Читать книгу Jetzt spuck's endlich aus - Josefine Melanie Klingner - Страница 12
ОглавлениеMit fünf Jahren realisierte ich nicht, was ein Internatsleben wirklich bedeutete. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon. Natürlich vertraute ich auf die Entscheidungen meiner Mutter. Wer tut das nicht mit fünf Jahren? Sie erklärte mir am Tag, als es soweit war – es war ein Sonntag – noch einmal, weshalb das Internat richtig und wichtig für mich war und erinnerte mich an den Rundgang, den wir mit der Leiterin dort gemacht hatten. Daran was wir alles entdeckt hatten. In meinem Kopf wirkten sowohl die Bilder des Rundgangs als auch die Worte meiner Mutter. Wie toll es dort wohl sein würde und was dort alles auf mich wartete? Ich freute mich, als wir losfuhren, war aber auch etwas nervös. Jetzt galt es für mich stark zu sein, das wusste ich und ich merkte es auch daran, dass meine Mutter selbst irgendwie anders war.
Je näher wir dem Internat kamen, desto mulmiger wurde mir. Ich bekam Angst und wollte am liebsten umkehren. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen, indem sie wieder und wieder sagte, dass sie mich bald wieder abholen würde. „Nur bis Freitag, dann hole ich dich wieder ab.“ Ich hatte keine Ahnung, wie lange „nur bis Freitag“ war. Ich war fünf und konnte nicht mal die Uhr lesen. Ich wusste nur, dass mir bei dem Gedanken daran, von meiner Mutter getrennt zu sein, sofort die Tränen in die Augen schossen. Ich hatte auch keine Ahnung davon, dass „nur bis Freitag“ für alle Wochen der kommenden fünf Jahre gelten sollte. Das wusste damals nicht einmal meiner Mutter.
Als wir im Internat ankamen, wurden wir bereits erwartet. Ich war zudem nicht die Einzige, die bereits am Sonntag anreiste. Meine Mutter, meine Brüder und ich folgten der Erzieherin, die uns zu einem großen Schlafzimmer führte. Dort würde ich und drei weitere Mädchen schlafen, erklärte sie uns. Es gab zwei Doppelstockbetten, zwei Schränke, einen Tisch und vier Stühle. Ich durfte mir ein Bett aussuchen und wählte das untere Bett an der Wand zum Fenster. Während ich mich umsah, räumte meine Mutter meine Kleidung in meinen Schrank, bezog mein Bett und setzt mein Kuscheltier aufs Kopfkissen. In diesem Moment ahnte ich wohl, was als Nächstes kam und fing schon vorsorglich an zu weinen. Ich klammerte mich abwechselnd an meine Mutter und meinen großen Bruder. Ich war überhaupt nicht mehr überzeugt davon, dass ich ins Internat gehörte. Ich wollte kein Internatskind mehr sein.
„Am Freitag hole ich dich schon wieder ab.“ Sagte meine Mutter immer wieder mit ruhiger Stimme, aber ich wollte sie nicht loslassen. Nach einigen Minuten kam die Erzieherin dazu. Nun versuchten die beiden gemeinsam mich mit gutem Zureden von meiner Mutter loszubekommen.
„Es wird Zeit.“ Sagte die Erzieherin.
„Du wirst sehen, die Zeit wird ganz schnell vergehen.“ Sagte meine Mutter und hatte dabei selbst Tränen in den Augen. Ich heulte Rotz und Wasser. Es fiel mir endlos schwer, von meiner Mutter Abschied zu nehmen.
Innerhalb weniger Stunden lernte ich ein neues Wort: Heimweh. Davon erzählte mir vorher niemand etwas. Dieser stechende Schmerz in meinem Herzen, der mir auch noch die Kehle zuschnürte. Er kam immer wieder. Nicht nur an diesem Anreisetag, sondern auch an den Tagen darauf. Mitten am Tag. Beim Essen. Beim Spielen. Und am schlimmsten war es am Abend, wenn ich ins Bett gehen musste.
