Читать книгу Jetzt spuck's endlich aus - Josefine Melanie Klingner - Страница 6
ОглавлениеWir lebten in einer Kleinstadt, gut 25 Kilometer südwestlich von Leipzig. Wir. Das waren meine Mutter, mein Vater, meine beiden Brüder und ich. Jeden Morgen fuhr meine Mutter mit dem Fahrrad die drei Kilometer ins Nachbardorf zur Arbeit, nachdem sie mich und meinen knapp ein Jahr älteren Bruder zuvor im Kindergarten ablieferte. Mein ältester Bruder war zu dieser Uhrzeit meist schon in der Schule. Da mein Vater als Baggerfahrer im Schichtbetrieb arbeitete, hatte er das Haus entweder bereits verlassen oder musste erst später los. Am Nachtmittag spielten wir Kinder zuhause, bis meine Mutter zum Abendessen rief und gingen im Anschluss daran nacheinander in die Badewanne und bald darauf ins Bett. Am kommenden Tag wiederholte sich alles in etwa auf die gleiche Weise. Wir waren eine Durchschnittsfamilie, wohnten in einer Durchschnittskleinstadt und führten ein Durchschnittsleben. Zumindest aus dieser Perspektive.
Als 4-jähriges Mädchen hatte ich keine Ahnung davon, dass mein Vater seit Jahren vor und nach der Arbeit zur Kellertreppe abbog, um dort noch einen kräftigen Schluck aus der Schnapsflasche zu nehmen, bevor er diese wieder hinter einem losen Ziegel in der Mauer versteckte. Meine Mutter wusste das. Sie hörte ihn. Sie roch es. Sie kannte seine Verstecke, die Mengen und Marken. Sie wusste auch, dass sie schon jahrelang machtlos gegen den Suff war und hoffte dennoch, dass es irgendwann besser werden würde und dass mein Vater aufhörte zu trinken. Aus dieser Perspektive gehörte also noch der Durchschnittspegel meines Vaters zu unserem Durchschnittsleben.
Gegen sein Verlangen nach dem Alkohol, gegen die leeren Versprechen und gegen die Abwärtsspirale, die sich durch den Suff und seine Auswirkungen immer tiefer durch die Beziehung meiner Eltern hindurch und zugleich in unsere Familie hineinfraß, hatten alle Beteiligten keine Chance. Der Durst meines Vaters war immer da und blieb, genau wie der Alkohol.
Wenn Blut redensartlich dicker ist als Wasser, ist der Alkohol der Stoff, der Blut und Blut zu trennen vermag. In diesem Fall meinen Vater von seiner Familie. Er hat nie seine Hand gegen uns Kinder oder meine Mutter erhoben. Unerträgliche und unsägliche Dinge geschahen trotzdem. Das Zusammenleben mit meinem Vater war für meiner Mutter zu einer emotionalen und körperlichen Belastung geworden. Die Streitigkeiten wurden häufiger und seine Alkoholverstecke immer absurder. Bis sein Bemühen, die Flaschen zu verstecken, weniger wurde und er es gar nicht mehr verbarg. Mein Vater trank immer mehr und noch mehr, während das Leben mit ihm für uns alle immer schwerer und schwerer wurde. Irgendwann wich dann die Hoffnung meiner Mutter einer nüchternen Klarheit. Mein Vater würde sich nicht ändern.
„Es ging nicht mehr.“ Sagte meine Mutter über Dreißig Jahre später zu mir, als ich sie fragte, was damals passiert sei und was vielleicht mit meinem Stottern in Verbindung stand. Sie war sich sicher, dass wir Kinder, ihren Kummer und Stress nicht etwa nur hautnah miterlebten, sondern auch in uns aufnahmen. Bereits als meine Mutter mit mir schwanger war, wurde das Trinken meines Vaters erst mehr und dann schlimmer und er selbst wurde laut und unerträglich. Unkontrolliert. Sie musste etwas tun, sich und uns Kinder schützen. Sie warf ihn mehrmals aus der Wohnung, weil alles Reden, jeder Appell an die Vernunft keine Chance gegen seine vom Suff vernebelten Sinne hatte.
Ich war also von meinem ersten Herzschlag an stets dabei, als die Sorgen und der Kummer meiner Mutter zu einem festen Bestandteil ihres Lebens wurden. Aber erst als ich vier Jahre alt war, kam für meine Mutter der Zeitpunkt der Kapitulation. Die Trennung war unvermeidlich. Damit wurde nicht nur die Paarbeziehung meiner Eltern, sondern auch die Beziehung von uns Kindern zu unserem Vater beendet.
