf oder die sieben Geißlein mit ihrer Mutter. Mit meinen kleinen Fingern tastete ich die Erhebungen ab. Auch das hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn berührt.
Immer mal wieder wandte sich meine Mutter zu mir und wies mich auf etwas hin, von dem sie dachte, dass es mich besonders begeistern könnte. Auch fragte sie, ob mir gefallen würde, was ich sah. Sie erklärte mir, wozu das eine oder andere gut oder nötig war. Ich nickte wohl bei allem, was mir gezeigt und erklärt wurde ohne es wirklich in Gänze zu erfassen. Ansonsten war dieser Besuch für mich nicht direkt damit verbunden, in naher Zukunft dort zu leben. Dieser Gedanke war noch weit weg von mir. Dass ich bald an diesem Ort spielen, essen, schlafen, lernen und damit leben würde, war für mich noch nicht zu begreifen. Ich war beeindruckt von dem, was ich sah. Ich war neugierig und fand vieles klasse, aber eben wie bei einem Ausflug, als Abenteuer und danach ging es wieder nachhause.
Als der Rundgang beendet war, besprachen meine Mutter und die Schulleiterin noch die Formalien, während ich wieder neben dem Pförtnerhäuschen im Foyer stand und versuchte, das Gesehene in meinem kleinen Kopf zusammenzupuzzeln. Meine Mutter rief mich zu sich, wir verabschiedeten uns von der Leiterin und traten die Rückfahrt nachhause an.
Aus späteren Gesprächen mit meiner Mutter weiß ich, dass sie vom Gesamtkonzept überzeugt war. Sie war sich sicher, dass ich dort in guten Händen wäre. Kurz nach unserem Besuchertag meldete mich meine Mutter daher im Kindergarten der Sprachheilschule an.
„Bald bin ich weg.“ Mit diesem Satz hüpfte ich dann Mitte des Jahres 1989 durch meine Kindergartengruppe. Zugegeben es musste sich anders angehört haben. Weniger flüssig. In etwa so: „Ba-Ba-Ba-Ba-Bald bin i-i-ich w-w-w-w-weg.“ Diesen letzten Tag in meinem alten Kindergarten verbrachte ich mit meinen Freundinnen und Freunden, malte meiner Lieblingserzieherin ein letztes Bild, im Garten tobte ich ausgelassen und ich lachte mich über irgendwelche Dinge schlapp. Ich war unbeschwert und fühlte mich wohl. Alles war wie immer. Mit einem Unterschied. An diesem Freitag sagte ich nicht „B-B-B-Bis Mo-Mo-Mo-Mo-Montag!“, an diesem Freitag war der Abschied für länger, was ich allerdings nicht wirklich begriff. Ich wusste ja nicht, dass ich meine Freundinnen und Freunde aus dem Kindergarten erst knapp fünf Jahre später wiedersehen würde. Das klingt heute total verrückt, aber so war es. Niemand wusste oder konnte sagen, wie lange ich im Internat bleiben musste.
Aufregung und Vorfreude waren ein besonderer Cocktail, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer mir den eingeflößt hatte. Vermutlich aber meine Mutter und all die anderen Zuspruch spendenden Stimmen, die mir sagten, wie toll es im Internat sei und dass mein Stottern dadurch besser werden würde. Ich wurde vom guten Zureden angesteckt und war schon ganz aufgeregt. Ich in der großen Stadt. Ich im Internat. Der Tag rückte immer näher.