Dass meine Mutter nicht da sein würde, wenn dieses „Heimweh“ da war und dass es schrecklich weh tat, ich dabei kaum Luft bekam und immer zu weinte, verschwiegen mir alle vorher. Genau wie die Tatsache, dass die Regeln in einem Vierbettzimmer andere waren, als zuhause wo ich mir das Kinderzimmer nur mit meinem Bruder teilte. Meine Mutter erzählte mir auch nicht, dass ich darauf verzichten musste, dass sie mich am Abend ins Bett bringt, zudeckt und mir einen Kuss gibt. Sie sagte mir nicht, dass dies Erzieherinnen übernehmen würden, deren Arbeitsschichten im Wochenrhythmus wechselten. Dass ich Monate später ohne meine Mutter schwimmen lernen und mein Seepferdchen machen würde, dass ich meine Geburtstage der kommenden fünf Jahre ohne sie feiern würde, dass ich ihr meine ersten Schulnoten nicht sofort stolz wie Bolle unter die Nase halten würde und dass jede Umarmung und jeder Kuss von ihr aufs Wochenende verschoben werden würde, wusste ich auch nicht. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie doof es sich anfühlen würde, wenn ich montags aufs Knie fiel und erst am Freitag von meiner Mutter getröstet wurde, wenn ich ihr dann die bereits grindige Wunde präsentierte. Ich wusste nicht mal, ob ich ihr alles erzählen konnte, was ich erlebt hatte. Und dass es unendlich einsam und gruselig im Internat war, wenn ein Feiertag auf einen Wochentag fällt und ich mit einer Hand voll anderen Kindern im Internat bleiben musste, „weil sich die Fahrerei nicht lohnt,“ erzählte mir vorher auch niemand.
Das Internatsleben war für mich als Fünfjährige kein großes Abenteuer, sondern eine frühe Herausforderung. Ich habe weder Sehnsucht, Tränen, Alleinsein noch dieses neue „Heimweh“ erwartet. Mein kleiner Gedankenkosmos konnte das Unbekannte vorher gar nicht produzieren. Ich hatte gerade am Anfang große Schwierigkeiten, mich dort einzufinden und ohne meine Mutter zu sein. Und auch immer mal wieder gab es Momente, die mich emotional in die Knie zwangen. Wenn ich krank wurde zum Beispiel und mit einer Erkältung allein auf der Krankenstation lag. Das waren Momente, als ich nachhause wollte und die Nase voll davon hatte, auf Freitag zu warten.
Meine Zeit im Internat kann man mit einem Internatsaufenthalt aus dem Jahr 2021 nicht gleichsetzen. An dieser Stelle ist mir wichtig, kurz diesen Vergleich zu ziehen. Denn wer heute an ein Internat denkt, verknüpft sie mit den Gegebenheiten der heutigen Zeit. Vielleicht mit Smartphones, täglichen Anrufen zuhause, Selfies vom Schulhof und Sprachnachrichten zur Aufmunterung. Damals war alles eine Spur einsamer. 1989 wehte noch die DDR-Flagge am Leipziger Rathaus. Das iPhone sollte erst achtzehn Jahre später auf den Markt kommen und wer zuhause ein Telefon besaß, gehörte schon zur upper class. Und ich spreche von einem Telefon mit Schnur!
Niemand hätte damals an etwas wie FaceTime oder SMS gedacht. Helikoptereltern wären daran wohl zerbrochen. Ich schickte meiner Mutter keine Sprachnachrichten, Handyfotos von meinem Tag oder von unseren Ausflügen, weil es diese technischen Geräte nicht gab. Briefe oder Postkarten schrieb ich nicht, weil ich noch nicht schreiben konnte und auch als ich älter wurde, waren fünf Tage keine wirkliche Zeitspanne, um einen Brief loszuschicken. Er wäre wohl erst nach mir zuhause angekommen. Sobald mich meine Mutter sonntags oder montags im Internat abgegeben hatte, lief für mich die Zeit ohne sie. Keine Telefonate. Keine Sichtkontakt. Nichts. Bis es freitags wieder nachhause ging.
Wenn ich an den Wochenenden zuhause war, blieb ich meist bei meiner Mutter und spielte zuhause. Ich war aufgrund meines Stotterns innerlich eher schüchtern, auch wenn ich in meiner gewohnten Umgebung aufgeweckt war. Ich kannte nur ein Mädchen in der unmittelbaren Nachbarschaft, mit dem ich ab und zu draußen auf dem Wäscheplatz vorm Haus spielte. Alle anderen Kontakte zu meinen alten Kindergartenfreunden gingen verloren.
Die Zeit zuhause war für mich rar und kostbar. Die gesamte Woche über fieberte ich dem Freitag entgegen, an dem es endlich wieder zu meiner Mutter durfte. Sie war es, die mir in der Woche am meisten fehlte. Die Wochenenden waren ein großer und langer Versuch, meine Sehnsucht abzubauen, indem ich meiner Mutter so nah wie möglich sein wollte. Ich wollte auffüllen, was während der Woche im Internat immer leerer wurde: Mein Nähetank.