„Es war ein längst überfälliger Schritt.“ Erklärte mir meine Mutter später.
„Es ging nicht mehr, es wurde immer schlimmer. Er war laut, hat randaliert. Ich musste euch beschützen.“ Für meinen Vater war es nicht mehr möglich, uns nüchtern zu begegnen, sich um uns kümmern, mit uns zu spielen und uns damit ein Vater zu sein. Wenn das überhaupt jemals der Fall war.
Die Trennung meiner Eltern war das Ende eines jahrelangen Prozesses der von Höhen und Tiefen, andauernden Konflikten, Niederlagen und kleinen Siegen, sowie Anspannungen, Streitereien und der immerwährenden Hoffnung meiner Mutter geprägt war, das irgendwie doch hinzubekommen. In so einem Prozess sind immer die Kinder diejenigen, die das damit einhergehende Leid der Eltern mittragen und nicht selten in Loyalitätskonflikte rutschen.
Mit den eigenen Wunden beschäftigt, ist es für Eltern meist schwierig bis unmöglich, sich auf neutralen Posten zu begeben und das Kind bei seinen Gefühlen wie Trauer, Wut, Schuld, Hilflosigkeit und dem ganzen Trennungsschmerz zu unterstützen. War die Trennung meiner Eltern und der Schmerz meiner Mutter die Auslöser für mein Stottern?
„Gut möglich.“ Antworte mir meine Mutter, als ich sie direkt darauf ansprach. Denn als meine Mutter meinen Vater endgültig rauswarf, kapitulierte meine Sprache fast zeitgleich und ich zog mich zurück. Unbemerkt von meinem Umfeld trat ich schrittweise den inneren Rückzug an. Ich spürte, dass meine Mutter regelrecht am Anschlag war und nicht noch mehr tragen konnte. Sie versuchte uns und sich zu schützen, indem das Thema, also die Trennung meiner Eltern, zu keinem Thema gemacht wurde. Damit fehlte mir aber nicht nur die Anlaufstelle, die ich gebraucht hätte, sondern auch eine Erklärung für das, was ich miterlebte, auch wenn keiner darüber sprach.
Meine Mutter erklärte mir damals nicht, weshalb mein Vater weg war. Er war es einfach. Ich verstand als kleines Mädchen von vier Jahren nicht, warum mein Vater plötzlich weg war. Wie sollte mir meine Mutter auch verständlich erklären, dass mein Vater alkoholkrank war und sie sich deshalb von ihm trennte? Trafen wir meinen Vater auf der Straße, schauten wir weg und gingen an ihm vorbei, als würden wir ihn nicht kennen. Wir gingen einfach weiter. Das liest sich erst einmal hart, aber meine Mutter sah nicht nur meinen Vater, sondern einen alkoholkranken, betrunkenen Mann mit seiner ebenfalls betrunkenen neuen Freundin, der Schwierigkeiten hatte, sein Gleichgewicht zu halten. Aufgeschwemmt und ungepflegt. Es war ihr Mutterinstinkt, der das Zepter übernahm und die Gefahr von uns Kindern fernhalten sollte. Sie tat in diesen Momenten das, was sie für richtig hielt und was für uns das Beste war. Sie wollte mir und meinen Brüdern damit nicht wehtun, uns schaden oder uns den Vater vorenthalten. Sie wollte mich und meine Brüder beschützen.
„Dein Vater war kein Teufel. Er war Alkoholiker. Ich wollte nicht, dass ihr das weiter mitbekommt.“ Sagte meine Mutter. Und auch wenn sie damals keinen anderen Ausweg außer den des Kontaktabbruchs sah, blieb er mein Vater und Teile in mir vermissten ihn. Ich war traurig, so viel steht fest, denn jede Trennung hinterlässt Spuren, auch wenn sie im ersten Moment nicht erkennbar sind. Ich konnte es meiner Mutter nur nicht zeigen und sie konnte es nicht sehen. Das ist das, was ich heute weiß. Irgendwie waren wir alle Verlierer der damaligen Zeit und der damaligen Kämpfe.
Mein Vater war krank und kämpfte gegen den Suff. Meine Mutter war über fünf Jahre Zeugin dieses Kampfes und sah mit an, wie der ewige Kampf letztlich doch verloren ging. Dabei verlor ich meinen Vater und sie ihren Partner. Beide, meine Mutter und mein Vater, haben das getan, was ihre Kräfte hergaben. Auch wenn sie auf beiden Seiten nicht reichten.