Die Bindung zwischen meiner Mutter und mir, wurde jede Woche durch unsere räumliche und emotionale Trennung wie ein Gummiband gedehnt, damit immer dünner und auf die Zerreißprobe gestellt. Stell dir ein dickes Gummiband vor, das sich spannt, wenn du es auseinanderziehst und dessen kräftige Farbe dadurch immer blasser wird. Lässt du das Band locker, lässt die Dehnung nach und es zieht sich wieder zusammen. Wiederholt man das zu oft oder wird das Gummiband überdehnt, zieht sich das Band nicht in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Es verliert an Elastizität, wird porös und gleichzeitig schlaffer. Die Farbe verblasst an den besonders beanspruchten Stellen. Kleine Risse entstehen. Genau das passierte mit der Bindung zwischen meiner Mutter und mir.
Unser unsichtbares Band, die Verbindung zwischen meiner Mutter und mir, glich einem immer wieder und weiter gedehnten Gummiband. Jede Woche aufs Neue hieß es Abschied nehmen. Unser Band wurde strapaziert. Jede Woche Heimweh, Tränen und Sehnsucht, die daran zerrten. Dann das Wochenende. Etwas Entlastung und Erholung für unsere Mutter-Tochter-Verbindung. Doch die Wochenendstunden reichten irgendwann nicht mehr aus, um unser Band wieder in den Ursprungszustand zurückzuschrumpfen. Die Wochenenden reichten mir nicht aus.
Ich hatte mich noch gar nicht wieder an meiner Mutter gewöhnt, da saß ich schon wieder im Auto zurück ins Internat. Mein Kuschel- und Nähetank waren nicht ansatzweise so voll, als dass ich daraus die Woche überstehen konnte. Dabei wollte ich nichts mehr, als zuhause sein, mehr von meiner Mutter haben und mehr mit meinen Brüdern zusammen sein. Ich wollte meinen Kuscheltank auffüllen und Zeit mit meiner Familie verbringen. Stattdessen lag mir am Wochenende die Gewissheit schwer im Magen, nach nur knapp zwei Tagen wieder abzureisen. Auch wenn ich nach außen im Moment lebte und ein fröhliches Kind war, das spielte und lachte, war ich innerlich nicht stark genug für dieses Internatsding. Mir war ständig bewusst, wie vergänglich diese kostbare Zeit zuhause war und es machte mich mehr als traurig.
Jeden Sonntag tauschte ich gezwungenermaßen meine Mutter gegen eine Hand voll Erzieherinnen und meine Brüder gegen unzählige andere Kinder im Alter von fünf bis sechszehn Jahren. Freitags dann alles retour. Statt meiner Mutter waren es nun andere Frauen, die den Großteil meiner Erziehung beeinflussten und übernahmen. Sie trösteten mich, kuschelten mit mir, erklärten mir die kleine Welt, in der ich lebte und die große, die in Zukunft auf mich warten würde. Sie schimpften auch mit mir, wenn ich etwas ausgefressen hatte. So gern ich sie auch hatte, sie konnten meine Mutter weder ersetzen noch reichten sie an sie heran. Sie rochen anders, nicht vertraut, sondern fremd. Sie sprachen anders, verhielten sich anders. Sie fühlten sich beim Kuscheln anders an. Manchmal wollte ich sie nicht umarmen, denn ich wollte zur selben Zeit meine Mutter, die ich in meinem Inneren so festhielt, nicht loslassen.
Manchmal dachte ich dann, ich würde meine Mutter verletzen oder sie könnte böse auf mich sein, wenn sie sehen würde oder wüsste, dass ich mich in den Armen meiner Erzieherinnen für eine kurze Zeit wohl und geborgen fühlte. Vielleicht wollte meine Mutter nicht, dass ich mit ihnen kuschelte? Ich dachte manchmal, ich würde meine Mutter dadurch verraten. Dann steckte ich einfach fest. In meiner Angst und zwischen den beiden Welten. Zwischen dem Internat und meiner Familie.