Als ich in dieses Familienkapitel blickte, verstand ich, dass meine Mutter bei allen guten Absichten nicht gewährleisten konnte, dass niemand emotional zu Schaden kam. In diesem Fall war ich die, die wohl nicht unbeschadet blieb. Aber ich fand noch mehr heraus. Denn die Trennung meiner Eltern war nicht das einzige Beben in unserer Familie.
Im selben Jahr verstarb die Großmutter meiner Mutter und meine Oma – die Mutter meiner Mutter – nahm sich zwei Wochen nach meinem vierten Geburtstag das Leben. Als hätte die Trennung meiner Eltern nicht genug Schmerz, Wut, Trauer und Hilflosigkeit in unsere Familie gebracht, kam das noch hinzu.
Ich kann mir kaum vorstellen, welche Gefühle diese Ereignisse in meiner Mutter ausgelöst haben müssen und welche Spuren dieses Jahr in ihr hinterließ. Welchen Schmerz, welche Wut und Traurigkeit sie in sich trug oder heute noch trägt. Diese Flut an Emotionen, die vielleicht drohte, sie umzureißen. Die Ungläubigkeit angesichts dessen, was da über sie hereinbrach. Die nicht enden wollende Ohnmacht. Ich frage mich heute, welche Fragen sie verfolgten oder noch verfolgen und wie sie es dennoch schaffte weiterzumachen. Gesprochen haben wir über all das nie. Aber auch ohne mit ihr darüber zu sprechen, war mir die Kraft dieser Ereignisse und die Emotionen, die sie nicht teilen wollte, bewusst.
Für meine Mutter, Brüder und mich brachen damals, es war das Jahr 1988, keine neuen Zeiten an, sie fielen ohne Vorwarnung über uns herein und begruben die Vergangenheit und unser damaliges Leben unter sich. Ein Schicksalsschlag folgte auf den anderen, was wohl besonders in meiner Mutter und vermutlich von ihr auf mich übertragen, auch in mir emotionale Spuren hinterließ. Als ich in der Badewanne saß und meine Mutter zu mir rief, waren diese Spuren dann auch deutlich hörbar.
Irgendetwas wollte ich meiner Mutter erzählen, aber ich konnte es nicht auf die Weise, wie ich und auch meine Mutter es gewohnt waren. Mir blieben die Worte förmlich im Halse stecken. An das, was ich sagen wollte, können sich weder meine Mutter noch ich selbst erinnern, aber wir wissen, dass es weder vor noch zurück ging. Die Worte blieben einfach in mir stecken. Ich versuchte es wieder und wieder, aber alles was ich zustande brachte, war das starre Wiederholen des Anfangsbuchstabens dieses einen Wortes, was eben da in meinem Hals feststeckte. Und darauf das nächste Wort, welchem wieder andere folgten. Ich wusste nicht, was da gerade mit mir passierte, woher das kam, warum sich das so schlimm anhörte und auch meine Mutter war erschrocken und ratlos. Zwar hatte ich bereits ein wenig gestottert, aber das, was ich in der Wanne sitzend von mir hören ließ, war eine ganz andere Dimension. Auch weil es nicht beim Stottern blieb.
Denn etwa zur gleichen Zeit begann ich, nachts immer wieder einzunässen. Meiner Mutter machte sich große Sorgen und suchte mit mir unseren Hausarzt auf. Da dieser allerdings keine organischen Ursachen feststellen konnte, überwies er mich wegen meines Stotterns an eine Logopädin und vermutete, das Einnässen stünde damit in Zusammenhang.
Bei der Logopädin sagten wir zuerst dem Einnässen den Kampf an. Ich bekam von ihr einen Kalender, den ich mir im Kinderzimmer übers Bett hängte. Ein handelsüblicher Wochenkalender mit großen Tagesfeldern. Wenn ich morgens aufwachte und mein Bett trocken war, durfte ich eine gelbe, strahlende Sonne in den Kalender malen. Große Freude inklusive. War das Bett hingegen nass, malte ich eine Regenwolke mit Regentropfen. Eine denkbar einfache Sache, die nach wenigen Wochen Erfolg brachte. Ich nässte nicht mehr ein.
Das Stottern jedoch blieb. Dahingehend lief es weder wie erwartet noch wie erhofft. Waren es zu Beginn wenige Worte und Sätze, in denen sich mein Stottern bemerkbar machte, konnte ich trotz der Logotherapie schon bald keinen einzigen Satz mehr herausbringen, ohne mehrmals darin stecken zu bleiben. Wenn ich ihn überhaupt fehlerfrei starten konnte. Das Sprechen nahm so viel Zeit in Anspruch, dass es eine einzige Anstrengung war. Nicht nur für mich, auch für meine Zuhörer. Dazu kam, dass ich mich zurückzog, mich immer mehr für mein Stottern schämte und spürte, dass da etwas nicht stimmte. Nur wussten weder ich noch die Erwachsenen um mich herum, was das genau war. Das wiederum führte dazu, dass ich noch unsicherer wurde und sich mein Stottern immer weiter festsetzte. Ein Teufelskreis.
Bei der damaligen Suche nach der Ursache meines Stotterns tappten alle Beteiligten im Dunkeln. Damals gab es weder Google, noch war das Stottern nur annährend so erforscht wie heute und selbst in der heutigen Zeit, sind noch unzählige Fragen offen. Prinzipiell sei Stottern bei Kindern bis zum neunten Lebensjahr nichts Ungewöhnliches. Das wussten meine Mutter als Pädagogin und die Logopädin aus ihren Studienjahren. Bei mir war es allerdings anders. Durch das Einnässen und die Verschlechterung meines Stotterns ging die Logopädin nicht davon aus, dass ich zu den Kindern gehörte, bei denen die Stottersymptome einfache Entwicklungsmerkmale waren, von allein kamen und von allein wieder verschwinden würden. Sie hakte also bei meiner Mutter nach.
Gegenüber der Logopädin äußerte meine Mutter dann die Vermutung, dass es eventuell einen Zusammenhang zwischen den familiären Ereignissen, besonders der Trennung meiner Eltern und meinem Stottern geben könnte. Der enorme Stress meiner Mutter, so ihre eigene Vermutung, könnte mir nicht verborgen geblieben sein. Diese Äußerung brachte nicht nur das benötigte Licht ins damalige Dunkel der Ursachenforschung, sondern auch einen großen Stein ins Rollen. Für meine Mutter und die Logopädin ergaben sich aus diesen Puzzleteilen ein großes Ganzes. Zusammenhänge aus den familiären Ereignissen, meinem Einnässen und meinem Stottern.
Dieses große Ganze durfte ich zum ersten Mal vor meinem inneren Auge sehen, als ich meiner Mutter all meine Fragen stellte. Ich grub mit ihr die Ereignisse aus, über die wir vorher noch nie sprachen. Sie brachten für mich endlich eine Art des Verstehens so vieler Dinge, die ich zwar immer in mir spürte, aber nie einzuordnen wusste. Alle Fragen zu meinem Vater, zu meinem Stottern und die Fragen an meine Mutter konnte ich nicht nur endlich loswerden, ich bekam auch endlich Antworten und Erkenntnisse noch dazu.
1988 war ein Jahr der emotionalen Talfahrten. In unserer Familie rüttelte und schüttelte es gewaltig und meine Sprache geriet damit ins Stocken. Es war das Jahr, indem das Stottern in mir einzog und heute, über Dreißig Jahre später, ist das Stottern noch immer mein ganz persönliches Mitbringsel aus dieser Zeit. Mein Unterbewusstsein ließ nach den Gesprächen mit meiner Mutter etwas los und machte es so für mich greifbar. Ich konnte auch plötzlich andere, noch lose Teile in mir miteinander verbinden, die ich noch klar in Erinnerung hatte. Auch wenn diese Erinnerungen lange Zeit wie nicht zugehörig in mir herumschwebten. Ich konnte sie endlich greifen und mit meiner Vergangenheit zusammenfügen. Ein solches Teilchen betraf meine Erinnerungen an die Jahre, die ich im Internat verbrachte. Die wohl prägendste Zeit nachdem das Stottern in mir einzog.
Aufgrund der Verfestigung meines Stotterns und des Umfangs an benötigter therapeutischer Hilfe, den die Logopädin ausmachte, brachte sie eine Einrichtung für Kinder mit sprachlichem Förderbedarf in Leipzig ins Gespräch. Genauer gesagt das Internat einer Sprachheilschule. In einer Sprachheilschule wurden Kinder sowie Jugendliche unterrichtet und therapiert, die Sprach-, Sprech- oder Stimmstörungen aufwiesen. Dazu zählte auch das Stottern. Genau wie die Dyslexie, also die eingeschränkte Lesefähigkeit, Lispeln oder Nuscheln. Im Vergleich zum therapeutischen Angebot meiner Logopädin verfügte man dort über ein ganzheitliches Konzept, umfangreichere Betreuungsmöglichkeiten und tiefergreifendere Therapieansätze. Neben dem Schultrakt für Erst- bis Zehntklässler gab es auch einen Kindergarten. Dort, so die Logopädin, könne mir langfristig geholfen werden. Sie übergab meiner Mutter die Kontaktdaten.