Mein Stottern zu verbessern, war mein oberstes Ziel. Also versuchte ich im Internat alles daran zu setzen, den Erwartungen und Anforderungen zu entsprechen. Ich stand pünktlich auf, machte mein Bett, putzte meine Zähne, wusch mich und machte mich für den Tag fertig. Ich folgte dem geplanten Tagesablauf, war gut in der Schule und achtete beim Essen darauf, nicht zu kleckern und vor allem nicht zu viel zu schwatzen. Am nächsten Tag das Gleiche wieder von vorn. Ich hatte gute und schlechte Tage, aber ich versuchte tapfer und stark zu sein.
Im Internat zu bestehen hieß für mich besonders, zu lernen, mich in dieses neue System von Zusammensein einzufinden. Eine viel größere und gleichzeitig anonymeres Gemeinschaft. Ich war nicht mehr die kleine Schwester oder die jüngste Tochter. Ich war nicht mehr das einzige Mädchen in der „Familie.“ Ich war eine von vielen und konnte die anderen gar nicht alle zählen. Ich lernte in kleinere Stücke zu teilen und meine Sachen beisammenzuhalten. Statt in unserem kleinen Bad, wusch ich mich an einem von zehn Waschbecken und stand neben sechs anderen Mädchen unter der Dusche, während im Flur schon die älteren Mädchen ungeduldig warteten. Am Abend buhlten wir manchmal um die Aufmerksamkeit der Erzieherinnen. Wenn ich aber nachts Angst hatte, blieb ich still liegen, weil ich wusste, dass meine Mutter sowieso nicht kommen würde, wenn ich nach ihr rief. Rief ich dann doch einmal, weil die Angst im Dunkeln zu groß war, erklärte ich einer Erzieherin, die ich mit Du und ihrem Nachnamen ansprach, wovor ich so große Angst hatte. Das Heimweh hörte einfach nie auf.
Zum Leben im Internat gehörte für mich natürlich auch die Sprech- und Sprachtherapie. Ich saß beispielsweise mit Kopfhörern auf meinen Ohren neben einer Therapeutin und hörte zu, wie eine mechanische Stimme allerhand Wörter vorsagte, die ich dann im selben Tempo nachsprechen sollte. Das war eine Übung, um langsam und ruhig zu sprechen. Innere Ruhe statt Hektik. Wie ein Papagei wiederholte ich die Worte. Langsam und ruhig. Darüber hinaus machten wir Übungen für eine verbesserte Atemtechnik. Stotternde Menschen atmen häufig erst aus und sprechen dann, somit geraten sie häufiger ins Stottern, weil ihnen förmlich die Luft wegbleibt. So war es auch bei mir. Was ich mir antrainierte war also: Erst einatmen und mit dem Ausatmen sprechen. Mit dieser Übung zur Atemtechnik entsteht eine Art Redefluss oder Redestrom, der das flüssige, stotterfreie Sprechen unterstützt und begünstigt. Da ich neben meinem Stottern auch besonders schnell sprach (und noch immer spreche), standen diese beiden Übungen fast jede Woche auf dem Plan.
Mein Stottern verbesserte sich durch meinen Aufenthalt im Internat und die intensive Therapie von Monat zu Monat. Das kann ich heute noch in meinem „Muttiheft“ nachlesen. Jede Woche schrieben dort meine Erzieherinnen oder Lehrerinnen die wichtigsten Informationen für beziehungsweise an meine Mutter hinein.
„Bitte geben Sie Josefine frische Bettwäsche mit.“ – Du hast ja schon erfahren, dass die nicht gestellt wurde. So konnte ich ein Stück von zuhause mit ins Internat nehmen und den Geruch von zuhause gleich mit.
„Josefine macht gute Fortschritte. Bitte lassen Sie sich von ihr die Atemtechnik erklären und üben Sie diese mit ihr.“
„Josefine kennt das Lied vom Luftballon. Lassen Sie es sich von ihr vorsingen.“
„Josefine hatte zu Beginn der Woche – verständlicherweise – großes Heimweh.“ Eines dieser „Muttihefte“ besitze ich noch und bin beim Lesen hin- und hergerissen. Die Zeilen darin zeugen von dem, was ich erreicht, erlernt und erlebt habe. Voller Stolz und Freude. Meine Fortschritte, Höhen und eben auch meine Tiefen. Sie hielten damit auch die schweren Zeiten schwarz auf weiß und Zeile für Zeile fest.
Ich spüre heute noch ganz deutlich, dass die beiden Welten, in denen ich lebte und zwischen denen ich zweimal wöchentlich wechselte, manchmal einfach zu groß und damit auch alles damit Verbundene zu viel für mich waren. Ich kann es heute noch fühlen. Ich verlor manchmal regelrecht den inneren Halt und tiefen Kontakt zu meiner Familie. Dann hasste ich es, dort zu sein. Ich hasste das Stottern und dass es mich im Internat festhielt. Ich suchte dann nach etwas, das mir Orientierung gab, mich tröstete und für mich da war. Meist waren es die Erzieherinnen, die mich versuchten aufzufangen. So wurde das Internat über die Jahre zu einem Ort, an dem ich sowohl etwas fand als auch Vieles verlor.
Ich verlor die innige und grundtiefe Verbindung zu meiner Mutter. Je mehr ich mich im Internat einlebte und mich an die Menschen dort gewöhnte, desto mehr entwöhnte ich mich irgendwie von ihr. Die wachsenden Bindungen zu meinen Erzieherinnen schoben sich allmählich zwischen die Bindung von mir zu meiner Mutter. Das tat mir besonders weh, weil ich das nicht einordnen konnte. Ich hatte sie nicht lieber als meine Mutter, aber ich lernte, dass der Trost einer Erzieherin mehr war als gar kein Trost. Diese Worte zu schreiben, schmerzt mich heute besonders. Meine Mutter und ich führten unter der Woche getrennte Leben und das sollte doch nicht sein, wenn man fünf, sechs, sieben, acht oder neun Jahre alt ist.
Manchmal hätte ich alles dafür gegeben, meine Mutter am Abend bei mir zu haben. Von ihr ins Bett gebracht zu werden. Mit ihr auf der Couch zu liegen und mir von ihr liebevoll den Kopf oder Rücken streicheln zu lassen. An sie gekuschelt meine Augen zu schließen, ihren Geruch einzuatmen und ihren ruhigen Herzschlag zu hören. Mich immer dichter und näher an sie zu schmiegen, förmlich in sie reinzukrabbeln. Ihre gleichmäßigen Atemzüge als weichen, leisen Luftstrom auf meiner Stirn zu spüren. In ihren Armen zu liegen und darin, erfüllt vom wir, von dieser wohlfühlenden Sicherheit und Nähe, einzuschlafen. Solche Momente fanden in meinen Gedanken und Wünschen statt, bis ich sie an den Wochenenden versuchte mit Leben zu füllen.
In mir verfestigte sich der Gedanke, geduldig darauf zu warten und dann alles mitzunehmen, was ging. Allerdings immer mit dem Gedanken der Vergänglichkeit in mir, weil ich doch immer wusste, dass es nach dem Wochenende wieder ins Internat ging. Meine Gedanken warnten mich: „Gewöhn dich nicht zu sehr daran, bald ist es wieder vorbei.“ Oder „Halt es nicht zu fest, du musst es wieder hergeben.“
Es war ein ewig langes, verwirrendes und vielseitiges Hin und Her. Denn als das Internat zu meinem Lebensmittelpunkt wurde, wurde ich zu einer Wochenendtochter und Wochenendschwester. Damit war ich an den Wochenenden in meinem eigenen Zuhause zu Besuch. Das wird mir heute noch daran bewusst, dass ich mich trotz meiner Sehnsucht an nahezu kein Wochenende erinnern kann, an dem ich zuhause war. Mir fehlen so viele Erinnerungen an Ausflüge, Familienfeiern oder Erlebnisse, die zuhause stattgefunden haben. Die Wochenenden bei meiner Familie sind für mich überwiegend eine logische Tatsache. Ein Faktum, das beweisbar ist, ohne dass ich bewusste Erinnerungen damit verknüpfen kann. Im Vergleich dazu erinnere mich an unzählige Einzelheiten aus meinem Internats-Zuhause.
Als Internatskind verstand ich mit der Zeit, dass mich Weinen und Widerstand nicht nachhause brachten. Als Internatskind verstand ich auch, dass ich an diesem Ort war, um meine Sprache zu verbessern und wenn ich das geschafft hatte, sind alle stolz und ich darf nachhause. So einfach war das damals in meinem Kopf. Die logische Konsequenz für mich war es dann, zu tun, was von mir erwartet wurde, um dieses Ziel zu erreichen und gleichzeitig mit den Konsequenzen zurechtzukommen. Auch das schleifte ich zu lange in abgewandelter Form mit durch mein Leben. Aber zu diesen Leitplanken komme ich in einem späteren Kapitel noch ausführlicher.